Was ist ISIS: Terrortruppe oder Breitenbewegung? Inwiefern genießt die Organisation die Unterstützung der sunnitischen Gemeinschaft im Irak?
Die Gruppierung genießt wegen ihrer Anti-Maliki-Agenda vor allem Unterstützung aus den Reihen der sunnitischen Gemeinschaft. Das ist auch der kleinste gemeinsame Nenner aller sunnitischen Gruppen und Parteien im Irak. Es ist momentan aber nicht ausgemacht, wie lange diese Unterstützung im derzeitigen Ausmaß anhält. Die Kräfte, die sich heute an der sogenannten „sunnitischen Revolte“ beteiligen, sind zu gewissen Teilen mit denjenigen deckungsgleich, die sich 2005/2006 mit amerikanischer Hilfe in den sogenannten Erweckungsräten gegen al-Qaida zusammengeschlossen hatten. Diese Stammesverbände konkurrierten damals mit al-Qaida um ökonomische Ressourcen und sozialen Einfluss. Und an dieser Konkurrenzsituation hat sich grundlegend nichts geändert.
Obwohl ISIS versucht, ihre Basis in der Bevölkerung auch mit Hilfe geistlicher Führer zu erweitern, hat sie keine Zweifel daran gelassen, dass allein ihre Vorstellungen von Religionsausübung legitim seien.
Deshalb lässt sich das Verhältnis von ISIS zu den sunnitischen Geistlichen ganz ähnlich charakterisieren. Obwohl ISIS versucht, ihre Basis in der Bevölkerung auch mit Hilfe geistlicher Führer zu erweitern, hat sie keine Zweifel daran gelassen, dass allein ihre Vorstellungen von Religionsausübung legitim seien. Zusätzlich versucht ISIS, durch das Einrichten einer eigenen religiösen Gerichtsbarkeit die Aufgaben lokaler Geistlicher zu ersetzen. Faktisch besteht deshalb auch ein Konkurrenzverhältnis zwischen ISIS und sunnitischen Geistlichen auf lokaler und nationaler Ebene. Das ist durchaus von Ambivalenzen geprägt. Denn beide Seiten profitieren von der jeweils anderen, stimmen aber ideologisch oft nicht überein. Zugleich aber sind sunnitische Geistliche mit dem Dilemma konfrontiert, dass die temporären Bündnisse, die momentan unter der schwarzen Flagge bestehen, den weitgehenden Ausschluss sunnitischer Kräfte vom politischen Prozess revidieren könnten.
In Syrien ist Konkurrenz zwischen sunnitischen Oppositionsgruppen längst zu militärischen Auseinandersetzungen eskaliert. Ist das auch im Irak zu erwarten?
Wie das Beispiel der sog. „Erweckungsräte“ in den Jahren 2005-2006 gezeigt hat, ist vor allem die Konkurrenz zwischen sunnitischen Stammesverbänden und Jihadisten um ökonomische Ressourcen und sozialen Einfluss ein entscheidender Faktor dafür. Sollten diese Gruppen, die momentan zum Teil auf der Seite der Jihadisten kämpfen, mit ihnen nicht zu einer Einigung über die Verteilung der Ressourcen gelangen und zusätzlich Unterstützung in Form von Geld und Waffen durch z.B. westliche Staaten erhalten, sind militärische Auseinandersetzungen keinesfalls ausgeschlossen. Mit Blick auf die fluiden Verhältnisse ist es jedoch zum jetzigen Zeitpunkt für konkrete Prognosen zu früh.
Ist eine Einheitsregierung in Bagdad ein probates Mittel, um der Bewegung Unterstützung zu entziehen? Darf der schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki dieser angehören?
Das kann durchaus ein probates Mittel sein. Es geht darum, die „sunnitische Revolte“ in eine Institutionsform zu überführen, die allen Bevölkerungsgruppen und politischen Richtungen eine Partizipation am politischen Entscheidungsprozess in Aussicht stellt. Da Premier Maliki sich einer solchen Einheitsregierung jedoch zu verschließen scheint, bleibt fraglich, ob er persönlich daran teilnehmen wird. Wesentlich für eine dahingehende Entscheidung dürften die Verhandlungen mit seiner eigenen Partei sowie der Druck sein, der aus dieser Richtung auf ihn aufgebaut wird. Zum anderen ist mit Blick auf seine bisherige Amtszeit zweifelhaft, ob seine Politik nicht der Idee einer Einheitsregierung entgegensteht. Zudem ist eines der drängendsten Probleme auf politischer Ebene bisher nicht gelöst und wird auch durch die Bildung einer Einheitsregierung nicht gelöst werden: Die Organisation des politischen Entscheidungsprozesses entlang konfessioneller und ethnischer Linien. Die Verankerung dieses Schemas in der irakischen Verfassung ist wesentliche Ursache für den bis heute andauernden Konflikt und den politischen Stillstand in Bagdad. Sie erhebt konfessionelle und ethnische Identitätsmarker anstelle von politischen Ideologien zur Basis politischer Entscheidungen. Und zwar auf allen Ebenen.
Es geht darum, die „sunnitische Revolte“ in eine Institutionsform zu überführen, die allen Bevölkerungsgruppen und politischen Richtungen eine Partizipation am politischen Entscheidungsprozess in Aussicht stellt.
Die USA haben den Gebrauch von Bodentruppen bislang kategorisch ausgeschlossen. Wie wahrscheinlich ist der Einsatz von Luftschlägen? Und wären diese zielführend?
Ich halte den Einsatz von Luftschlägen in begrenztem Maß für durchaus wahrscheinlich, da sie der US-Regierung bereits seit Beginn des Afghanistan-Krieges als probates Mittel erscheinen. Über die Bedingungen, die dafür gegeben sein müssen, lässt sich derzeit nur spekulieren. Es ist jedoch vorstellbar, dass Luftangriffe als unterstützendes Mittel für eine Offensive der irakischen Armee oder schiitischer Milizen eingesetzt werden, um akute Kampfhandlungen zu beeinflussen.
Wie kann ISIS politisch gestoppt werden? Ist dies ohne den Einsatz von Bodentruppen überhaupt möglich?
Ja, das kann durchaus ohne den Einsatz von Bodentruppen gelingen. Denn entscheidend ist auf allen Ebenen die Entkoppelung konfessioneller und ethnischer Identitätsmarker vom politischen Organisations- und Entscheidungsprozess. Das kann zur Defragmentierung der politischen Landschaft führen. Und die ist unerlässlich, um ein Vertrauensverhältnis innerhalb der politischen Klasse herzustellen. In engem Zusammenhang damit steht ein tiefes Misstrauen weiter Bevölkerungsteile gegenüber einer Regierung, der es weder gelingt, einen breiten parlamentarischen Konsens zu wichtigen Angelegenheiten von nationaler Bedeutung herzustellen, noch die elementaren Grundbedürfnisse in vielen Regionen zu decken. Dem Extremismus kann nur der Nährboden entzogen werden, wenn ernsthafte Alternativen zur Verfügung stehen. Die Fragen nach einer föderalen Struktur der irakischen Republik, einer Reform der Verfassung und der De-Baathifizierungs-Regelungen sind hier entscheidende Faktoren. Aber auch die mittlerweile etablierten territorialen Trennungen der Ethnien und Konfessionen durch Vertreibungen und Fluchtwellen der letzten elf Jahre bedürfen einer dringenden Lösung.
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Basta