Die Fragen stellte Anja Wehler-Schöck.

Nach der Ära Trump waren die Erwartungen an einen Präsidenten Biden in Deutschland und Europa sehr hoch. Sie wurden prompt enttäuscht, auch mit Blick auf die zwei gewichtigen Alleingänge der USA in den letzten Wochen. Wie steht es acht Monate nach Bidens Amtsübernahme um das transatlantische Verhältnis?

Ich denke, dass zumindest die Europäer beginnen, das Verhältnis realistischer zu sehen. „America is back“, das war der berühmte Satz von Joe Biden, mit dem aus seiner Sicht ausgedrückt werden sollte: Amerika ist zurück in der Welt und will eine politische Führerschaft gegen das Fortschreiten der autoritären Staaten übernehmen. In Europa ist das missverstanden worden, als sei sozusagen das alte Amerika zurück, das weiterhin überall auf der Welt versucht, die liberale Weltordnung aufrechtzuerhalten, und dass wieder eine Partnerschaft entsteht, wie es sie siebzig Jahre lang zuvor gab. Das war von Anfang an ein großes Missverständnis, denn Biden ist der erste Präsident, der aus den Reden seiner Vorgänger vom „pivot to Asia“ die Konsequenz zieht und das wirklich umsetzt.

Bedeutet das auch eine dauerhafte Abkehr der USA von ihrer Interventionspolitik?

Es ist schon vorher klar geworden, dass es in den Vereinigten Staaten über alle Parteien hinweg eine große Müdigkeit über diese weltweit stattfindenden Interventionen gibt. „Stop the Endless Wars“ wurde zuerst als Wahlkampfslogan von Bernie Sanders geprägt – nicht etwa von Donald Trump. Die Amerikaner werden einfach auch ihre militärischen Kräfte konzentrieren müssen. Sie sind ökonomisch nicht mehr die dominierende Kraft in der Welt. Sie haben hier mit China einen gewichtigen Konkurrenten bekommen. Das bedeutet auch, dass sie nicht über endlose Ressourcen verfügen, um sich militärisch überall auf der Welt zu engagieren. Ihr künftiger Fokus wird eher der Indo-Pazifik sein als Afrika, Nahost oder Europa.

Biden ist der erste Präsident, der aus den Reden seiner Vorgänger vom „pivot to Asia“ die Konsequenz zieht und das wirklich umsetzt.

Das Verhältnis der USA zu China ist in den letzten Jahren deutlich konfrontativer geworden. Droht ein neuer „Kalter Krieg“?

Der Vergleich mit dem „Kalten Krieg“ hinkt etwas, weil dieser ja dadurch gekennzeichnet war, dass wir eine militärische Konfrontation hatten, aber ökonomisch und technologisch weit überlegen waren. Das ist mit China nicht der Fall. Wir sind in Teilen gleichauf oder sogar unterlegen. China ist eine Art „frenemy“, also politischer Gegner auf der einen Seite und ökonomischer Partner auf der anderen. Wenn man genau hinschaut, gilt das für die USA ebenso, denn auch dort sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu China ja beachtlich. Selbst wenn die Rhetorik in den USA nun härter ist und die Konfrontationslinien stärker hervortreten: Letztendlich sind die Vereinigten Staaten auf ein wirtschaftlich funktionierendes China angewiesen, und andersherum braucht auch China prosperierende Vereinigte Staaten. Beide Länder wären unmittelbar davon betroffen, wenn der andere in größere Schwierigkeiten käme. Deswegen zögere ich, den Begriff „Kalter Krieg“ zu verwenden. Aber dass es zu einer Zuspitzung kommen kann, steht außer Zweifel. Das wird zum Beispiel davon abhängen, ob die USA bei ihrer Ein-China-Politik bleiben – was aus meiner Sicht vernünftig wäre, um die Balance in Taiwan zu halten. Würden die Amerikaner Taiwan als unabhängigen Staat anerkennen, dann könnte der Konflikt eskalieren.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das neu ausgerufene AUKUS-Bündnis?

