Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Die Bilder vom Sturm aufs Kapitol in Washington sind um die Welt gegangen. Wie sind die Geschehnisse einzuordnen? War das ein Staatsstreich, gar innerstaatlicher Terrorismus oder lediglich eine Aktion aufgestachelter Trump-Anhänger, die zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden können und überforderten Sicherheitskräften gegenüberstanden?
Donald Trump hatte bis gestern seine Niederlage in den Präsidentschaftswahlen nicht akzeptiert und wurde nicht müde, alle Arten von Lügen über einen angeblichen Wahlbetrug zu verbreiten, auch noch als alle Gerichtsverfahren gegen die Wahlergebnisse in einzelnen Kreisen gescheitert waren. Der amtierende Präsident griff die Legitimität der Wahlen an, verhöhnte demokratische Institutionen und ihre Repräsentanten und griff mit all dem letztendlich die Demokratie selbst an. Dabei war er bemüht, sich als Opfer korrupter Eliten darzustellen, während er für ein vermeintlich großartiges Amerika kämpfe, welches ihm durch die Präsidentschaftswahl gestohlen werde.
Trumps loyale Anhänger folgten ihm in ihrem Wahn, aber auch der größte Teil der Republikaner war nicht wirklich bereit sich von seiner zerstörerischer Dominanz über die Partei zu befreien. Der Rechtspopulist Trump ließ sich dabei allzu gerne von Rechtsextremen unterstützen und feuerte diese an. Er rief die Geister, die am Dreikönigstag nach Washington kamen, um dabei zu helfen, die rechtmäßigen Wahlergebnisse zu kippen. Trump hatte vorab getwittert, es werde „wild“ werden. Was sich da vor dem Kapitol versammelte, war eine angestachelte Meute, die Trump selbst mit seiner Rede kurz vorher aufgehetzt hatte. Dafür erwägt die Staatsanwaltschaft von Washington D.C. inzwischen, Trump wegen Volksverhetzung und Anstiftung zur Gewalt juristisch zu belangen.
Trumps letztes, aber gewalttätiges Aufgebot konnte sich den Weg ins Kapitol selbst bahnen, besetzte randalierend das Parlament und unterbrach den demokratischen Prozess für Stunden. Das war eine Art dilettantischer Putschversuch, ermöglicht auch durch eine offensichtlich überforderte Polizei, die der Situation nicht gewachsen war. Die Ereignisse lassen sich auch als innerstaatlicher Terrorismus bezeichnen, so tut es die Bürgermeisterin der Hauptstadt. Von einem Staatsstreich würde ich nicht sprechen, denn dazu hätte es einer militärischen Intervention gegen die Zertifizierung der Wahlergebnisse bedurft. Letztendlich hat sich aber die US-Demokratie als wehrhaft erwiesen. Beide Kammern setzten ihre parlamentarische Arbeit noch am Abend fort und bestätigen die Wahl von Joe Biden zum 46. Präsidenten der USA.
Hat der Sturm auf das Kapitol sogar geholfen, die republikanischen Senatoren dazu zu bringen, ihren Widerstand gegen das Wahlergebnis aufzugeben?
Die Tumulte und die Gewalt in unmittelbarer Nähe haben zumindest bei einem Teil der Republikanischen Senatoren zu einem Innehalten geführt – von den 13 Senatoren, die angekündigt hatten, die Zertifizierung einzelner Wahlergebnisse in Frage zu stellen, blieben nur sieben in den Abstimmungen bei ihrer Haltung. Es ist aber weiterhin ein Problem, dass selbst diejenigen, die sich jetzt vom Versuch der Umkehrung des Wahlergebnisses vom November distanziert haben, Zweifel an der Legitimität des neu gewählten US-Präsidenten und seiner Vizepräsidentin hegen, und dies auch öffentlich. Die Hälfte der Republikanischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses hat auch nach der Besetzung des Kapitols ihren Einspruch gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl aufrechterhalten. Das ist besorgniserregend. Diese Abgeordneten respektieren weder die Verfassung, noch die demokratischen Prozesse in den USA. Sie tragen die Mär von der gefälschten Präsidentschaftswahl, die Donald Trump in die Welt gesetzt hat, mit und verbreiten sie weiter. Ich bin mir sicher, dass die Zertifizierung am Dreikönigstag als Abstimmung der Schande in die amerikanische Geschichte eingehen wird. Als Motiv für das Verhalten der Republikaner gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Sie wollen sich an die radikale Basis der Trump-Unterstützer anbiedern, um daraus politisches Kapital für die eigene Karriere zu schlagen.
