Lesen Sie dieses Interview auch auf Englisch.
Das Interview führten Claudia Detsch und Oliver Philipp.
Das Attentat auf den Lehrer Samuel Paty hat die französische Bevölkerung tief erschüttert, stärker als vergleichbare Anschläge. Warum?
In der Tat hat Frankreich seit 2015 mehrere Attentate erlebt, darunter sehr einschneidende. Doch im Fall Paty betrifft es die Schule. Sie hat für die Franzosen eine besondere Bedeutung. Schon seit der Dritten Republik Ende des 19. Jahrhunderts hat sie nicht nur einen Unterrichts- und Lehrauftrag. Sie soll den Schülerinnen und Schülern die Republik nahebringen, um sie zu guten Bürgerinnen und Bürgern zu machen. Mit Paty wurde also ein Symbol angegriffen. Außerdem war Samuel Lehrer für Geschichte und Geografie. Diese Fächer spielen eine besondere Rolle bei der Vermittlung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins und von Grundwerten wie Meinungsfreiheit oder Gleichberechtigung der Geschlechter. All das macht dieses Attentat so besonders.
Motiviert wurde der Attentäter durch die Einstellung, dass der Prophet nicht gezeigt, karikiert oder verspottet werden dürfe und daher auch keine Karikaturen über ihn gezeigt werden dürften. Wie in ähnlichen Fällen hatte sich ein junger Mann radikalisiert. Die vor allem soziologische Frage dahinter lautet: Repräsentiert er die Gesamtheit der muslimischen Minderheit? Und die Antwort darauf lautet ganz klar: Nein.
Anfang Oktober warnte Präsident Macron vor der Entstehung islamistischer Parallelgesellschaften. Welche konkreten Maßnahmen werden aktuell diskutiert, um dieser Entwicklung vorzubeugen?
Das Problem beginnt schon beim tatsächlichen Umfang dieses Phänomens. Ich als Soziologe habe da ausgesprochen große Zweifel. Denn die Beispiele, die herangezogen werden, um eine Art Separatismus aufzuzeigen, sind letztlich nur sehr minoritär. Natürlich kann der Fall Samuel Paty als Beispiel dienen, zumal in den sozialen Medien eine Mobilisierung sehr konservativer Muslime gegen ihn zu beobachten war. Aber für die Mehrheit der französischen Muslime stellt der Grundsatz der Republik und die Religion selbst keinen Widerspruch dar. Den französischen Muslimen wird oft vorgeworfen, sie würden das Prinzip des Laizismus verletzen oder wären grundsätzlich unfähig, den Laizismus zu verstehen. Doch sie unterstützen ihn mehrheitlich und sind sogar positiv gegenüber dem öffentlichen Bildungssystem ohne religiösen Unterricht eingestellt. Es sollte bedacht werden, dass dieses Attentat eine Institution trifft, auf die Immigranten und deren Nachkommen setzen, um in der französischen Gesellschaft aufzusteigen.
Die Muslime haben das Recht kundzutun, dass sie damit nicht einverstanden sind. Auch das umfasst die Meinungsfreiheit.
Wenn Präsident Macron also einen Separatismus in den Vordergrund rückt, meint er ganz bestimmte Gruppen und Verhaltensweisen – Leute, die ihre Kinder zu Hause lassen oder sie in einen arabischsprachigen, religiösen Unterricht schicken. Es gibt in Frankreich auch Probleme mit Imamen, die aus der Türkei oder Algerien geschickt werden und den französischen Kontext nicht gut kennen. Diese Probleme sind nicht neu. Auf der anderen Seite ist die französische Gesellschaft für dieses Phänomen mitverantwortlich. Aus soziologischen Untersuchungen geht hervor, dass sich zwischen Anfang und Ende der Nuller Jahre die Kinder maghrebinischer Immigranten zunehmend als muslimisch definiert haben. Und das nicht, weil sie unbedingt fromm oder religiös wären, sondern weil die französische Gesellschaft das Kopftuch oft als Problem bezeichnet hat. Somit schaffen wir eine Form reaktiver Identität und tendieren zu einem Generalverdacht gegenüber dem Islam. Die große Mehrheit der muslimischen Französinnen und Franzosen aber ist perfekt integriert und lebt ihren Glauben ohne Probleme.
