Die Fragen stellten Joscha Wendland und Nikolaos Gavalakis.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, hat Haftbefehle gegen drei Hamas-Führer sowie gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant beantragt. Sie werden unterschiedlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt. Was bedeutet dies und wie geht es nun weiter?

Das ist ein sehr bedeutsamer erster Schritt, um auch Verantwortliche aus Politik und Militär wegen schwerster Menschheitsverbrechen vor Gericht stellen zu können. Die Behörde des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs ermittelt seit längerer Zeit auch in Israel und Gaza mit Unterstützung hochqualifizierter externer Völkerrechts-Experten. Beim Chefankläger selbst leitet Brenda J. Hollis, eine hervorragende US-Anwältin mit langer Militärerfahrung, die Ermittlungen. Sie macht das hier genauso qualifiziert wie im Ermittlungsverfahren gegen Präsident Putin, das ja zu einem Haftbefehl des Gerichts geführt hat.

Der Chefankläger hat seine Ermittlungsergebnisse der zuständigen richterlichen Vorprüfungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs zugeleitet. Die ist mit Richterpersönlichkeiten besetzt, die alle vorgelegten Beweise sorgfältig prüfen und sie dann in voller Unabhängigkeit gemäß den geltenden Strafvorschriften bewerten, bevor sie über den Erlass eines Haftbefehls entscheiden. Das Verfahren entspricht also dem, das auch beim Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten angewandt wurde.

Warum bedarf es des Internationalen Strafgerichtshofs? Ist für ein mögliches Verfahren nicht die israelische Justiz zuständig?

Natürlich muss die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs geklärt sein. Dazu gehört in diesem Fall, ob – bei Bestätigung der schrecklichen Verbrechensvorwürfe – auch der israelische Premierminister und sein Verteidigungsminister gegebenenfalls vor israelischen Gerichten angeklagt und von ihnen verurteilt würden. Ganz ausgeschlossen ist das nicht, trotz Netanjahus Versuchen zur Stärkung seiner politischen Macht durch die Schwächung der Justiz.

Wir alle haben die riesigen Protestdemonstrationen der mutigen israelischen Bürgerinnen und Bürger gegen diese Vorhaben noch vor Augen. Bis heute ist die „Schlacht um die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung“ in Israel noch nicht zu Ende. Das alles werden die Richter der zuständigen Vorprüfungskammer würdigen und bewerten müssen.

Der Antrag des Chefanklägers betrifft die Führung der Hamas sowie die Führungsriege Israels. Kommt es dadurch nicht zu einer ungehörigen Gleichsetzung zwischen Mitgliedern einer durch die EU terrorgelisteten Organisation und gewählten Vertretern einer demokratischen Regierung?

Die Behauptung der Gleichsetzung ist ein unzutreffender, ein politischer Vorwurf – und um Politik geht es beim Internationalen Strafgerichtshof nicht. Dort geht es nachprüfbar um Internationales Recht. Das sollten alle – auch Regierungsstatements – berücksichtigen, es sei denn, sie wollten den Internationalen Strafgerichtshof schwächen.

Die Behauptung der Gleichsetzung ist ein unzutreffender, ein politischer Vorwurf.

Der Chefankläger hat selbstverständlich inhaltlich verschiedene Anträge mit unterschiedlichen Begründungen vorgelegt, die sich auf unterschiedliche Sachverhalte und Verbrechensvorwürfe beziehen. Bei diesen ist eine rechtliche Gleichsetzung zwischen den Führern der Hamas, also einer hochorganisierten nichtstaatlichen Terror-Gruppe, und den gewählten Amtspersönlichkeiten Israels nicht erkennbar. Manche Kommentatoren vertreten offensichtlich die Auffassung, nur Terroristen könnten schwerste Menschheitsverbrechen begehen, nicht aber demokratisch gewählte Amtsträger. Leider zeigen zahlreiche Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, dass das nicht zutrifft.

Da Deutschland den Internationalen Strafgerichtshof anerkennt, müssten Netanjahu und Galant im Falle einer Anklage bei der Einreise theoretisch direkt verhaftet werden. Wie realistisch schätzen Sie dies ein?

Jeder vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl Gesuchte, muss im Fall der Einreise in einen Mitgliedstaat verhaftet werden, weil das Römische Statut klar vorschreibt, dass Haftbefehle von den Mitgliedstaaten zu vollziehen sind. Natürlich gefällt das nicht jeder Regierung, die ihre eigene politische Agenda verfolgt. Bekanntlich hat die Öffentlichkeit bei uns mit Befremden zur Kenntnis genommen, dass die chinesische Regierung den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin kritisiert und seine Immunität gefordert hat, weil dieser ein Amtsträger ist. Es kann aber keine Sonderstellung für Amtsträger geben. Das Römische Statut schließt das aus und wir in Deutschland sollten – ebenso wie rund zwei Drittel der UN-Mitgliedstaaten – den unabhängigen Internationalen Strafgerichtshof aus gutem Grund anerkennen und unterstützen.

Als rechtsstaatliche Demokratie sollten wir uns vor Doppelstandards hüten.

Als rechtsstaatliche Demokratie sollten wir uns außerdem vor Doppelstandards hüten. Wir sollten vielmehr dazu beitragen, den aus politischen Interessen geschürten Argwohn gegen die Qualifikation, die Integrität und die Unabhängigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, den Chefankläger und die Richterinnen und Richter auszuräumen. Der Internationale Strafgerichtshof hat seine hohe Qualifikation und seine Notwendigkeit häufig bewiesen. Es ist ärgerlich, dass unter anderem die USA, Russland, aber auch China und Indien den Gerichtshof als „Gericht für andere, nicht aber für sich selbst“ anerkennen. Das schwächt das Völkerrecht, auf das wir Deutschen ja in besonderem Maße setzen. Bekanntlich hat der Internationale Strafgerichtshof nach mehrfachen Beschlüssen und Empfehlungen der UN-Generalversammlung schon 2021 seine Zuständigkeit für die Verfolgung von Menschheitsverbrechen in Palästina und Gaza anerkannt.

Der Internationale Strafgerichtshof beruht auf dem Römischen Statut von 1998. Dieses wurde damals während Ihrer Zeit als Justizministerin und gegen immensen Druck der US-Amerikaner verabschiedet. Welche Auswirkungen hätte eine Missachtung des Verfahrens von Seiten Deutschlands und anderer Unterzeichnerstaaten auf das internationale Rechtssystem?

In der Tat ist es eine große Enttäuschung, ja ein Ärgernis, dass Staaten wie die USA sich der Mitgliedschaft entziehen und den Internationalen Strafgerichtshof geradezu bekämpfen. Zumal auch sehr gute US-Juristen gerade in der Behörde des Chefanklägers arbeiten. Ich wiederhole es gern: Die Stärkung des Internationalen Rechts und die Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs gehören zusammen. Wir haben in Deutschland nicht nur das Römische Statut ratifiziert, sondern auch das Deutsche Völkerstrafgesetzbuch geschaffen, das heute im Einklang mit dem Römischen Statut den Internationalen Strafgerichtshof in geeigneten Verfahren entlastet. Wir setzen auf Internationales Recht und sollten das auch weiterhin tun. Und diese Unterstützung muss sich immer wieder bewähren.

Der Kampf gegen schwerste Menschheitsverbrechen ist heute wichtiger denn je. Es ist auch höchste Zeit, das Verbot des Angriffskriegs vollständig und auch dann der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs zuzuordnen, wenn „nur“ der überfallene Staat, nicht aber der Aggressor selbst zu den Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs gehört.