Die Fragen stellten Alexander Isele und Konstantin Hadzi-Vukovic.

Der erwartete Erfolg des rechtsradikalen Rassemblement National ist ausgeblieben, die Partei wird nur drittstärkste Kraft im französischen Parlament. Wie ist die Stimmung in Frankreich?

Seit gestern Abend muss man sagen: „Es gibt zwei Frankreichs.“ Im Lager der Demokraten herrscht Erleichterung. Die Brandmauer der republikanischen Front, wie sie sich selbst nennt, hat gehalten und das Schlimmste verhindert. Noch am Sonntagmorgen gingen wirklich alle von einem Wahlsieg des RN aus, und dass er eine relative Mehrheit gewinnen würde. Am Abend dann war plötzlich alles anders. Trotzdem: Sehr viele Französinnen und Franzosen haben für den Rassemblement National gestimmt, rund 10,6 Millionen Wähler im ersten Wahlgang. Bei ihnen ist die Enttäuschung groß. Der RN und seine verbündeten Parteien kamen auch in der zweiten Wahlrunde mit 37 Prozent auf den höchsten Zustimmungswert, erhielten aber nur 21 Prozent der Sitze im Parlament. Das französische Mehrheitswahlsystem verzerrt hier die Kräfteverhältnisse. Da sich Kandidatinnen und Kandidaten aus dem demokratischen Lager für besser geeignete Konkurrenten zurückzogen, wurde die Partei Le Pens schließlich nur dritte Kraft im Parlament.

Verdeckt dies den Rechtsruck im Land?

Ja, eindeutig. Mit Verhältniswahlrecht hätte der Rassemblement National die meisten Sitze erhalten. Dieses zweistufige Wahlsystem in Frankreich ist auf Stabilität ausgerichtet und verhindert, dass Extreme an die Macht kommen. Doch es sorgt auch seit vielen Jahren zunehmend für enorme Frustrationen in der Wählerschaft. Bei RN-Fans, weil die Partei nicht gewinnt. Und bei Demokratinnen und Demokraten, weil sie, um Schlimmeres zu verhindern, Wahl um Wahl für Kandidatinnen und Kandidaten stimmen sollen, die nicht wirklich ihre Ansichten repräsentieren. Das ist ein Grundproblem der französischen Demokratie und wird nun sicherlich wieder zu einer breiten Debatte führen. Doch kaum ein Projekt ist so oft angekündigt worden wie die notwendige Verfassungsänderung hin zu einem Verhältniswahlrecht. Und kein Projekt ist so oft vergessen worden, kaum war jemand im Amt.

Koalitionen sind in Frankreich eher ungewöhnlich und die Regierungsbildung wird schwierig. Droht Frankreich der Stillstand?

Der französische Parlamentarismus erschwert Koalitionen. Mit drei mehr oder weniger gleich großen Blöcken, also Links, Mitte und Rechtsaußen, kommt eine schwere Zeit auf Frankreich zu. Das Rassemblement wird viele Gesetzesvorhaben verhindern oder zumindest beeinflussen können. Und im Mitte-links-Lager gibt es große ideologische Gräben. Die große Frage lautet: Wie kann unter diesen Umständen eine künftige Regierung überhaupt effizient funktionieren? Der Präsident hätte schon nach seiner Wiederwahl 2022 und dem damals erfolgten Verlust seiner absoluten Mehrheit im Parlament die Gelegenheit für eine Koalition nutzen können. Aber er besteht darauf, mit seinem eigenen Programm zu regieren. Man fragt sich, ob er überhaupt das Talent für politische Verhandlungen und Kompromisse hat. Gesehen hat man es noch nicht.

Teile seines Parteienbündnisses Ensemble haben bereits die Zusammenarbeit mit Jean-Luc Mélenchon ausgeschlossen, dessen La France Insoumise bei den Wahlen als stärkste Kraft aus der Nouveau Front populaire hervorgegangen ist. Wie werden die beiden Blöcke zusammenarbeiten können?

Beide, sowohl Jean-Luc Mélenchon als auch das Macron-Lager, haben kurz nach Schließung der Wahllokale wissen lassen, dass sie nicht miteinander koalieren werden. Aus dem Linksbündnis hört man, dass man nur entlang des eigenen Programms regieren wolle. Das deutet gegenwärtig eher auf die Fortsetzung der toxischen Beziehungen hin, die zwischen den Lagern von Macron und Mélenchon existiert. Es geht sicher auch darum, Zeit zum Nachdenken und Taktieren zu gewinnen. Eine gemeinsame Regierung ist gegenwärtig jedenfalls nicht vorstellbar.

