Ihre Studie zur US-Politik erscheint erst im Herbst. Schon heute wird sie als „historisch" gefeiert. Vergangene Woche argumentierten Sie in der Daily Show, dass die Präferenzen der Bürger kaum Einfluss auf US-Politik haben. Wie kommen Sie zu diesem Ergebnis?
Mein Kollege Marty Gilens aus Princeton und seine Mitarbeiter haben zehn Jahre damit zugebracht, einen einzigartigen Datensatz aus 1.779 Fällen von Politikgestaltung zusammenzustellen. Zu jedem Fall sammelten sie umfassende Informationen über die Präferenzen durchschnittlicher und wohlhabender Amerikaner und verglichen diesen Datensatz mit den Positionen von organisierten Interessensgruppen.
Im Anschluss analysierten wir die tatsächlichen Politikergebnisse, um den Einfluss der Interessensgruppen zu beurteilen. Es war nicht einfach, die Existenz oder die Abwesenheit einer Politikveränderung für jeden der 1.779 unterschiedlichen Fälle zu messen. Gilens und sein Team verbrachten Stunden damit, Presseberichte, Regierungsdaten, Parlamentspublikationen, akademische Papiere und Ähnliches auszuwerten.
Unsere Ergebnisse zeigen: In den USA regiert nicht die Mehrheit.
Durch die Analyse dieser Politikfälle fanden wir Erstaunliches heraus: Sogar überwältigend große öffentliche Mehrheiten von bis zu 80 Prozent der Bevölkerung für eine Politikveränderung schaffen es nur in 43 Prozent der Fälle, einen Politikwechsel herbeizuführen. Bei knapperen Mehrheiten gelang dies sogar nur in 30 Prozent der Fälle.
Die Daten zeigen, dass der Normalbürger wenig oder keinen eigenständigen Einfluss auf die Politik haben. Das sind besorgniserregende Neuigkeiten für die Befürworter einer „Volksdemokratie“, die fordern, dass Regierungen primär oder ausschließlich auf die Politikpräferenzen ihrer Bürger hören sollten. Unsere Ergebnisse zeigen: In den USA regiert nicht die Mehrheit - zumindest nicht im kausalen Sinn, dass sie tatsächlich Politikresultate bestimmt.
Wenn die Mehrheit nicht regiert, wer tut das dann?
Größtenteils wohlhabende Amerikaner, Unternehmen und geschäftlich orientierte Interessensgruppen. Unsere Untersuchung zeigt, dass die wirtschaftlichen Eliten und Gruppen, die die Interessen der Wirtschaftsunternehmen repräsentieren, einen erheblichen eigenständige Einfluss auf die Politik der U.S.-Regierung haben.
Die Ergebnisse stützen die Theorien der Dominanz einer Wirtschaftselite (Economic Elite Domination) und des Parteiischen Pluralismus (Biased Pluralism). Im Gegensatz dazu beschreiben die Theorien der Mehrheitswahldemokratie oder des Mehrheitspluralismus den Prozess der Politikformulierung heutzutage nicht adäquat.
Natürlich ist die Tatsache, dass Interessengruppen einen wesentlichen Einfluss haben, per se nicht neu. Unsere Ergebnisse sind jedoch bemerkenswert, da bisher nur wenige Untersuchungen in der Lage waren, das tatsächliche Ausmaß des Einflusses von Interessensgruppen zu berechnen. Im Vergleich tendiert der Einfluss des Durchschnittsbürgers auf ein statistisch unbedeutendes „Nahe-Null“ Niveau.
Der Einfluss des Durchschnittsbürgers tendiert auf ein statistisch unbedeutendes „Nahe-Null“ Niveau.
Der Durchschnitts-Wähler schneidet im Vergleich zu wirtschaftlichen Eliten und organisierten Interessensgruppen eindeutig schlechter ab. Gewöhnliche Bürger haben nicht nur keine wesentliche Macht über Politikentscheidungen, sie haben wenig oder keinen Einfluss auf Politik überhaupt.
Dabei wurde bislang oft ins Feld geführt, dass die Summe der organisierten Interessensgruppen - trotz aller Kritik - die politischen Werte der Gesamtbevölkerung durchaus spiegelt.
