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In Meinungsumfragen erklärt ein Großteil der Bundesbürger, politische Meinungen nicht offen ausdrücken zu können. Wie passt die Verrohung der öffentlichen Debatte zu dieser Wahrnehmung?

Es gibt in Deutschland, wie in den meisten westlichen Ländern (nicht in Osteuropa), eine klare liberale Dominanz im öffentlichen Diskurs. Dieser setzt auf individuelle Freiheitsrechte, Gleichheit der Geschlechter und Klimapolitik gegen die globale Erderwärmung. Der Horizont ist kosmopolitisch. Dagegen ist normativ nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil.

Mit der Hegemonie kommt aber nicht selten auch die Hybris. Die Meinungsführer aus den formal hoch gebildeten urbanen Mittelschichten und Eliten reklamieren in ihren Debatten auch die richtige Moral für sich. Es geht nicht mehr um mehr oder weniger, nicht um Debatte, Konsens und Kompromiss. Es geht um Dominanz, um moralisch oder unmoralisch, wahr oder unwahr, richtig oder falsch. Tertium non datur. Das ist die dichotome Welt selbstgerechter Moral. Es geht aber auch um Ausschluss. Der Ausschluss droht nicht nur Rassisten und Fremdenfeinden. Er droht auch all jenen, die nicht die korrekte Begrifflichkeit verwenden, konservativ oder reaktionär argumentieren.

Die Verrohung des öffentlichen Diskurses hat also mindestens zwei Quellen: zuerst und zuvörderst den Rechtspopulismus, der bewusst die sogenannten roten Linien überschreitet, aus Überzeugung oder mit strategischer List. Da hat sich ein rechter Gramscianismus breitgemacht. Die Linksliberalen mit ihrer intransigenten Hybris und ihrer Sehnsucht nach Ausschließung sind die andere Quelle. Beide Lager polarisieren die Debatte. Eine wirklich demokratische Debatte muss aber radikal offen und pluralistisch sein (Laclau; Mouffe; Gramsci selbst) und nicht durch eng gezogene rote Linien nur die ,richtige‘ Moral zulassen.

In welchem Zusammenhang steht dieser Befund zum Erfolg der politischen Extreme?

Ich weigere mich, automatisch von Extremen im Plural zu sprechen. Eine extreme gewaltbereite Linke mag es wohl in der intellektuellen Ödnis der Autonomen geben. Parteiförmig gibt es sie nicht in Deutschland. Die LINKE ist heute keine extreme Partei, wenn sie es überhaupt in der Bundesrepublik jemals war. Das Extreme wird in Deutschland insbesondere von Teilen der AfD-„Eliten“ vertreten, der „Flügel“ und seine außerparlamentarischen Archipele sind hier zuerst zu nennen. Die AfD ist vor allem auch ein Ergebnis der Repräsentationsschwäche der etablierten Parteien. Aber ihr Erfolg wird auch durch die abgehobenen und selbstreferentiellen Diskurse des oberen Gesellschaftsdrittels genährt. Das untere (Bildungs-)Drittel findet sich da nicht wieder und sucht eine ,Voice‘. Die Rechtspopulisten aller Länder offerieren diese.

Ist das Schrumpfen der politischen Mitte als Trend überhaupt noch aufzuhalten?

Das ist nicht so einfach mit der ,Mitte‘. Die Grünen beispielsweise stehen auf der kulturellen Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und chauvinstischem Kommunitarismus (nur eine Variante des Kommunitarismus) gewiss nicht in der Mitte, sondern auf dem kosmopolitischen Pol. Sozioökonomisch haben sie sich stark in die Mitte bewegt. Dort bilden sie die neue, junge bürgerliche Mitte. In gewissem Sinne tummeln sich mit der Merkel-CDU, der SPD, den Grünen und der FDP zu viele Parteien in der Mitte. Das hat die SPD auch (fast) Kopf und Kragen gekostet. In der Mitte sah sie nahezu tatenlos zu, wie sich die LINKE im linken politischen Raum festsetzte, und auf der kosmopolitischen Achse ist sie weniger glaubwürdig als die Grünen. Die Mitte ist nicht zu schwach, sondern im Sinne einer ausgeglicheneren pluralistischen Repräsentation überbevölkert.

