Das Interview führte die IPG-Redaktion.

In den vergangenen Monaten hat die Gewalt zwischen israelischen Siedlern und Palästinensern zugenommen, ebenso wie palästinensische Terroraktionen. Wie würden Sie die aktuelle Situation beschreiben? Droht eine israelische Militäroperation im Westjordanland?

Die Gewalt, die wir erleben, ist das Symptom von verlorener Hoffnung. Junge Palästinenser – eine Generation, die die Gewalt und den Verlust von Menschenleben während der zweiten Intifada nicht miterlebte, die das Vertrauen in die Führung von Abu Mazen (Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, d. Red.) verloren hat und ihn als Kollaborateur der israelischen Besatzung sieht, viele von ihnen arbeitslos und in Flüchtlingslagern lebend – entscheiden sich für Gewalt in dem Glauben, dass dies der einzige Weg ist, die Besatzung zu beenden. Den meisten Terroranschlägen fehlt eine organisatorische Infrastruktur, aber in Zeiten der Verwirrung und Verzweiflung entscheiden sich diese jungen Menschen trotzdem für Gewalt. 

In Ihrem Buch „Im eigenen Feuer“ schreiben Sie, Israels größter Feind sei nicht der Iran, die Hisbollah oder die Hamas. Die größte Gefahr ruhe vielmehr in der israelischen Gesellschaft selbst. Wie kommen Sie darauf?

Erstmals habe ich das so gesehen, als unser damaliger Premierminister Jitzchak Rabin ermordet wurde. Das war kein Verbrechen, sondern ein Terrorakt: Er wurde ermordet, um ein politisches Ziel zu erreichen. Und wichtig ist: Er wurde nicht von einem muslimischen Terroristen getötet, sondern von einem jüdischen Bürger Israels, der in den israelischen Streitkräften gedient hatte. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich die israelische Gesellschaft aus einem militärischen Blickwinkel betrachtet. Erst als ich die Leitung des Schin Bet (Scherut Bitachon, der israelische Inlandsgeheimdienst, d. Red.) übernahm und mich mit Risiken für die innere Sicherheit befasste, wurde ich mir dieser inneren Bedrohung und ihres Gewaltpotenzials bewusst. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Gewalt Teil unserer DNA geworden. Das ist gefährlich für unsere Gesellschaft. Ich würde nicht so weit gehen, dieses Phänomen als Bürgerkrieg zu bezeichnen, aber wir haben es mit ziviler Gewalt im Inland zu tun. Wir haben die Mittel, um uns gegen den Iran, die Hisbollah, die Hamas und den islamischen Dschihad zu wehren, aber wir haben keine Strategien entwickelt, um mit der größten Bedrohung umzugehen – nämlich der, die von innen kommt. Grund dafür ist, dass wir schlichtweg Angst haben, darüber zu sprechen.

Wir als israelische Gesellschaft müssen unser Bild von uns selbst, unser Narrativ, verändern.

Wie könnte man dieser Bedrohung entgegentreten?

Wir als israelische Gesellschaft müssen unser Bild von uns selbst, unser Narrativ, verändern. Wir müssen ein neues Narrativ entwickeln. Wir brauchen ein anderes Verständnis unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Hoffnung für die Zukunft. Wir müssen damit beginnen, die schmerzhafte Erkenntnis zu akzeptieren, dass dieses Land zwar uns gehört, aber eben nicht nur uns. Wenn wir die Sicherheit und unsere Identität als jüdische Demokratie bewahren wollen, müssen wir dieses Stück Land teilen.

Sie haben sich immer für eine Zweistaatenlösung ausgesprochen. Sind Sie zuversichtlich, dass dies eines Tages umgesetzt werden kann?

Erst als wir mit Gewalt konfrontiert waren und unsere Freunde um uns herum sterben sahen, haben wir unsere eigenen Grenzen erkannt und verstanden, was machbar ist und was nicht. Erst nach dem Jom-Kippur-Krieg, in dem wir 2 700 Opfer zu beklagen hatten, haben wir verstanden, dass wir mit Ägypten Frieden schließen müssen. Ebenso war es die erste Intifada, die uns nach Madrid und später nach Oslo brachte und uns begreifen ließ, dass unsere militärische Macht begrenzt ist und dass Diplomatie und politische Vereinbarungen Teil unserer Sicherheitspolitik sein müssen. Letzten Endes müssen wir mit unseren Nachbarn leben. Sie sind hier, sie werden hier bleiben. Wir haben Verhandlungen geführt, waren aber nicht erfolgreich. Dennoch bin ich nach wie vor optimistisch, dass wir eines endlich begreifen werden: Verhandlungen sind der einzige Weg, wenn wir unsere Sicherheit und unsere Identität als freie Demokratie bewahren wollen.

Es hat unzählige Pläne und Initiativen für Frieden im Nahen Osten gegeben. Warum hatten sie alle keinen Erfolg? Was muss anders gemacht werden?