Die Vertreter der muslimischen Gemeinde in Frankreich haben den Mord an Samuel Paty als Abfall vom islamischen Glauben verurteilt. Gleichzeitig bezeichnen 70 Prozent der muslimischen Französinnen und Franzosen die Veröffentlichung der Karikaturen von Charlie Hebdo als einen Fehler. Wie kann der Widerspruch zwischen Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit – gerade auch in einem laizistischen Staat – sowie den Befindlichkeiten einer religiösen Minderheit aufgelöst werden?
Zunächst kann man feststellen, dass sich die Moscheegemeinden nach Anschlägen sehr deutlich positioniert haben. Das ist derzeit nicht anders. Aber man sollte vorsichtig sein: 70 Prozent sind der Meinung, dass es ein Fehler war – was bedeutet das konkret? Die Bereitschaft zu einem Attentat auf Charlie Hebdo? Für die allermeisten Muslime ist das nicht der Fall. Ist es ein Fehler, dass man schockiert ist? Für gläubige Katholiken wären Karikaturen vom Papst auch schockierend. Im Prinzip sind die Karikaturen von Charlie Hebdo für sehr viele Menschen verletzend und unangenehm. Aber hier zeigt man mit dem Finger auf die muslimische Minderheit. Die Muslime haben das Recht kundzutun, dass sie damit nicht einverstanden sind. Auch das umfasst die Meinungsfreiheit. Hier sollten wir alle sehr auf unsere Reaktionen gegenüber den Betroffenen achten.
Kommen wir noch einmal auf die Rede Macrons zurück. Die französische Linke hat nach Macrons Rede kritisiert, der gesamte Islam werde stigmatisiert, andere separatistische Strömungen dagegen zu wenig thematisiert. Welches Vorgehen schlägt sie alternativ vor?
Das ist eine gute Frage. Die Linke ist bei diesen Fragen ohnehin gespalten. Nach den Anschlägen haben Menschen wie Manuel Valls, François Hollande oder Bernard Cazeneuve mit dem Finger auf France Insoumise und einen Teil der Grünen gezeigt, die gegen Islamophobie demonstriert hatten. Dabei ist das ein echtes Problem. Einigen Frauen mit Kopftuch wurde der Zutritt zu Restaurants verboten. Das ist einfach Diskriminierung und Rassismus. Dagegen auf die Straße zu gehen, ist durchaus wichtig. Doch es wurden Vorwürfe laut, weil in diesen Demonstrationen auch sehr konservative muslimische Organisationen vertreten waren. Sie haben die Gelegenheit genutzt, um ihre Ansichten zu verbreiten. Das ist eben normal in solchen Demonstrationszügen.
Wir finden uns also in einer Situation wieder, in der die Menschen grundsätzlich Laizismus, Toleranz und Diversität einhellig befürworten. Aber dahinter stehen mittlerweile zwei Modelle von Laizismus, die miteinander im Konflikt stehen. Das drückt sich auch in den Meinungsumfragen aus: Auf der einen Seite stehen zum großen Teil eher jüngere, gut ausgebildete Menschen, die Frankreich als eine inzwischen multikulturelle Gesellschaft betrachten. Ein Kopftuch oder eine Niqab zu tragen, ist demnach kein Problem. Auf der anderen Seite stehen jene, die sich als Republikanerinnen und Republikaner bezeichnen. Sie sind eher der Auffassung, dass Religion darin keinen Platz hat. Sie wünschen sich einen komplett neutralen öffentlichen Raum. Das wirft neue Fragen auf.
Es ist vollkommen richtig, dass es eine Debatte über den Islamismus braucht, ohne dass zugleich Muslime als gesamte Gruppe stigmatisiert werden.
Ein Beispiel: Die linke Gewerkschaft der Studierenden in Frankreich (Union nationale des étudiants de France, UNEF) hat eine Vizepräsidentin, die ein Kopftuch trägt. Sie wurde einmal eingeladen, vor der Assemblée Nationale zu sprechen. Die Abgeordneten der rechten Parteien und von République en Marche weigerten sich, ihr zuzuhören und haben den Sitzungssaal verlassen mit der Begründung, das Kopftuch habe keinen Platz im Parlament. Soll man jetzt ernsthaft behaupten, dass sie sich mit einem Kopftuch notwendigerweise in einer Logik bewegt, die Frauen weniger Wert in der Gesellschaft zubilligt? Nein, sie ist ja Vizepräsidentin einer linken Gewerkschaft. Was können die linken Parteien den Rechten und einem Teil der politischen Mitte da entgegensetzen? Gegenwärtig ist das von linker Seite schwer.