Die Sachentscheidung ist aus Sicht der Australier nachvollziehbar. Die französischen U-Boote wären nach dem Jahr 2030 mit einer Dieseltechnologie vom Stapel gelaufen. Damit in dieser Region unterwegs zu sein heißt, den chinesischen Seestreitkräften stark unterlegen zu sein. Das Umsatteln auf die Atom-U-Boote aus den USA bzw. aus dem Vereinigten Königreich zeigt, dass die Nervosität der Australier mit Blick auf China und seine militärischen Fähigkeiten gestiegen ist. Die Art, wie diese Entscheidung kommuniziert wurde, ist natürlich ein weiterer Beleg dafür – und Wasser auf die Mühlen der Kritiker des „alten Westens“ –, dass wir zu gar nichts mehr in der Lage sind, nicht einmal mehr dazu, miteinander solche Dinge zu besprechen. Das war schon ein herber Schlag. Es zeigt aber auch, dass dieses Format mit Australien und auch Quad, wo noch Indien und Japan mit dabei sind, für die USA inzwischen wichtiger geworden sind als die NATO.

Die eigentliche Frage, die sich damit verbindet, ist aber, ob wir jetzt einen Wettlauf um nukleare Antriebe in der Region erleben und ob dies dazu führt, dass mit dieser Technik auch regional Fähigkeiten zur Urananreicherung und damit zum Bau von Nuklearwaffen entstehen. Australien hat erklärt, dass es diesen Weg ausdrücklich nicht gehen wird. Aber ob das auch für alle anderen Staaten in der Region gilt, ist noch nicht abzusehen. Die Proliferation atomarer Waffentechnik ist ein rasant wachsendes Risiko.

China ist eine Art „frenemy“, also politischer Gegner auf der einen Seite und ökonomischer Partner auf der anderen.

Welche Schlüsse müssen wir Europäer daraus ziehen?

Man muss sich erstmal darüber klar werden, dass das ein Stück Normalität ist, was wir erleben. Erstens ist es normal, dass ein Land wie China sich nicht damit zufriedengeben will, der billige Jakob für seine früheren Kolonialstaaten zu sein. Ein Land mit 1,4 Milliarden Menschen will auch Technologieexporteur sein und in der Welt etwas zu sagen haben. Das ist erstmal etwas Normales. Es war eher nicht normal, dass die Vereinigten Staaten die Welt in den letzten dreißig Jahren quasi unipolar bestimmt haben. Das ist für uns Europäer sehr bequem gewesen – aber wenn man die Machtverhältnisse in der Welt betrachtet, eher die Ausnahme.

Zweitens müssen wir uns fragen, ob wir es schaffen, mit China in wesentlichen Sicherheitsfragen Lösungen zu finden, die uns und den Westen vor einer militärischen Konfrontation bewahren. Zentrale Themen sind hier die Freiheit der Seeschifffahrt in der Südchinesischen See und Taiwan. Aus meiner Sicht stehen die Chancen gut, weil am Ende keine der beiden Seiten ein Interesse hat, in eine echte militärische Konfrontation zu geraten. Wirtschaftlich wird es einen harten Wettbewerb geben, aber eben einen um die Frage „Wer ist Erster?“ und nicht darum, ob man den anderen in die Knie zwingen kann.

Der dritte Punkt ist: Gerade die Deutschen reden unheimlich viel über Klimaschutz. Da wird man ohne China nicht weiterkommen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit China auf allen Gebieten im Konflikt liegen, aber im Klimaschutz gut zusammenarbeiten, ist gleich null. Deswegen werden wir Wege finden müssen, wie wir mit diesem großen Land, das so ganz anders ist als wir und das Einfluss in der Welt gewinnen will, kooperieren können. Sonst bekommen wir weder die Pandemie noch den Klimaschutz noch die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen unter Kontrolle.

Werfen wir einen Blick auf den Truppenabzug aus Afghanistan. Nach zwanzig Jahren Einsatz triumphieren dort nun wieder die Taliban. Was bedeutet das für die künftige Ausrichtung unserer wertegeleiteten Außenpolitik?

Wir Deutschen neigen ja dazu, gleich immer alles von einem Extrem ins andere zu kippen. Dass eine Demokratie Werte hat, die sie leiten sollen, halte ich erstmal für etwas Selbstverständliches. Die Frage ist, ob man mittels militärischer Intervention die eigenen Werte, die wir für universell halten – Menschenrechte, Freiheitsrechte, Demokratie –, anderen aufzwingen kann. Das ist jetzt nach dem Irak, Libyen, Syrien wieder schiefgegangen. Eigentlich hat es nur zweimal richtig gut funktioniert – nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland und in Japan – sowie einigermaßen in Jugoslawien. Alle anderen Versuche des humanitären Interventionismus sind gescheitert.