Es gibt nur zwei Optionen. Eine Option ist ein einziger Staat, in dem wir Juden nicht die Mehrheit sind. Die andere Option ist, dieses Stück Land mehr oder weniger entsprechend der Arabischen Friedensinitiative in zwei Staaten aufzuteilen. Die meisten Israelis werden Ihnen sagen: Wir bevorzugen zwei Staaten. Nur fünf bis zehn Prozent sind für die Ein-Staat-Lösung. Die israelische Sichtweise ist oft: Frühere Friedenspläne sind gescheitert, weil der Normalbürger in Israel nicht wirklich einen palästinensischen Staat wollte. Nach der ersten Intifada haben wir jedoch verstanden, dass wir ihnen einen Staat geben müssen, damit sie sich sicher fühlen. Und dann haben wir ihnen alles gegeben: Wir lieferten Arafat Ziegelsteine aus Tunesien – und die Palästinenser antworteten mit Gewalt und Intifada. Wie gesagt, das ist die israelische Erzählung. Die palästinensischen Araber werden Ihnen das genaue Gegenteil erzählen. Sie sagen: Alles, was die Palästinenser wollten, war Freiheit. Alles, was sie wollten, war ein palästinensischer Staat neben Israel, entlang der Grenzlinien von 1967. Und alles, was sie bekamen, waren noch mehr jüdische Siedlungen, mehr Siedler, mehr Straßensperren, mehr Militäreinheiten, mehr Demütigung. Das Problem ist, dass ihre Erzählung ebenfalls richtig ist. Diese beiden Narrative kommen nicht zusammen. Wir Israelis verstehen das palästinensische Narrativ nicht, und umgekehrt. Es gibt keine Empathie, kein Einfühlungsvermögen.

Es ist so wichtig, dass sich jemand von außen engagiert.

Deshalb ist es auch so wichtig, dass sich jemand von außen engagiert, obwohl ich auch weiß, dass uns niemand vor uns selbst retten kann. Letztendlich sind wir diejenigen Menschen, die etwas erreichen müssen. Dennoch erwarte ich von den jüdischen Gemeinden in Europa und vor allem in Amerika, dass sie uns ihre Sicht der Dinge darlegen. Denn die meisten von ihnen wissen, dass wir uns in eine Sackgasse begeben, dass wir unsere Sicherheit und unsere Identität als jüdische Demokratie verlieren.

Ich erinnere mich noch, wie Bundeskanzler Kohl der Ansicht war, er solle uns keine U-Boote verkaufen. Rabin schrieb ihm einen Brief, in dem er ihm mitteilte: Wir haben einen neuen Weg eingeschlagen und wir streben Frieden an. Wir verhandeln, aber mit diesem Frieden gehen wir auch ein großes Sicherheitsrisiko ein, angesichts der arabischen Länder um uns herum: Syrien, Jordanien und weitere. Deshalb brauchen wir eine Sicherheitsgarantie.

Ich erinnere mich auch an Sharons Entscheidung, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen. Er tat dies nicht nur aufgrund des amerikanischen Drucks und der Roadmap, sondern auch aufgrund des Drucks aus der israelischen Gesellschaft selbst. Dazu beigetragen hat unsere Friedensinitiative, in der vier Ex-Chefs des Schin Bet und viele Generäle davor gewarnt haben, dass die Konfrontationspolitik uns in eine Sackgasse führt und wir noch mehr Gewalt um uns herum erleben werden. Sharon hat schließlich eingesehen, dass wir uns aus dem Gazastreifen zurückziehen müssen, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Wenn Sie mich nur eine Woche zuvor gefragt hätten, ob Sharon aus dem Gazastreifen abziehen wird, hätte ich Ihnen gesagt: Sie sind doch verrückt. Das wird er niemals tun. Doch er hat es getan. Veränderung ist also möglich.

Meinen Sie, dass die Friedensabkommen mit den Emiraten, mit dem Sudan und mit Marokko Einfluss auf den Frieden im Nahen Osten haben werden? Oder sind die Abkommen reine Rhetorik?

Nein, das ist nicht nur Rhetorik oder Symbolik. Das hat großen Einfluss. Diese Abkommen sind sehr wichtig, weil sie unser Recht anerkennen, einen jüdischen Staat entlang der Linien von 1967 zu schaffen. Sie sind auch aus wirtschaftlichen Gründen sehr wichtig, was gerade im Nahen Osten ein entscheidender Faktor ist. Diese Abkommen sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, aber sie reichen nicht aus, denn wirtschaftlicher Frieden wird nicht ausreichen. Es war schließlich nicht die wirtschaftliche Lage, die die Palästinenser zur ersten und zur zweiten Intifada bewegte. Motive waren die fehlende Hoffnung auf einen „politischen Ausblick“, die Demütigung und die Angst vor den Siedlern und den israelischen Verteidigungsstreitkräften.