Der deutsche Sozialdemokrat Kevin Kühnert bezeichnete nach der Tat den Islamismus als blinden Fleck der politischen Linken – man wolle dem von rassistischen Ressentiments lebenden politischen Gegner keine ungewollten Stichworte liefern, würde aber durch das Schweigen genau das Gegenteil erreichen. Trifft das auf Frankreichs politische Linke zu?
Es ist vollkommen richtig, dass es eine Debatte über den Islamismus braucht, ohne dass zugleich Muslime als gesamte Gruppe stigmatisiert werden. Das ist sehr schwierig. Innenminister Gérald Darmanin hat nach dem Attentat auf Samuel Paty ernsthaft ausgewählte Supermarktregale für Spezialitäten und Lebensmittel einiger Minderheiten als eine Gefahr und als Zeichen mangelnder Integration dargestellt. Ein Teil der französischen Gesellschaft verschließt die Augen vor der Diversität oder lehnt sie ganz ab. Das ist ebenfalls gefährlich. François Fillon, Präsidentschaftskandidat der Konservativen bei der Wahl 2017, hat sogar gesagt, Frankreich sei keine multikulturelle Nation. Das ist einfach falsch. Sie ist es inzwischen, wie viele andere europäische Gesellschaften auch.
Man ist an einen Punkt gelangt, an dem die positiven Seiten der Diversität nicht mehr gesehen werden. Die Diversität selbst schließt ja eine harte Politik gegenüber ihren Gegnern nicht aus und der Islamismus ist ein Gegner der Diversität. Das Problem liegt in Frankreich beispielsweise auch darin, dass über die Geschichte Algeriens oder des afrikanischen Sklavenhandels nicht gesprochen wird. Der Islam wird immer noch als fremde Religion angesehen, obwohl mittlerweile die Enkel von algerischen Immigranten in Frankreich aufwachsen, deren Eltern bereits hier geboren wurden und die sich als Muslime bezeichnen. Der Islam ist also ein Teil von Frankreich. Natürlich bleibt es ein mehrheitlich katholisch geprägtes Land. Hinzu kommt, dass der Islam deutlich pluraler ist, als oft angenommen wird. Mit ihm werden meist eher „Konservatismus“ oder „Islamismus“ verbunden, aber man denkt nicht an die sehr unterschiedlichen Einstellungen unter den Muslimen. In dieser Hinsicht sind sie deutlich diverser als die Katholiken.
Gegenwärtig gibt es starke Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei. Ist die französische Gesellschaft mit der Politik Macrons gegenüber der Türkei einverstanden oder wird sie als Ablenkungsversuch von seiner Corona-Politik gewertet, die stark kritisiert wurde?
Da kommen mehrere Faktoren ins Spiel. Ein Unterschied zu Deutschland besteht darin, dass viele Franzosen den Islam nicht direkt mit der Türkei in Verbindung bringen, sondern mit dem Maghreb. Nur wenige Franzosen sind sich bewusst, dass es auch Einwanderung aus der Türkei gibt, und diese bringt einen anderen Islam mit. Wenn man die Integration der verschiedenen migrantischen Gruppen vergleicht, fällt auf, dass jene mit türkischem Migrationshintergrund deutlich verschlossener ist, die Angehörigen eher in türkischen Vereinen unter sich bleiben. Die Nachkommen sprechen weiterhin türkisch und es gibt deutlich weniger Austausch. Zudem wird der Islam türkischer Prägung sehr stark vom türkischen Staat kontrolliert.
Die Franzosen erkennen diese Verbindung nicht. Erdogan erkennt diese Verbindung durchaus. Er versucht also die französische Politik im Interesse der muslimischen Minderheiten zu beeinflussen. So wie jedoch über die Türkei und die Spannungen mit der Türkei diskutiert wird, geht es eher um Fragen der internationalen Beziehungen und der Sicherheitspolitik, die Intervention in Bergkarabach, die Rolle der Türkei in Syrien und Libyen oder die Spannungen mit Griechenland. Es geht weniger um Fragen der Minderheiten innerhalb Frankreichs. Ich denke nicht, dass Macron dieses Thema als Mittel der Ablenkung nutzt. Die Frage des Separatismus kann jedoch durchaus als Ablenkungsmanöver von seiner Corona-Politik dienen.
Aus dem Französischen von Mark Schrolle und Oliver Philipp.