Eine gemeinsame Regierung ist gegenwärtig jedenfalls nicht vorstellbar.

Bis jetzt gibt sich die Neue Volksfront, das ad-hoc-Linksbündnis aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und La France Insoumise, noch geschlossen. Doch die Frage ist berechtigt, wie lange das hält. Ideologische Differenzen zwischen den linken Parteien sind deutlich und gute Tradition. In der Vergangenheit kam es schon einmal zum Bruch des vorhergehenden Linksbündnisses NUPES.

Was sind die Bruchlinien innerhalb der Nouveau Front populaire?

La France Insoumise fährt zum Beispiel einen israelkritischen, europakritischen, NATO-kritischen Kurs, der nicht kompatibel ist mit den Positionen der Parti Socialiste. Vor allem haben Mélenchons starke Kritik an Israel und seine propalästinensische Haltung so stark polarisiert, dass es zum offenen Bruch kam. Bei der Wahl zum EU-Parlament sind deshalb auch viele Wählerinnen und Wähler von Mélenchons Partei zu den Sozialisten gewechselt. Für das Wahlprogramm des Linksbündnisses musste sich Mélenchon von diesen Positionen verabschieden. Trotzdem herrscht Misstrauen, zumal Mélenchon in der Vergangenheit nicht gerade durch besondere Teamfähigkeit aufgefallen ist.

Was bedeutet das Ergebnis für Europa?

Macron wird seine proeuropäische Politik weiterführen können, er bleibt ja der sehr mächtige Präsident. Die Verluste seiner Partei Ensemble – sie ist nur noch zweitstärkste Kraft im Parlament – schwächen ihn zwar, aber seine Europapolitik, seine Haltung zur NATO und zur Ukraine wird das nicht verändern. Er wird dies auch weiterhin im Europarat vertreten.

Frankreich bleibt zunächst ein stabiler Partner.

Für die EU und auch für Deutschland bedeutet das: Frankreich bleibt zunächst ein stabiler Partner. Es ist nicht zu erwarten, dass von der Linken auf europäischer Ebene massive Störmanöver ausgehen werden, auch wenn sie in einigen Punkten wie „Nein zur Schuldenbremse“ und „Nein zu Freihandelsverträgen“ nicht mit Macron übereinstimmen. Auch links der Mitte ist man mehrheitlich an stabilen Beziehungen zu den internationalen Partnern interessiert, auch wenn das nicht unbedingt für La France Insoumise gilt. Israel und die Gaza-Frage könnten allerdings zum Stolperstein werden. Das wird sicherlich scharf beobachtet werden.

2027 darf Macron nicht mehr antreten, sein Parteienbündnis wurde schwer gedemütigt. Die Vereinigte Linke ist stärkste Kraft und auch Le Pen hat bereits angekündigt, den Blick nach vorne zu werfen. Werden die Karten für die Präsidentschaftswahlen neu gemischt?

Ja und Nein. 2026 sind Kommunalwahlen in Frankreich, da wird es einen Vorgeschmack geben, wie stark der RN dann an der Basis ist. Es ist beunruhigend, dass es im Macron-Lager keine geeigneten Kandidaten oder Kandidatinnen für seine Nachfolge zu geben scheint und man beim Linksbündnis erst sehen muss, wer dort den Ton angeben kann. Präsidentschaftswahlen laufen in Frankreich nach anderen Spielregeln ab. Aber der RN hat sehr gute Aussichten, dann endgültig die Macht zu erlangen – wenn Macron und die Pariser Politik nun einfach so weiter vor sich hin regieren wie bisher. Die Demokraten dürfen jetzt nicht enttäuschen.

Erwartungen, die das Linksbündnis geschürt hat, müssen angegangen werden. Das wird nicht leicht. Zum Beispiel die Rücknahme der sozialen Härten, die Macron Frankreich verordnet hat, sowie eine Erhöhung des Mindestlohns, Preisdeckelung bei Lebensmitteln und anderes. Die soziale und wirtschaftliche Lage vieler Französinnen und Franzosen muss verbessert werden, sonst wird es 2027 unmöglich, die insgesamt frustrierten Wähler noch einmal mit der Drohung des Untergangs an die Urnen zu locken. Da darf sich jetzt keine Sekunde auf dem Erfolg vom Sonntag ausgeruht werden.