Welcher Trend nach meiner Meinung nicht aufzuhalten ist, ist der Niedergang der Volksparteien. Der ist europaweit und säkular.

Wesensmerkmal einer Volkspartei ist der Anspruch, soziale und politische Milieus zu verbinden. Gibt es im internationalen Vergleich Beispiele, wo das noch gelingt?

Kaum, weder in Deutschland noch in Europa. Das hat mit der zweidimensionalen Wettbewerbsstruktur in den westlichen Demokratien zu tun: der sozioökonomischen und der kulturell-sozialmoralischen Dimension. Der PiS in Polen und der Fidesz in Ungarn gelingt dies relativ gut auf der sozioökonomischen Konfliktachse. Auf der kulturellen Achse verbleiben sie im sozialmoralischen Milieu des reaktionären Katholizismus, des Nationalismus und Illiberalismus. Die CDU hierzulande hat noch eine gewisse Attraktivität für die alte bürgerliche Mitte und auch für unterschiedliche soziale Schichten. Die Anziehungskraft erodiert aber sichtbar. Denn das rechte und rechtskonservative Lager erreicht sie kaum noch. Das ist der AfD zur Beute vorgeworfen worden. Die SPD ist in keiner Klasse, keiner Schicht und in keinem Milieu mehr dominant. Nicht nur damit hat die SPD aufgehört, Volkspartei zu sein. Die wütenden Ausfälle mancher führender deutscher Sozialdemokraten auf die dänische Sozialdemokratie, die sich am ehesten noch wieder dem Typus einer traditionellen Mitte-links-Volkspartei nähert, zeigt eine gefährliche Mischung von Intoleranz, Lernunfähigkeit und verrutschter moralischer Hybris.

Und doch bemühen sich Mitte-links-Parteien, ihrem Bedeutungsverlust entgegenzusteuern. Sehen Sie hier international übergreifende programmatische Trends?

Ich erkenne keine übergreifenden Trends. Gegenwärtig erfolgreich sind sehr unterschiedliche sozialdemokratische Parteien. Da sind zunächst die portugiesischen Sozialdemokraten. Sie haben erfolgreich in einer Linkskoalition regiert und die größten sozialen Härten der Euro-Austerität gut abgepuffert. Ihre kleineren Koalitionspartner garantierten eine gewisse kulturelle linke Identität in der Regierung, während der PS sich sozioökonomisch als Anwalt der Unterprivilegierten präsentieren konnte. Die spanischen Sozialisten scheinen sich wieder stärker ihrer linken sozioökonomischen Identität zu erinnern und zeigen in der Flüchtlings- und Klimapolitik ihre progressiven Ambitionen. In der Flüchtlingspolitik tun sie das aber aus einer Position mit einer ziemlich geringen Zahl von Migranten und Flüchtlingen, verglichen mit Deutschland, Schweden oder Österreich.

Dann die dänischen Sozialdemokraten. Sie haben die Grenzen für Flüchtlinge und Asylsuchende dänisch-traditionell stark geschlossen, aber gleichzeitig einen intakten und umverteilenden Sozialstaat erhalten, ja sogar ausgebaut. Stärker als Schweden. Insofern verkörpern sie selbst in Skandinavien noch am stärksten die sozialdemokratische Tradition der Folkhemmet, wie sie in den späten 1930er Jahren in Schweden geboren wurde. Dann die Schweden. Sie haben sich vorsichtig-restriktiv in Flüchtlingsfragen geäußert, nehmen aber eine Vorreiterfunktion in der Klimapolitik, in Geschlechterfragen und weiteren Themen der kulturellen Moderne ein. Unvermeidlich erscheint es mir, dass die Sozialdemokraten aller Länder wieder in der Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik nach links rücken. Zu glauben, man könne die Grünen in postmateriellen Fragen grün überholen, ist falsch und könnte die SPD bald auch die letzten Arbeiterwähler kosten.

Vielerorts experimentieren Parteien auch mit neuen Partizipationsideen. Sehen Sie hier vielversprechende Entwicklungen?