Sie haben die wichtige Rolle der USA angesprochen. Unter dem vormaligen Präsidenten Donald Trump hatte sich die US-Haltung in Bezug auf Israel geändert. Unter anderem verlegte er die US-Botschaft nach Jerusalem. Wie bewerten Sie diese Veränderungen unter der Trump-Regierung?

Ich glaube nicht, dass die Verlegung der Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem das größte Problem war. In der Welt ist man sich einig, dass Jerusalem unsere Hauptstadt ist, und Botschaften sollten in der Hauptstadt sein. Doch die Art und Weise, wie Trump die Verlegung anging, war ein großer politischer Fehler. In Gaza starben hunderte Palästinenser bei den Reaktionen auf die Verlegung der Botschaft nach Jerusalem. Trump hätte gleichzeitig betonen sollen, dass das amerikanische Konsulat in Ost-Jerusalem die zukünftige Botschaft in Palästina sein wird, wenn Frieden geschlossen ist.

Die meisten Israelis wissen, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen.

Die meisten Israelis wissen, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen. China, das Chinesische Meer und der Ferne Osten werden der nächste Schauplatz für ein Kräftemessen der Supermächte sein. Die Großmächte müssen Prioritäten setzen. Das Problem ist, dass sie jedes Mal, wenn sie sich zurückziehen, mit Gewalt daheim in den USA konfrontiert werden. Was am 11. September 2001 geschah, hat seinen Ursprung im Nahen Osten und hängt auf die eine oder andere Weise sogar mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zusammen. Amerika und Europa sollten verstehen, dass der Nahe Osten eine sehr komplizierte und instabile Region ist – und sie liegt vor der eigenen Haustür, insbesondere für Europa. Deshalb darf man den Nahen Osten nicht verlassen, selbst wenn man es will. Jedes Mal, wenn Sie sich aus dem Nahen Osten zurückziehen, werden Sie auf Ihren eigenen Straßen damit konfrontiert. Der Terror kommt nach Paris, Berlin, überall hin.

Wenn wir den radikalen islamischen Fundamentalismus, die Instabilität und den Terror im Nahen Osten wirklich stoppen wollen, müssen wir verstehen, was die Ursachen für diese Instabilität und den Terror sind. Eine davon ist der israelisch-palästinensische Konflikt. Deshalb würde ich den Amerikanern empfehlen: Unabhängig davon, welche Prioritäten Sie in der Welt setzen, müssen Sie verstehen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt eines der Themen ist, bei denen ein gemeinsamer Nenner gefunden werden kann. Alle großen Führungsmächte der Welt – China, Russland, Europa, die UNO, die USA, Indien und so weiter – wären mit der Zweistaatenlösung im Sinne der Resolutionen des Sicherheitsrates und der Arabischen Friedensinitiative einverstanden. Ungeachtet des russischen Krieges gegen die Ukraine und der Rivalität zu China kann im Nahen Osten eine Einigung erzielt werden, um Gewalt und Feindschaft zu verringern. Ich würde empfehlen: Hören Sie nicht auf die israelischen Machthaber. Hören Sie auf die Menschen in Israel. Wir wünschen uns, dieses Stück Land zu teilen – nicht, weil wir den Palästinensern etwas schulden, sondern weil es unser größtes Interesse ist, Sicherheit zu schaffen und unsere Identität zu bewahren.

Sie haben gesagt, für Frieden daheim und ein Ende der Polarisierung innerhalb Israels brauche es ein neues Narrativ. Wie kann dieses erreicht werden?

Eine Sache ist, dass wir unsere Sprache ändern müssen. Sprache hat große Macht. Ein Beispiel: Es gibt eine jüdische Terrororganisation namens Lehava. Sie war im vergangenen Mai in viele gewalttätige Vorfälle in Israel verwickelt. Wir bezeichnen Lehava jedoch nicht als Terrororganisation, weil es für uns als israelische Juden schwer zu akzeptieren ist, dass diese jüdischen Menschen Terroristen sind. In dieser Hinsicht schleifen wir unsere Sprache. Auch Jigal Amir, der unseren Premierminister Jitzchak Rabin ermordet hat, wurde in unseren Medien nie als „Terrorist“ bezeichnet, obwohl er dies in Wirklichkeit war.

Wir müssen unsere Sprache anpassen, denn sie sendet eine Botschaft aus. Wir müssen anfangen, eine passende Sprache zu verwenden, und lernen zu sagen: Ja, dieses Land gehört uns, aber es gehört nicht nur uns. 85 Prozent der in Israel lebenden Juden sind der Ansicht: Wir sagen das nicht gerne, aber wir müssen es akzeptieren. Die letzten beiden Kapitel meines Buches sind ein Versuch, ein solches neues Narrativ zu beschreiben, das wir entwerfen müssen – und wie wir das tun können. Ich habe weder die Absicht noch die Fähigkeiten, dies in einem kurzen Interview oder Artikel zu tun.

Aus dem Englischen von Tim Steins