Vor kurzem haben Sie den syrischen Außenminister Walid al-Muallem in Damaskus getroffen. Sind Sie enttäuscht darüber, dass er Ihren Vorschlag einer Selbstverwaltung für den östlichen Teil Aleppos abgelehnt hat?

Selbstverständlich bin ich enttäuscht. Es geht darum, dass die Zivilisten im Osten Aleppos nicht einer Konfliktbeendigung zum Opfer fallen dürfen. Das habe ich gegenüber der syrischen Seite zum Ausdruck gebracht und werde dies weiterhin tun. Die syrische Regierung war nicht damit einverstanden, dass ich eine besondere Ausnahmeregelung für Aleppo erreichen wollte. Ich bin der Ansicht, in Aleppo darf nicht das gleiche geschehen wie in anderen Städten, etwa in Homs, das monatelang bombardiert wurde. Am Ende waren die Menschen völlig erschöpft und gerade noch in der Lage, sich nach Monaten der Belagerung auf den eigenen Beinen aus der Stadt zu schleppen.

Der Krieg in Syrien dauert nun bereits fünf Jahre. Er hat fast eine halbe Million Menschenleben gekostet und fast fünf Millionen Syrerinnen und Syrer haben Zuflucht in Nachbarstaaten oder in Europa gesucht. Alle Strategien zur Beendigung der Gewalt sind bislang fehlgeschlagen. Im Gegenteil, die Lage wird immer schlimmer. Warum?

Dafür gibt es sehr viele Gründe. Mein Auftrag wird offiziell und inoffiziell als (fast) „Mission Impossible“ betrachtet. Das ist nicht überraschend, betrachtet man die einzigartige Komplexität des Konflikts. Denken Sie nur daran, wie er sich entwickelt hat: Alles begann mit einer Revolte, die zunächst von der Zivilgesellschaft ausging und friedlich war. Dieser folgte eine militärische Reaktion, die wiederum eine gegen das Militär gerichtete Revolte auslöste. Daraufhin kam es zu einem landesweiten Aufstand und de facto zu einem Bürgerkrieg. Durch die Beteiligung von regionalen Staaten, zum Beispiel Iran, Saudi-Arabien, Türkei und Katar, wurde der Konflikt auch zunehmend zum Stellvertreterkrieg.

Es ist sehr schwierig, alle 98 oppositionellen Gruppen zusammenzubringen und zu erreichen, dass sie mit einer Stimme sprechen.

Schließlich kam mit der Beteiligung der USA und Russlands noch ein geopolitischer Aspekt hinzu. Beide Staaten sind Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die – zumindest früher – nicht nur nicht zusammengearbeitet haben, sondern völlig unterschiedliche Positionen vertraten. Zu all diesen Faktoren kommt die Terrororganisation „Islamische Staat“‘ (IS) als weiterer Akteur hinzu. Diese hat zuvor noch in keinem Konflikt eine Rolle gespielt und tut dies heute lediglich noch in Irak. Wenn Sie sich all dies vor Augen führen, erkennen Sie, wie kompliziert die Lage ist. Das die Opposition nicht einheitlich auftritt, sondern aus höchst unterschiedlichen Gruppen besteht, verschärft die Komplexität zusätzlich. Es ist sehr schwierig, alle oppositionellen Gruppen zusammenzubringen und zu erreichen, dass sie mit einer Stimme sprechen. Es gibt momentan 98 bewaffnete Gruppen in Syrien. Allein wenn Sie versuchen, eine einfache Waffenruhe zu erreichen, müssen Sie all diese Akteure berücksichtigen.

Sie haben in der Vergangenheit bereits in 19 Konflikten vermittelt. Würden Sie sagen, dass die Strategien zur Konfliktlösung an der einzigartigen Komplexität scheitern?

Die Komplexität ist einzigartig und für das Scheitern mitverantwortlich. Da ich Arzt werden wollte, als ich noch sehr jung war, verwende ich beim Konfliktmanagement manchmal eine medizinische Analogie. In der Medizin muss eine Krankheit so früh wie möglich behandelt werden, denn sonst verschlimmert sie sich, wird sehr komplex und es kommen zusätzliche „opportunistische Mikroben“ hinzu. In diesem Fall war es der IS. In diesem grausamen Krieg ist bislang jede einzelne Regel des humanitären Völkerrechts missachtet worden, und es gibt Angriffe auf alles und jeden: Medizinerinnen und Mediziner, Pflegepersonal, Kinder, Krankenhäuser, Schulen und Moscheen.

Warum hat bisher kein einziger Lösungsansatz, wie beispielsweise Sicherheits- und Flugverbotszonen, humanitäre Korridore, die Eindämmung des Zustroms von Waffen oder lokale Waffenruhen, zum Erfolg geführt?

Kommen wir noch einmal auf die medizinische Analyse zurück. Ich habe bereits jede einzelne der von ihnen genannten Strategien herangezogen: Als in Zentralamerika während des Kalten Krieges Bürgerkriege herrschten oder bei den Konflikten in Äthiopien oder in Somalia, nutzten wir häufig Impfungen als Einstieg. Anschließend wurde ein humanitärer Korridor eingerichtet, wir erhielten Zugang für humanitäre Hilfsleistungen und schließlich gab es eine Sicherheitszone, die wir nutzten, um weitere Möglichkeiten zu schaffen.

