Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Aus dem Gazastreifen wurden in den letzten Tagen über eintausend Raketen nach Israel abgefeuert. Die israelische Armee reagierte mit Luftschlägen. Es gab auf beiden Seiten Tote und Verletzte. Dem gingen Wochen der Proteste in Ost-Jerusalem voraus. Mittlerweile wird auch in vielen israelischen Städten mit palästinensischer Bevölkerung demonstriert. Warum ist der israelisch-palästinensische Konflikt nun erneut eskaliert?
Es ist richtig, dass jetzt in der Berichterstattung die Raketen aus Gaza und die Bombardierungen des Gazastreifens im Mittelpunkt stehen. Das ist Krieg und über das Leid und den Schrecken wird ausgiebig berichtet. Die Hamas hat durch ihre Raketen auf Jerusalem die Ereignisse dort gekapert und einen Krieg provoziert. Was dadurch in den Hintergrund gerät, sind die erwähnten Proteste in Ost-Jerusalem, die sich unter anderem an geplanten Zwangsevakuierungen von palästinensischen Familien aus ihren Häusern oder der Polizeigewalt auf dem Haram a-Scharif bzw. Tempelberg entzündeten. Außerdem haben wir jetzt noch eine neue Dimension: schreckliche Szenen von ethnisch motivierter Gewalt zwischen jüdischen und palästinensischen israelischen Staatsbürgern in israelischen Städten.
Was muss geschehen, um die aktuelle Eskalation der Gewalt zu stoppen?
Wir haben es wie gesagt mittlerweile mit mehreren Konflikten und Formen der Gewalt zu tun. Die Motive für die Gewalt sind teilweise unterschiedlich und der Einfluss auf die Gewaltakteure ist nicht immer gegeben. Im Fall von Gaza versuchen Ägypten und Katar zwischen der Hamas und Israel zu vermitteln, bisher ohne Erfolg. Aber was Leserinnen und Lesern in Deutschland vielleicht überraschend erscheinen mag: In dem Krieg zwischen der Hamas und dem Islamischen Jihad auf der einen Seite und der israelischen Armee auf der anderen Seite scheint es noch am ehesten möglich zu sein, diesen wieder einzufangen, weil zwischen Parteien verhandelt wird, die jeweils die Kontrolle über die Gewaltausübung haben.
Bei den Protesten in Ost-Jerusalem und der Gewalt in Israel selbst wird dies deutlich schwieriger sein. Dort hat sich in der palästinensischen Bevölkerung Frust über eine strukturelle Diskriminierung über lange Zeit aufgestaut und mischt sich jetzt mit teils rassistischen Motiven. Dies waren und sind keine Proteste, die „von oben“ gesteuert wurden. Außerdem geht es längst nicht mehr um Solidaritätsproteste mit dem, was in Ost-Jerusalem passierte, und dem Versuch durch Polizeikräfte, diese einzuhegen. Auf der jüdisch-israelischen Seite handeln auch national-religiöse Extremisten, die ihren rassistischen Hass auf „Araber“ über lange Zeit kultiviert haben. Über Messenger-Dienste verbreiten sich jeweils Videos der Gräueltaten der anderen Seite und heizen die Gewalt neu an. Es gibt Berichte von Lynchmobs, die durch die Straßen ziehen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt war medial einige Jahre in den Hintergrund getreten. Wurde er auch politisch zu lange vernachlässigt?
Die palästinensischen Gebiete befinden sich seit nunmehr 54 Jahren unter israelischer Besatzung und wurden in Teilen, wie im Fall von Ost-Jerusalem, von Israel annektiert. Der dicht besiedelte Gazastreifen ist, seitdem er von der Hamas kontrolliert wird, also seit 2007, von Israel und Ägypten einer strengen Blockade ausgesetzt. Israel hat sich selbst und die Welt zuletzt getäuscht und geglaubt, der Konflikt mit den Palästinensern lasse sich auf Dauer managen, ohne ihn im Kern zu adressieren. Vor allem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten im letzten Jahr hat zu dieser Illusion beigetragen.
Im Fall von Gaza versuchen Ägypten und Katar zwischen der Hamas und Israel zu vermitteln, bisher ohne Erfolg.
Diesem als „Abraham Accords“ bekannt gewordenen diplomatischen Durchbruch war aber eine zuvor so nicht da gewesene Eskalation im Israel-Palästina-Konflikt vorausgegangen. Die israelische Regierungskoalition hatte im Frühjahr 2020 im Grundsatz vereinbart, weite Teile des Westjordanlandes annektieren zu wollen, was dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und der Aussicht auf einen palästinensischen Staat, der auch seinen Namen verdient, auf ewig eine Absage erteilen würde.
Inwiefern die sogenannte Zweistaatenlösung noch realistisch ist, wird von Expertinnen und Experten immer wieder in Zweifel gezogen. Aber was sind die Alternativen dazu? Die aktuelle Gewalt spricht nicht gerade für die Option eines friedlichen Zusammenlebens etwa in einem gemeinsamen Staat.
