Das Interview führte Alexander Isele.

Großbritannien hat dramatische Tage hinter sich. Boris Johnson ist nach zahlreichen Skandalen als Tory-Vorsitzender zurückgetreten, will aber zunächst als Premierminister im Amt bleiben, bis die Partei einen Nachfolger gewählt hat. Wieso hat sich Johnson so lange halten können?

Boris Johnsons Weigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen, war für niemanden überraschend. Interessant war hingegen, wie die Konservative Partei darauf reagiert hat. Immerhin wurde er von ihr inthronisiert und lange Zeit für den Brexit verehrt. Die Partei muss sich eine Menge Fragen stellen: Warum ist das Kabinett nicht geschlossen zurückgetreten? Warum haben sich die Abgeordneten lange Zeit nicht in der Öffentlichkeit geäußert, sondern nur hinter vorgehaltener Hand? Sind die parteiinternen Regularien zum Misstrauensvotum noch zeitgemäß? Die dramatischen Stunden bis zu seinem Eingeständnis ließen eine Vermutung aufkeimen: Die Krise in Großbritannien ist keine Krise Boris Johnsons. Es ist eine strukturelle Krise, in der deutlich wurde, dass die Johnson-Jahre das demokratische System zu Gunsten von vermeintlich erfolgreichen populistischen Konzepten weiter haben erodieren lassen. Die vielen Vergleiche mit Trump kommen nicht von ungefähr. Und das ist vielleicht die entscheidende Frage: Mit welchen Wunden wird das demokratische System nach diesem Ausflug in populistische Gefilde zurückgelassen?

Auch deshalb warnen politische Beobachter vor Schadenfreude. Inmitten eines Kriegs in Europa und einer der größten sozialen Krisen des Landes regiert eine Partei, die jetzt bis ins Mark gespalten ist. Sie hat sich nicht gescheut, einen Premier zu installieren, der offensichtlich nicht fit for office war. Das Konzept eines Brexits um jeden Preis hat sie in die Lage versetzt, einen Populisten vom Schlage eines Boris Johnson an die Spitze eines der führenden G7- und NATO-Staaten zu setzen. „He was the wrong man for the job“, schallt es nun aus den eigenen Reihen. Den Brexit hat er geliefert, das ist sein Vermächtnis. Aber es wird wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis in der britischen Öffentlichkeit eine sachlich-orientierte Debatte über diese „Leistung“ und den dafür gezahlten Preis einsetzt.

„Get Brexit done“ war der Wahlslogan Johnsons. Wie sieht seine Bilanz aus?

Johnson hinterlässt ein politisch und sozial tief gespaltenes Land, dessen Einigkeit weiterhin an der Brexit-Sprengstofflunte hängt. Erstmals erscheint eine irische Wiedervereinigung nicht mehr ausgeschlossen und die Regierung Nicola Sturgeons in Schottland läuft mit dem Schlachtruf nach Unabhängigkeit von Wahlsieg zu Wahlsieg. Von allen G7-Staaten hat Post-Brexit-Großbritannien als einziges nach Corona ein Nullwachstum. Die Inflation liegt bei 10 Prozent. Auch wenn der dramatische Fachkräftemangel und die stark steigenden Energiepreise weitere Prognosen zunehmend unsicher machen, wird sich das Bruttoinlandsprodukt laut britischer Statistikbehörde langfristig um rund 4 Prozent verringern. Britische Exporte in die EU sind bereits um 41 Prozent und die Importe um 29 Prozent eingebrochen. Die Einkommensungleichheit in Großbritannien hat sich nach dem Brexit weiter verschlechtert und ist eine der höchsten in Europa. Und statt, wie in der Wahlkampagne versprochen, die Steuern zu senken, wurden sie zum 1. April sozial sehr unausgewogen über einen höheren Sozialbeitrag für alle erhöht. Diese erhobene Steuer gilt hier im Land als das größte aller gebrochenen Brexit-Versprechen. Schon jetzt ist eine Entwicklung unausweichlich, nach der bis 2023 mehr als 1 Million Erwachsene in bitterer Armut leben werden. Die Brexit-Bilanz ist also mehr als mager.

Die vielen Vergleiche mit Trump kommen nicht von ungefähr.

Wie geht es nun weiter?

