Die Fragen stellte Alexander Isele.
Die israelische Armee kämpft inzwischen seit über acht Monaten gegen die Hamas. Seit Monaten kommt es an der israelisch-libanesischen Grenze zu Zusammenstößen. Wie ist die Lage im Libanon im Moment?
Die Lage ist äußerst kritisch. Die Angst, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte, ist überall und ständig zu spüren. Bis zu einem gewissen Grad werden jedoch bis jetzt noch die sogenannten „Rules of Engagement“ eingehalten, die dem Prinzip der Symmetrie und Zurückhaltung folgenden Spielregeln zwischen Israel und dem Libanon, die vom Sommer 2006 bis zum Oktober 2023 die Situation an der Grenze bestimmten. Im Rahmen des aktuellen Krieges ist jedoch zu beobachten, dass Angriffe in einem größeren Gebiet erfolgen, dass es häufiger zu Beschuss kommt und weitere Ziele ins Visier genommen werden. Auf libanesischer Seite hat die Hisbollah weder das Interesse noch den Willen, in einen offenen Krieg einzutreten, dessen Ausgang ungewiss wäre. Die Hisbollah folgt dabei ihrer Doktrin der „Einheitsfront“: Sie kämpft, um die Palästinenser zu unterstützen, ist aber bereit, jede Kampfhandlung sofort einzustellen, sobald Israel aufhört, den Gazastreifen anzugreifen. Israel möchte dagegen die Situation verändern, die vor dem Krieg an der Grenze zum Libanon herrschte. Israel will die Streitkräfte der Hisbollah hinter den Fluss Litani zurückdrängen, um damit die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats umzusetzen. Für eine volle Umsetzung dieser Resolution müsste Israel aber auch aufhören, den Luftraum, das Territorium und die Hoheitsgewässer des Libanons zu verletzen, was es nach wie vor tut.
Israel weitet seine Bodenoffensive im Gazastreifen auf Rafah aus, was zu einer Eskalation an der israelisch-libanesischen Grenze führen könnte. Was ist jetzt zu tun?
Israel ist Gefangener seiner angekündigten unrealistischen Ziele: die völlige Vernichtung der Hamas und die Einrichtung einer militärischen Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen auf unbefristete Zeit. Gleichzeitig will es Drittstaaten mit der Verwaltung der Alltagsangelegenheiten in Gaza beauftragen. Das ist nicht nur illegal, sondern auch unrealistisch und wird zukünftig zu weiteren Spannungen und Kriegen führen. Zuallererst muss jedoch ein Waffenstillstand her – und nicht nur befristete Feuerpausen oder Waffenruhen. Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass es wichtig ist, sich nicht auf einen allmählichen Verhandlungsprozess mit offenem Ende einzulassen. Das führt zu nichts – es wäre wie der Bau von Brücken, die nur bis zur Flussmitte reichen. Als Besatzungsmacht könnte Israel jahrelang verhandeln und gleichzeitig seine Besatzung der Palästinensergebiete festigen – wie wir es im Westjordanland erlebt haben. Deshalb müssen wir einen Ansatz verfolgen, den wir Reversed Engineering-Prozess nennen: Alle betroffenen internationalen Mächte verpflichten sich zu klar definierten Verhandlungszielen – zu Zielen, die auf den Grundsätzen und Regeln des Völkerrechts und den relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats beruhen.
Was sind diese Ziele und wie sind sie zu erreichen?
Erstens das Ende der Besatzung der palästinensischen, syrischen und libanesischen Grenzgebiete durch die Umsetzung der relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Zweitens die Einrichtung eines unabhängigen Palästinenserstaats mit Ostjerusalem als Hauptstadt innerhalb der Grenzen von 1967. Und drittens die Sicherheit Israels. All diese Ziele gehören zusammen – eins kann nicht ohne die anderen erreicht werden. Sobald sie erreicht sind, könnte Israel normale Beziehungen zu den arabischen Ländern aufbauen.
Den Konflikt zu verwalten, statt zu versuchen, ihn zu lösen, bedeutet, in zukünftige Spannungen und Kriege zu investieren.
Im März 2002 hat die Arabische Liga auf ihrem Gipfeltreffen in Beirut die Arabische Friedensinitiative verabschiedet. Es ist die realistischste, umfassendste und zukunftsweisendste Friedensinitiative im Interesse aller. Die Verantwortung für den Frieden liegt jedoch bei den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und anderen Mächten, die im Nahen Osten eine Rolle spielen. Den Konflikt zu verwalten, statt zu versuchen, ihn zu lösen, bedeutet, in zukünftige Spannungen und Kriege zu investieren. Denn das lässt zu, dass jede Seite den Konflikt für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren kann.
Würden sich die Hisbollah und ihre Schutzmacht, der Iran, der Initiative anschließen?
Wenn ein ernsthafter Friedenskurs eingeschlagen wird – hin zu einem Frieden, der auf Gerechtigkeit und der Achtung der legitimen Rechte aller betroffenen Seiten basiert, zu einem Frieden, der den Weg für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand für alle eröffnet –, wird es für alle Seiten sehr schwierig, sich einem solchen Bestreben entgegenzustellen. Der Libanon ist ein Gründungsmitglied der Arabischen Liga und setzt sich weiterhin für die Zwei-Staaten-Lösung und einen umfassenden Frieden ein. Solange es noch keine ernsthafte Friedensperspektive gibt und wir noch mitten in einer destruktiven festgefahrenen Situation stecken, erleben Radikalisierungen aller Art eine Blütezeit. Das ist eine Lehre aus der Geschichte, die über den Nahen Osten hinausgeht.
Welche Bedeutung hat es, dass Norwegen, Spanien und Irland Palästina als Staat offiziell anerkannt haben?
Das ist ein wichtiger Anschub und ein Engagement für den Frieden. Europas historische Beziehungen mit seinen „südlichen Nachbarn“ auf der anderen Seite des Mittelmeers gehen mit einer besonderen Verantwortung einher. Die Anerkennung von Palästina als Staat ist ein Schlüsselfaktor für eine umfassende Konfliktlösung. Inzwischen haben 146 Staaten den palästinensischen Staat anerkannt und ich erwarte, dass noch mehr europäische Länder dazukommen.
Was würde eine Zwei-Staaten-Lösung und die Normalisierung der Beziehungen zu Israel für den Libanon bedeuten?
Der Libanon ist seit Ewigkeiten eine Geisel des arabisch-israelischen Konflikts. Ein auf dem Völkerrecht und auf Gerechtigkeit beruhender Frieden würde es uns erlauben, uns auf die notwendigen finanziellen, politischen und wirtschaftlichen Strukturreformen zu konzentrieren. Die wirtschaftliche Lage im Libanon ist desolat. Ein Großteil unserer jungen Menschen, unsere Soft Power, verlässt das Land. Im Libanon und in der Region gibt es ein großes Potenzial für eine multidimensionale Entwicklung, für eine Zusammenarbeit. Aber solange der Konflikt nicht gelöst ist, bleiben wir Geisel dieses Konflikts und all seiner Folgen. Es ist an der Zeit, dass der Libanon wieder auf die Beine kommt – das ist keine leichte Aufgabe, aber ein unbedingtes Muss.
Aus dem Englischen von Ina Goertz