Ein gemeinsamer Staat mit gleichen Rechten und gleichen Chancen ist vor allem deshalb eine Utopie, weil es nur eine kleine Minderheit in Israel gibt, die sich einen einzigen Staat zwischen Jordanfluss und Mittelmeer vorstellen kann, in dem allen Bürgerinnen und Bürgern, also dann auch allen Palästinensern, gleiche Rechte eingeräumt würden, weil dies den jüdischen Charakter Israels demografisch gefährden würde. Auch gibt es noch viele Palästinenser, die ihr Recht auf Selbstbestimmung mit einer eigenen Staatlichkeit verbinden. Umso kontraintuitiver ist es jedoch, dass die israelische Regierung die Einstaatenrealität immer weiter zementiert.
Der Anteil der Siedler im Westjordanland hat sich seit dem Friedensprozess in den 1990er Jahren auf nunmehr 650 000 vervielfacht. Die Siedlungen ziehen sich wie ein Netz durch das gesamte Westjordanland und Ost-Jerusalem und nehmen den Palästinensern die Bewegungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeiten. Weil die israelische Regierung den Anspruch auf das gesamte Land stetig verfestige und keine Andeutungen mache, den Palästinensern entweder gleiche Rechte einzuräumen oder aber die Besatzung zu beenden, sprechen immer mehr Menschenrechtsorganisationen wie die israelische Organisation B’tselem oder Human Rights Watch von einem System der Apartheid.
Was ist mit der Palästinensischen Autonomiebehörde? Von ihr hat man in dem aktuellen Konflikt kaum etwas gehört.
Die Palästinensische Autonomiebehörde hat in der palästinensischen Bevölkerung immens an Glaubwürdigkeit und Legitimität eingebüßt. Das liegt vor allem daran, dass die Behörde, die im Zuge der Oslo-Verträge Anfang der 1990er Jahre geschaffen wurde und den Nukleus eines zukünftigen palästinensischen Staates bilden sollte, nie über ein sehr beschränktes Maß an Autonomie hinausgekommen ist. Die Palästinensische Autonomiebehörde verwaltet nur einen kleinen Teil des Westjordanlandes und muss sich in fast allen Punkten mit den israelischen Behörden absprechen, beziehungsweise diese um Erlaubnis fragen. Das war zuletzt auch bei den für den 22. Mai ursprünglich angesetzten Wahlen für das Parlament der Autonomiebehörde der Fall.
Indessen geriert sich jetzt die Hamas als die Kraft, die nicht tatenlos zusieht und es mit Israel aufnimmt.
Weil Israel den Palästinensern das Wählen in Ost-Jerusalem entgegen den Oslo-Verträgen verwehrte, so die offizielle Begründung, sagte der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas die Wahlen kurzerhand ab. Dass wichtige Amtsträger um den Präsidenten ohnehin kein Interesse an den Wahlen hatten, weil sie mit Machteinbußen rechnen mussten, ist ein offenes Geheimnis. Als Palästinenser nun in Ramallah Solidaritätsdemonstrationen mit den Protesten in Ost-Jerusalem organisierten, wurden diese von palästinensischen Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst.
Kaum ein Palästinenser oder eine Palästinenserin glaubt noch, dass die Autonomiebehörde in ihrem Sinne handelt und vielleicht einmal ein Ende der Besatzung herbeiführen kann. Indessen geriert sich jetzt die Hamas, die in den letzten Jahren eigentlich deutlich an Zustimmung in der palästinensischen Gesellschaft eingebüßt hatte – Wahlumfragen sahen sie bei nur 8,2 Prozent –, als die Kraft, die nicht tatenlos zusieht und es mit Israel aufnimmt. So deprimierend das ist, kann es sein, dass die Hamas nun zumindest kurzfristig in der palästinensischen Gesellschaft an Popularität dazugewinnt.
Was kann Europa, was können die USA tun?
Auf die Proteste und die hasserfüllte Gewalt zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern haben Europa und die USA keinen Einfluss. Auch auf den Konflikt zwischen Israel und den islamistischen Gruppen, Hamas und Islamischer Jihad, haben sie kaum Einfluss, weil sie Letztere als Terrorgruppen einstufen und mit ihnen keine Kontakte pflegen. Was Europa und die USA dennoch tun könnten, wäre die Situation zu nutzen, um das eigene Handeln im Nahost-Konflikt noch einmal grundsätzlich zu analysieren. Ein Zurück zu der Formel der Zweistaatenlösung, ohne dass diese mit einer Politik untermauert wird, die alle Seiten an dem Handeln in diesem Sinne misst, würde den Konflikt nur weiter perpetuieren.
Eine Möglichkeit wäre, einen rechtebasierten Ansatz zu priorisieren. Das heißt, die internationale Gemeinschaft würde für die Wahrung der Menschenrechte für alle Menschen zwischen Jordanfluss und Mittelmeer eintreten, sofort und mit Nachdruck. Auf welche „technische“ Umsetzung, ob binationaler Staat, Zweistaatenlösung, Konföderation oder Ähnliches, sich die Israelis und Palästinenser einigen, sollte selbstverständlich von ihnen selbst entschieden werden. Auf keinen Fall aber sollte eine „Lösung“ vorangestellt und die Wahrung der Menschenrechte bis zur möglichen Erreichung dieser Lösung auf ewig vertagt werden.