In 14 Tagen geht das politische London in die Sommerpause. In diesen zwei Wochen wird die Konservative Partei einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin nominieren müssen, der oder die dann auf dem Parteitag der Tories Anfang Oktober bestätigt werden kann. Eine verschwindend kleine Gruppe, die 200 000 Mitglieder der Konservativen Partei, wird dann entscheiden, wer das Land durch diese schwierigen Zeiten führen wird. Johnsons Intention ist es, bis dahin geschäftsführend im Amt zu bleiben. Nach dem De-facto-Zusammenbruch der Regierung und über 50 Rücktritten ist fraglich, ob er eine solche verwaltende Regierung weiterhin wird anführen können. Auch ein Übergangspremier wäre daher denkbar. Die nächsten Tage werden auch das entscheiden. Der oder die Neue wird die vielen verschiedenen Flügel bis zu den nächsten Unterhauswahlen 2023 oder 2024 zusammenführen müssen. Den Zeitpunkt für die Wahl festzusetzen wird allerdings ein Vabanque-Spiel für die Tories. Umfragen zufolge würden sie bei Wahlen die Regierungsmehrheit verlieren.

Auch Labour hätte laut Umfragen keine eigene Mehrheit. Warum kann die Partei nicht von dem Chaos um Johnson profitieren?

Die parteiinterne Stimmung ist sehr weit von jeder Euphorie entfernt, ganz im Gegenteil. Sowohl über Keir Starmer als auch über seine Stellvertreterin Angela Rayner hängt das Damokles-Schwert einer Anzeige, die Corona-Regeln im April 2021 während einer Arbeitssitzung in Durham gebrochen zu haben. Beide hatten anders als Johnson daraufhin versichert, sofort von ihren Ämtern zurückzutreten, sollten sie mit Bußgeldern belegt werden. Nicht wenige hielten diesen Kotau für verfrüht. Ihnen droht, über eine Latte zu stolpern, die sie selbst so hochgelegt haben.

Sollte mit Labour auch die Regierung im Wartestand kopf- und führungslos werden, würde sich die Krise des politischen Systems in Großbritannien noch einmal verschärfen. Beer Gate, wie Starmers Besuch in Durham betitelt wurde, wäre aber nur der Anlass, nicht die Ursache für sein Scheitern. Nach dem streitumwobenen Parteitag der Labour Party in Brighton im September letzten Jahres, auf dem das ehemalige Corbyn-Lager scheinbar unter Kontrolle gebracht wurde, konnten die parteiinternen Wogen nie wirklich geglättet werden. Die Besetzung von Wahllisten führt regelmäßig zu schmerzhaften Debatten über etwas, das man hier „Long-Corbyn“ nennt: Starmer lässt Kandidatinnen und Kandidaten von den landesweiten Listen streichen, denen man meint, eine zu große Nähe zum ehemaligen Vorsitzenden nachweisen zu können. Nicht immer sind die Argumente dafür nachvollziehbar. Die innerparteilichen Wunden können so nicht verheilen.

Hinzu kommt, dass mit der Schwächung des linken Parteiflügels auch das Verhältnis zu den Gewerkschaften nachhaltig abgekühlt ist. Großbritannien steht vor einem summer of discontent. Monate, die von heftigen Streiks geprägt sein werden, stehen bevor und könnten Erinnerungen an die Zeit unter Margaret Thatcher hervorrufen. Die Gewerkschaften können sich selbst bei offensichtlich durchaus berechtigten Streikforderungen nicht der Unterstützung der Labour Party sicher sein. Mitglieder des Labour-Schattenkabinetts mussten sich bereits öffentlich entschuldigen, die Anliegen der Streikenden nicht wirklich durchdrungen zu haben.

Starmer wird vorgeworfen, er habe keine besseren Ideen als Johnson. Wie kommt das?

Labour lässt sich weiterhin vom Gespenst des Brexits durch Westminster jagen. In einer viel beachteten Grundsatzrede machte Starmer zuletzt klar, mit Labour gäbe es kein Zurück in die EU. Stattdessen werde man den Brexit – anders als die Tories – zum Laufen bringen. „Make Brexit work“ ist Starmers alternativer Ruf. Der Parteivorsitzende verspricht, Labour würde die britische Wirtschaft von den Fesseln des Handelsabkommens befreien. Die Rückkehr in den Binnenmarkt plane man aber auf gar keinen Fall. Außer einem vagen Fünf-Punkte-Plan bleibt aber unklar, wie das mit den Vorgaben des Vertrags mit der EU vereinbar wäre. Von der britischen Wirtschaft wird er harsch kritisiert.

Viele Wählerinnen und Wähler können kein Programm mit Starmer verbinden. Sein Profil und das der Partei bleiben auf diese Weise unklar. Laut Umfragen wird es so höchstens für eine Minderheitsregierung, unterstützt durch die Liberaldemokraten und die schottischen Nationalisten, reichen. Letztere würden aber einen hohen Preis verlangen: ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Auch das ist dann ein Nachlass Boris Johnsons.