Trumps Verhalten stellt eine gezielte Verletzung des Amtseids des Präsidenten und seiner verfassungsmäßigen Pflichten dar.
Anderen Republikanern wird plötzlich klar, dass sie mit Trump untergehen werden, wenn sie nicht springen. So wollen viele noch schnell ihre eigene politische Position verbessen und auch ihre eigene Rolle als Ermöglicher Trumps verschleiern. Daher hat sich die schon vor Wochen begonnene Absetzbewegung vom amtierenden Präsidenten enorm beschleunigt. Trump ist zunehmend isoliert und sah sich gezwungen, in einem abgelesenen Videostatement die Gewalt im Kapitol zu verurteilen, nachdem er direkt nach den Ereignissen noch von seinem Verständnis für die Randalierer gesprochen hatte. Trump erkannte dabei auch an, dass es eine Amtsübergabe am 20. Januar geben und er dann nicht mehr Präsident sein wird.
Wie wahrscheinlich ist es, Trump durch das Verfahren des 25. Amendment oder durch ein Amtsenthebungsverfahren noch aus dem Amt zu entfernen? Gibt es dafür eine Rechtsgrundlage, hat er mit seinem Verhalten gegen die Verfassung verstoßen?
Die Rufe nach einer direkten und umgehenden Entfernung aus dem Amt werden lauter – selbst enge Mitarbeiter im Weißen Haus werden entsprechend zitiert. Klar ist, dass Trumps Verhalten eine gezielte Verletzung des Amtseids des Präsidenten und seiner verfassungsmäßigen Pflichten darstellt – dies wäre Grundlage genug für ein weiteres Amtsenthebungsverfahren. Es geht dabei auch um seine politische Neutralisierung. Sollte Trump aus dem Amt enthoben werden oder wegen der Anstiftung zum Aufruhr verurteilt werden, dann kann er nicht wieder für ein öffentliches Amt kandidieren. Es geht aber auch ums Prinzip. Nancy Pelosi scheint eine Amtsenthebung zu favorisieren, sie wird heute (Freitag 8.1.) dazu mit der Fraktion der Demokraten beraten.
Joe Biden sieht solche Schritte nicht als notwendig an, da er sich jetzt auf die Amtsübergabe in weniger als zwei Wochen konzentrieren und Trump eher hinter sich lassen möchte. Vizepräsident Mike Pence wird das Verfahren gegen Trump nach dem 25. Zusatzartikel nicht einleiten, auch wenn die beiden wohl gerade nicht mehr miteinander sprechen. Ein Amtsenthebungsverfahren im Kongress wird letztendlich im Senat entschieden, und die Republikaner werden da nicht mitmachen. Wir sollten nicht vergessen, dass ein solches Verfahren ein politischer und kein rechtlicher Schritt ist. Wegen möglicher Rechtsverletzungen könnte Trump aber auch nach dem 20. Januar noch juristisch verfolgt werden.
Laut YouGov unterstützen 45 Prozent der Republikaner die Stürmung des Kapitols, 69 Prozent von ihnen sehen die Schuld dafür nicht bei Trump. Ist vor diesem Hintergrund das Versprechen von Joe Biden, die Nation zu heilen, nicht völlig unrealistisch?
Diese Zahlen stellen eher ein Problem für die Republikaner dar. Die Verachtung demokratischer Institutionen ist letztendlich unpatriotisch. Wie wollen sie so zum Regieren zurückkehren? Joe Biden sollte nicht eine Falle tappen und versuchen, die Trump-Unterstützer dezidiert erreichen zu wollen. Er sollte sich um die gesamte US-Gesellschaft und die drängenden Probleme kümmern. Joe Bidens Versprechen war immer „aspirational“, er hat eine Vision für seine Präsidentschaft und wie er sein Amt ausüben möchte – mit Würde und Anstand. Er ist kein Heilsbringer, er will gut regieren und das Leben der arbeitenden Leute verbessern.
Biden ist weder naiv noch politischer Neuling – er weiß genau, wie schwer, anspruchsvoll und unsicher die Heilung der Nation sein wird, und vier Jahre werden dafür bei weitem nicht ausreichen. Ihm geht es vielmehr darum, Amerika und seine Bürgerinnen und Bürger an die Gründungsideale zu erinnern, dabei die dunklen Seiten der Geschichte – wie die Sklaverei – ehrlich aufzuarbeiten und eine solide Regierungsarbeit zu machen, die der Mehrheit aller Amerikanerinnen und Amerikaner zugute kommen wird – das sind wichtige Schritte und die richtige Einstellung auf dem Weg zur Einheit des Landes.