Ich bin überzeugt: Die Ära humanitärer Interventionen, die auch den Einsatz von Militär beinhaltet oder sogar vorausgesetzt hat, ist mit diesen Erfahrungen in Afghanistan vorbei. Militär ist wieder das, was es immer war. Es dient nationalen Interessen – entweder der eigenen Verteidigung oder dem Schutz von befreundeten Staaten. Aber Militär dient nicht zur Durchsetzung von Moral und von Werten. Wir haben erleben müssen, dass die sogenannte wertegeleitete Außenpolitik eine genauso große Blutspur hinterlassen kann wie die vielgescholtene Realpolitik. Das heißt natürlich nicht, dass es einem egal sein soll, wie die Welt funktioniert, und dass man die Augen verschließt vor großen Ungerechtigkeiten. Aber wir werden als Westen unsere Ziele wesentlich demütiger formulieren müssen als wir das in der Vergangenheit getan haben. Das ist die Lehre, die man aus Afghanistan ziehen kann.

Wir haben erleben müssen, dass die sogenannte wertegeleitete Außenpolitik eine genauso große Blutspur hinterlassen kann wie die vielgescholtene Realpolitik.

Was bedeutet das konkret für künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr?

Angesichts der Art und Weise, wie die Amerikaner aus Afghanistan rausgegangen sind, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass es im Deutschen Bundestag in den nächsten Jahren Mehrheiten geben wird, die für neue Bundeswehreinsätze stimmen. Eine der großen Fehlleistungen der Amerikaner in Bezug auf Afghanistan ist, dass sie durch ihr Vorgehen, in Europa – speziell in Deutschland – die politische Unterstützung für solche Militäreinsätze auf lange Zeit zwar nicht komplett zerstört, aber doch grundsätzlich in Frage gestellt haben.

Welche Folgen sehen Sie für die NATO?

Die NATO als territoriale Verteidigungsallianz ist davon erstmal nicht betroffen. Die Ära, in der die NATO an Einsätzen beteiligt wird, bei denen man mehr will, als einen Krieg oder Terroristen stoppen, ist vorbei. Die NATO wird die Frage klären müssen, wofür sie da ist. Die Polen und die Balten haben darauf sofort eine Antwort – mit Blick auf das, was in der Ukraine und in Russland passiert. Die Deutschen neigen dazu, das etwas zu verharmlosen. Ich bin aber überzeugt, dass die NATO nach wie vor einen wesentlichen Pfeiler unserer Sicherheit bildet – auch mit ihrem Nuklearpotenzial. Der SPD fällt das immer ein bisschen schwer, sich dazu zu bekennen.

Wie wollen wir uns über den bewaffneten Einsatz europäischer Truppen einigen, wenn wir nicht mal dazu in der Lage sind, ein Minifreihandelsabkommen zu ratifizieren?

Was halten Sie von Josep Borrells Idee einer europäischen Eingreiftruppe?

Das hört sich immer so wunderbar an. Wer will denn da nein sagen? Aber die gemeinsamen europäischen Fähigkeiten, über die wir bereits verfügen, haben wir bislang noch nie zum Einsatz gebracht. Wir üben fleißig, sind aber nie im Einsatz. Wenn im Persischen Golf etwas passiert, sind wir als Europäer nicht einmal dazu in der Lage, eine gemeinsame Beobachtermission hinzuschicken. Das müssen dann die Mitgliedsstaaten alleine machen.

Und warum fangen wir eigentlich immer bei der schwierigsten Aufgabe an, dass wir Europa weiter entwickeln müssen, und klären nicht mal die kleinen Dinge? Die europäische Politik will bei jedem Mastersturnier mitgolfen und schafft nicht mal Minigolf. Seit fünf Jahren liegt im Deutschen Bundestag ein fertig verhandeltes Freihandelsabkommen mit Kanada: CETA. Und wir ratifizieren das nicht! Wie wollen wir uns über den bewaffneten Einsatz europäischer Truppen einigen, wenn wir nicht mal dazu in der Lage sind, ein Minifreihandelsabkommen mit einem Staat zu ratifizieren, der europäischer ist als mancher EU-Mitgliedsstaat?

Woran scheitert es?

