Interview von Christopher Gatz

In Ihrer aktuellen Studie erforschen Sie, wie ökonomische und demographische Entwicklungen des Wohnortes die politischen Einstellungen der Bewohner beeinflussen. Dabei geht es auch um demokratieskeptische und fremdenfeindliche Einstellungen. Welche Faktoren tragen laut den Ergebnissen Ihrer Studie besonders stark zur Entstehung solcher Einstellungen bei?

Wir wissen schon lange, dass demokratieskeptische und fremdenfeindliche Einstellungen eher entstehen, wenn die wirtschaftliche Lage einer Region prekär ist. Die neueste Forschung zeigt jetzt, dass eine prekäre demografische Entwicklung denselben Effekt hat. Menschen in Regionen, die geprägt sind von hoher Abwanderung und einer starken Alterung, fühlen sich benachteiligt und haben Angst, auf die Verliererseite des Lebens zu geraten – unabhängig von der konkreten wirtschaftlichen Lage. Aus dieser Verunsicherung heraus wirkt Zuwanderung von „Fremden“ bedrohlich; der Eindruck eines Mangels senkt die Bereitschaft, mit „Neuankömmlingen“ zu teilen. Außerdem kann gefühlte Benachteiligung dazu führen, dass Menschen soziale Minderheiten abwerten, um den eigenen Selbstwert wieder aufzubauen. Besonders problematisch ist an diesen Prozessen, dass die betroffenen Regionen auf Zuwanderung von außerhalb Deutschlands eigentlich angewiesen sind.

Als Beispiel und Untersuchungsgegenstand haben Sie das Bundesland Thüringen gewählt. Warum gerade Thüringen?

Aufgrund der Datenverfügbarkeit. In Thüringen erfasst der „Thüringen-Monitor“ jährlich politische Einstellungen der Bevölkerung seit dem Jahr 2000. Er wurde nach einem rechtsextremen Anschlag auf die Erfurter Synagoge ins Leben gerufen. Damit liegt ein Datensatz vor, der groß genug ist, um auch komplexere Fragen zu beantworten. Sachsen und Sachsen-Anhalt haben vergleichbare Instrumente gestartet, der Datenbestand muss aber noch wachsen. Andere Bundesländer haben, soweit ich weiß, keine Projekte dieser Art, insbesondere auch keines der westdeutschen Bundesländer. Vielleicht fühlen diese sich nicht gleichermaßen in der Pflicht, die politische Kultur im Land zu beobachten.

Kann man ähnliche Zusammenhänge auch international beobachten? Die Zustimmung zum Brexit oder die Wahlergebnisse von Donald Trump waren ja besonders in ländlichen Regionen überdurchschnittlich.

Ja, in ganz Europa und Nordamerika sind politische Einstellungen auf dem Land vielerorts radikaler. Das erscheint zunächst vielleicht kontraintuitiv, da wir soziale Benachteiligung oder die Herausforderungen der Zuwanderungsgesellschaft eher mit urbanen Regionen verbinden, während das Land mit seiner homogenen Bevölkerung gegen solche Probleme immun sein sollte. Diese Homogenität ist aber eigentlich eine Form der Benachteiligung, da sie von hoher Abwanderung, hoher Alterung, wenig jüngeren Frauen und einem geringeren Migrantenanteil gekennzeichnet ist. Im ländlichen Ostdeutschland sind diese demografischen Entwicklungen ungewöhnlich stark ausgeprägt, international ohne Entsprechung. Bestimmte Regionen in Süd- und Osteuropa entwickeln sich durch hohe Abwanderung und Urbanisierung ähnlich, etwa Gebiete in Spanien, Portugal, Süditalien, Griechenland, Polen, Lettland; in Großbritannien blutet der Norden Englands durch die Sogkraft Londons demografisch aus. In den USA sind ländliche, touristisch nicht sonderlich beliebte Regionen am ehesten vergleichbar – und zeigen die höchste Zustimmung zur Republikanischen Partei.

In der Politik wird häufig argumentiert, man müsse dafür sorgen, dass sich die ländlichen Regionen nicht „abgehängt“ fühlen, um den Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien zu bekämpfen. Das heißt konkret, dass man wieder verstärkt in Infrastruktur investieren und sich um die Ansiedlung von Unternehmen und Jobs kümmern müsste. Kann diese Strategie Ihrer Meinung nach Erfolg haben?

Sehr ländlich geprägte Regionen profitieren in dem Maß von dieser Strategie, in dem sie an die Zentren infrastrukturell hervorragend angeschlossen sind und so neue Bevölkerung anziehen können. Wenn das nicht der Fall ist, werden diese Maßnahmen wahrscheinlich wenig Wirkung entfalten, da das eigentliche Problem der Bevölkerungsschwund ist. Bevölkerungsschwund senkt die Kaufkraft vor Ort, Angebote für Einkauf und Freizeit verschwinden, Infrastruktur und Verkehrsanbindungen zu größeren Zentren dünnen sich aus. Durch das Fehlen von Kindern und Jugendlichen allein gibt es weniger Sport- und Musikveranstaltungen, Straßenfeste und Fasching verlieren ihre Zielgruppe. Leerstand greift um sich und gibt Menschen das Gefühl, ihre Gemeinschaft zerfällt. Diese Prozesse können ablaufen, obwohl vor Ort Vollbeschäftigung herrscht. Den Bäcker hält man nicht im Ort mit Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

Der Politologe Ivan Krastev vertritt in seinem Essay „Europadämmerung“ unter anderem die These, dass es nicht nur die Frustration über subjektiv empfundene Benachteiligungen und Abstiegsängste ist, die sich durch Fremdenfeindlichkeit entlädt. Vielmehr sei es die „Angst vorm Aussterben“, aufgrund derer sich Menschen bei ungünstiger demografischer Entwicklung gegen den Zuzug von Fremden wenden. Man traue sich angesichts der eigenen Schwäche schlicht nicht zu, andere Kulturen zu integrieren. Wie würden sie vor dem Hintergrund Ihrer Studie diese These bewerten?

Generell wendet sich die Forschung zusehends von ökonomischen Erklärungen ab. Auch in Thüringen erklärt die objektive wirtschaftliche Lage immer weniger. Die gefühlte Benachteiligung und die Abstiegsängste, die trotzdem viele Menschen dort haben, sind stattdessen, so meine Ergebnisse, zunehmend auf demografische Entwicklungen zurückzuführen. Angst, durch Zuwanderung verdrängt zu werden, ist im Gegensatz dazu ein historisches, rassistisches Ideologem, keine neue Diagnose. Neben rechten Organisationen in Europa propagiert auch die Alt-right in den USA diese Idee. Das Ideologem hat eventuell mehr Zugkraft im Kontext alternder, schrumpfender Gesellschaften. Menschen, die in Regionen leben, die besonders von der Last des demografischen Wandels betroffen sind, sind dafür womöglich empfänglicher, eben weil sie verunsichert sind über ihren sozialen Status.