Unsere Befunde widerlegen diese Behauptung vollständig. Das ist vielleicht die wichtigste neue Erkenntnis. Einerseits stellte sich zwar tatsächlich heraus, dass die Präferenzen der gewöhnlichen Bürger recht hoch mit den Präferenzen der ökonomischen Eliten korrelieren - und zwar in einer großen Bandbreite von Themen. Doch dies ist ganz anders, wenn man reine Interessensgruppen betrachtet. Deren Haltungen korrelieren nicht wesentlich mit den Präferenzen der Normalbürger. Wenn man alle Arten von Interessensgruppen gemeinsam betrachtet, gibt es keine signifikante Korrelation zwischen deren Ansichten und den Präferenzen der Bürger.
Möglicherweise streben diese Gruppen nach dem Gemeinwohl und nicht nach egoistischen Zielen. Doch wir neigen dazu, das zu bezweifeln.
Dies lässt schwer an der These zweifeln, dass organisierte Interessensgruppen die allgemeine Bevölkerung adäquat repräsentieren. Theoretisch könnte man argumentieren, dass die ökonomischen Eliten und Führungskräfte der Interessensgruppen über tiefere politische Einblicke verfügen als die Normalbürger. Möglicherweise wissen sie einfach besser, welche Politik der Allgemeinheit nutzt? Möglicherweise streben diese Gruppen nach dem Gemeinwohl und nicht nach egoistischen Zielen. Doch wir neigen dazu, das zu bezweifeln.
Haben die Interessen des durchschnittlichen Wählers also immer das Nachsehen? Unter welchen Umständen bekommen Bürger das, was sie wollen?
Paradoxerweise zieht der Großteil der Amerikaner in den meisten Fällen nicht den Kürzeren. Oft stimmen die Mehrheit einfach mit den Auffassungen der Wohlhabenden überein. Die Präferenzen des Duchschnittsbürgers decken sich meistens mit den Ansichten der wirtschaftlichen Eliten. Im Grunde genommen bekommt der Bürger also durchaus oft die Politik, die er sich wünscht. Aber die Bürger sind eher zufällig Begünstigte als wirklich Ursache dieser Entwicklung.
Dabei ist aber auch darauf hinzuweisen, dass die Durchschnittswähler in einigen sehr wichtigen Bereichen nicht mit der bestehenden Politik einverstanden sind. Nehmen Sie etwa Handelsbeschränkungen, Steuerpolitik, Unternehmensregulierung, Abtreibung oder die Frage der Schulgebete. Bei diesen Themen verliert der Bürger immer, selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung mit den wirtschaftlichen Eliten und/oder den organisierten Interessensgruppen überhaupt nicht übereinstimmt.
Wir können auch belegen, dass die Bürger nur selten ein Eingreifen der Politik erreichen, wenn sie sich das wünschen. Unsere Befunde zeigen: Die Empfänglichkeit des amerikanischen politischen Systems ist streng begrenzt, wenn die Öffentlichkeit ein Eingreifen der Regierung wünscht.
Die Durchschnittswähler sind in einigen wichtigen Bereichen nicht mit der Politik einverstanden. Nehmen Sie etwa Handelsbeschränkungen, Steuerpolitik, Unternehmensregulierung, Abtreibung oder die Frage der Schulgebete.
Dies ist teilweise den Hindernissen des U.S.-Systems – Föderalismus, Gewaltenteilung, Zweikammersystem – zuzuschreiben. Zusammen mit weiteren Hürden wie Anti-Mehrheitsregeln des Kongresses schützt das System in erheblichem Maße den Status Quo.
Mehrheiten, die den Status Quo begrüßen und eine Politveränderung ablehnen, können ihren Willen meist behaupten. Doch wenn eine Mehrheit – selbst eine sehr große Mehrheit – der Bevölkerung eine Politikveränderung will, ist es nicht wahrscheinlich, dass sie das auch bekommt.
In unseren 1.779 Politikfällen konnten knappe öffentliche Mehrheiten lediglich in 30 Prozent der Fälle ihre gewünschte Politikveränderung durchsetzen. Und nochmals: Sogar überwältigend große Mehrheiten, bei denen 80 Prozent der Bevölkerung eine Politikveränderung anstrebten, konnten dies in nur 43 Prozent der Fälle erreichen.
Was sind die Folgen für die Zukunft der amerikanischen Demokratie? Gibt es Hoffnung, diesen Trend umzukehren?
Die ist die entscheidende Frage. Was machen wir mit diesen Ergebnissen? Was machen wir, wenn der Normalbürger wenig oder keinen eigenständigen Einfluss auf öffentliche Politik hat? Zunächst ist es wichtig, die Begrenzungen politischer Spenden wieder einzuführen, die Spender zu veröffentlichen und Lobbying zu beschränken. Voraussetzung dafür wären aber neue Richter am Supreme Court sowie ausdauernde politische Bemühungen.
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