Unser Vorgehen wird von denjenigen, die am Konflikt in Syrien beteiligt sind, genau beobachtet. Wenn wir beispielsweise den Vorschlag einer medizinischen Evakuierung unterbreiten, werden wir gefragt: Wäre es kompliziert, ungerecht und schwierig, das zu tun? Die Antwort lautet: Nein. Unsere Lastwagen und Krankenwagen stehen bereit, und es geht lediglich um 200 Menschen, die aus dem östlichen Teil Aleppos evakuiert werden sollen. Für Schwierigkeiten sorgt die syrische Regierung, da sie der Meinung ist, dass es nur eine medizinische Evakuierung geben sollte und keine Medikamente, Nahrungsmittelhilfe oder weitere Ärztinnen und Ärzte. Aber auch oppositionelle Gruppen haben die Situation komplizierter gemacht.

Eines Tages wird dieser Krieg unter dem Aspekt beschrieben werden, wie viele „Störenfriede“ sich einmischten.

Es gibt auch eine andere Seite der Medaille: Der amerikanische Außenminister John Kerry und der russische Außenminister Sergej Lawrow haben sehr gut zusammengearbeitet. Ich war an den Gesprächen beteiligt und habe diese beobachtet. Als Russland und die USA am 26. Februar 2016 gemeinsam eine Vereinbarung über eine Waffenruhe erzielten, hat das funktioniert. Für drei Monaten wurden die Kampfhandlungen eingestellt und selbst die 98 bewaffneten Gruppen haben sich daran gehalten. Nach meiner Auffassung ist es auf diese Weise gelungen, fast 11 000 Menschenleben zu retten und es konnten 1,2 Millionen Menschen von humanitären Hilfsleistungen erreicht werden. Leider kamen dann die „Störenfriede“. Eines Tages wird dieser Krieg unter dem Aspekt beschrieben werden, wie viele „Störenfriede“ sich einmischten – das gilt übrigens für beide Seiten.

Was erwarten Sie von der neuen US-Regierung unter Donald Trump?

Ich habe bislang weder den künftigen Präsidenten Donald Trump noch sein Team getroffen. Für den Bereich der auswärtigen Angelegenheiten sind die Personalentscheidungen ja noch nicht getroffen, mit Ausnahme des nationalen Sicherheitsberaters, den ich aus Irak kenne. Ich kann nur das beurteilen, was Donald Trump öffentlich geäußert hat. Er hat sich vor allem auf den Kampf gegen den IS und den Terrorismus konzentriert. Der UN-Standpunkt ist, dass es nur zwei terroristische Organisationen gibt: der IS und die Al-Nusra-Front. Die syrische Regierung erhebt häufig die Behauptung, dass jeder, der mit militärischen Mitteln gegen die Regierung kämpft, ein Terrorist sei. Die USA und Russland stimmen mit dem UN-Standpunkt überein, zumindest im UN-Sicherheitsrat. Wenn der Kampf gegen den IS und den Terrorismus eine Priorität des künftigen amerikanischen Präsidenten ist, würde ich das begrüßen.

Wenn der Kampf gegen den IS und den Terrorismus eine Priorität des künftigen amerikanischen Präsidenten ist, würde ich das begrüßen.

Wir werden einen Punkt ausführlicher mit der neuen US-Regierung erörtern: Wenn man den IS tatsächlich besiegen und nicht nur bekämpfen will, muss man eine politische, inklusive und umfassende Lösung in Syrien und in Irak anstreben. Daesch konnte daraus Nutzen ziehen, dass es vielerorts ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit gibt, ganz besonders in den Sunni-Gemeinschaften. Ohne eine politische Lösung werden allenfalls ein paar Siege errungen und der IS wird wie ein Pilz wieder aus dem Boden sprießen. Wenn Sie zu der medizinischen Analogie zurückkehren wollen, wäre die Bekämpfung des IS ein Antibiotikum. Um den Körper wirklich zu retten, müssen sie allerdings sicherstellen, dass er nicht in Zukunft von anderen Krankheiten befallen wird. Das bedeutet eine politische, inklusive Lösung wie in Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats vom 18. Dezember 2015 vorgesehen.

Könnte die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2017 Gelegenheit bieten, eine weitere Waffenruhe auszuhandeln?

Zu diesem Zeitpunkt wäre Donald Trump bereits als Präsident im Amt, wenn auch noch nicht lange. Aus meiner Sicht ist das ein sehr interessanter Zeitpunkt, um festzustellen, wo wir mit der neuen US-Regierung und ihren Gesprächen mit Russland stehen. Dies ist meiner Meinung nach weiterhin von entscheidender Bedeutung für die Konfliktlösung in Syrien. Russland dürfte kaum ein Interesse daran haben, in den nächsten Jahren weiter in den Krieg in Syrien verstrickt zu sein, geschweige denn, sich am Wiederaufbau Syriens finanziell zu beteiligen. Ich sehe also einen gewissen Spielraum und es könnte sein, dass von der Münchner Konferenz ersten Signale in diese Richtung ausgehen.

 

Das Interview fand am 22. November 2016 am Rande der Verleihung der Dag-Hammarskjöld-Ehrenmedaille der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) in Berlin statt. Die Fragen stellten Anja Papenfuß (ipg-journal) und Sylvia Schwab (VEREINTE NATIONEN). Die ungekürzte Fassung des Interviews erscheint in Heft 6/2016 von VEREINTE NATIONEN.