Sehr häufig an der deutschen Bauchnabelschau. Unter anderem wird das Vorurteil gepflegt, durch dieses Abkommen mit Kanada komme der globale Kapitalismus und zerstöre die soziale Marktwirtschaft und die ökologischen Rahmenbedingungen in Deutschland. Das ist völliger Unfug. Es fehlt an politischem Führungswillen. Was soll der Rest Europas davon halten, dass ein Land wie Deutschland, dem es wirtschaftlich gut geht, mal eben so ein Abkommen stoppt, von dem viele andere profitieren würden? Sie denken vermutlich: Die Deutschen sind so dick und fett, die können es sich sogar erlauben, auf Freihandel zu verzichten. Wir sind zu selbstbezogen in der Europäischen Union. Deswegen ist dieses Gerede um eine europäische Armee für mich schwer zu ertragen, wenn man sieht, wie wenig wir in viel einfacheren Bereichen zustande kriegen.

Wir sind die Gewinner Europas. Man muss aufhören, den Menschen das Gegenteil zu erzählen und bereit sein, mehr in Europa zu investieren.

Wie bewerten Sie den Zusammenhalt in der EU? Kann man noch von einer Wertegemeinschaft sprechen, wenn man zum Beispiel auf die Auseinandersetzung mit Polen und Ungarn blickt?

In Deutschland stellt man sich immer gerne gleich die Vereinigten Staaten von Europa vor. Man vergisst dabei, dass der Kampf um eine eigene Nation, zum Beispiel in Polen, identisch war mit zweihundert Jahren Kampf um Freiheit. Was für uns bedrohlich klingt – die Nation, der Nationalismus –, ist dort ein Freiheitssymbol. Solange wir nicht versuchen zu verstehen, warum der andere eigentlich anders ist als wir, sondern uns gegenseitig immer nur vorhalten, was der andere aus unserer Sicht alles falsch macht, kommen wir nicht weiter. Man muss sich in die Lage des anderen versetzen. Das bedeutet nicht, dass man alles gutheißt oder rechtfertigt. Mein Eindruck ist, dass diese Bereitschaft, die Unterschiede zu erkennen und zu verstehen, eher gesunken ist.

Mehr Sorgen als Polen und Ungarn macht mir, dass wir das, was wir leicht umsetzen könnten, nicht vorantreiben, zum Beispiel die weitere Integration des Binnenmarktes und die Kapitalmarktunion. Das sind wesentliche Schritte auf dem Weg, ökonomisch souverän zu werden. Dazu zählt auch, den Euro zu einer internationalen Leitwährung zu entwickeln, was bedeutet, dass man ihn gemeinschaftlich verbürgen muss. Das sind Schritte zur Souveränität Europas, die wir nicht gehen. Sie scheitern nicht an Polen oder Ungarn, sondern in großen Teilen an Deutschland.

Es ist für mich eine der größten Aufgaben Deutschlands, diese Spaltung Europas in den nächsten Jahren zu verhindern.

Was muss sich in Deutschland ändern, damit die EU in diesen Punkten vorankommt?

Zunächst muss sich das Narrativ ändern, dass Deutschland Nettozahler sei. Deutschland profitiert von der sogenannten „Transferunion“. Wenn man Europameister im Export ist, dann verkauft man anderen Ländern mehr als man von ihnen kauft. Damit fließt also auch mehr Geld ins eigene Land. Das heißt für mich: Wir sind die Gewinner Europas. Man muss aufhören, den Menschen das Gegenteil zu erzählen und bereit sein, mehr in Europa zu investieren. Das bedeutet auch, den Euro weiterzuentwickeln und nicht immer die EZB als last man standing vors Loch zu schieben. Tun wir das nicht und die wirtschaftliche Entwicklung läuft in Europa weiter auseinander, dann werden ausländische Mächte versuchen einzudringen und sich das zunutze zu machen. Das sehen wir mit China in Griechenland und Ungarn und teilweise auch in Italien. Und natürlich Russland bei den Anti-Europäern. Auch bei Trump war das zu beobachten, mit seinem Versuch die Osteuropäer an sich zu binden. Je uneiniger wir vor allem in ökonomischer Hinsicht sind, desto leichter wird es für andere, uns zu spalten. Es ist für mich eine der größten Aufgaben Deutschlands, diese Spaltung Europas in den nächsten Jahren zu verhindern.