Aus der Debatte über sogenannte demokratische Innovationen können sich heute demokratische Parteien kaum mehr heraushalten. Das reicht von der (alten) Idee der Volksabstimmungen über Bürgerräte, townhall meetings, deliberative mini-publics und die etwas verzweifelte Idee, das altgriechische Losverfahren für das 21. Jahrhundert attraktiv zu machen. Meine Ansicht ist, dass diese, Innovationen‘ bisweilen durchaus für eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie taugen. Ein Ersatz sind sie nicht. Sie müssen aber insbesondere einen Lackmustest bestehen. Sie dürfen nicht sozial selektiv wirken. Das tun die meisten. Es kann als Faustregel der politischen Partizipation gelten, dass je kognitiv anspruchsvoller solche neuen Beteiligungsformen sind, sie umso mehr die unteren (Bildungs-)Schichten ausschließen. Auch wenn das ihre Advokatinnen und Advokaten nicht wollen: Die demokratischen Experimente haben – würden sie massiv umgesetzt – das Zeug dazu, elitäre Demokratien zu schaffen. Noch mehr als sie dies heute schon sind. Aus der gegenwärtigen Zweidrittel-Partizipation drohte dann eine Eindrittel-Demokratie zu werden.

Die Themen, an denen sich gesellschaftliche Spaltungen entzünden, scheinen sich laufend zu wandeln. Wie erklärt sich diese Abfolge?

Das hat etwas mit der Offenheit demokratischer Gesellschaften zu tun. Neue Probleme entstehen oder werden diskursiv konstruiert und in den Vordergrund geschoben. Öffentliche Debatten nutzen sich ab, wenn stets dieselben Themen, Politiken und Problemlösungen angeboten werden. Vor allem neu aufsteigende Parteien müssen neue Themen suchen, wenn die alten schon von den alten Parteien besetzt sind. Die Grünen sind ein Paradebeispiel mit ihrer stark postmaterialistischen Politik. Sie haben diese seit Beginn der 1980er Jahre prominent in die Diskursarenen geschoben. Der nicht zu leugnende Klimawandel passt dann perfekt in das Policy-Portfolio der Grünen und zu ihrer nicht zu bezweifelnden Glaubwürdigkeit in Bezug auf Umweltfragen. Ich bezweifle aber auch, dass dieser Klima-Hype anhalten wird, sollte sich die Lage des global warming nicht weiter dramatisch verschärfen. Also auch die Klimapolitik wird nicht über Jahre hinweg die politischen Diskurse dominieren.

Der deutsch-amerikanische Politökonom Albert O. Hirschman hat die wandelnden Diskursaufmerksamkeiten in der Politik mit einer Pendelbewegung zwischen privater Interessenverfolgung und der Leidenschaft für das Öffentliche, für die res publica, verglichen. Dieser Pendelschlag wird auch im 21. Jahrhundert zu unterschiedlichen Schwerpunkten im öffentlichen Diskurs und in der Politik führen. Aber auch alte Themen können recycelt werden. Das erleben wir in einer Neuauflage des Nationalismus. In diesem Fall folgt die Diskurslogik einer Repräsentationslücke, die die etablierten Eliten offengelassen haben. Wer nicht mehr über den Nationalstaat (im demokratischen) Gewande reden will, darf sich nicht über den Neonationalismus im undemokratischen Gehäuse wundern.

Gerade das Thema Klima scheint derzeit zur Polarisierung beizutragen. Wie könnte für Mitte-links-Parteien hier ein überzeugendes politisches Angebot aussehen?

Das liegt auf der Hand. Die ökologische Dimension der Klimapolitik muss durch eine soziale Lastenverteilung flankiert werden. Die Bepreisung etwa des CO2-Ausstoßes trifft einseitig die unteren Schichten. Die oberen Schichten können die Zusatzbelastung leicht verkraften und würden dann unter Umständen noch mit dem Privileg geringeren Straßen- und Flugverkehrs belohnt. Zu solch einer sozialökologischen Politik gibt es Ansätze in der SPD. Die sollte sie weiter ausbauen. Darüber hinaus ist die Klimapolitik zu internationalisieren. Wenn Deutschland und Skandinavien diese vornehmlich alleine betreiben, ist global nichts gewonnen. Es gilt, China, Indien, die USA, Brasilien und Russland zu überzeugen. Sonst bleibt selbst eine Effektivierung der defizitären deutschen Klimapolitik im Kampf gegen die Erderwärmung wirkungslos. Statt effektiver Politik bliebe wieder einmal nur wenig mehr als das selbstgerechte Klopfen auf die eigene Schulter.

 

Die Fragen stellte die IPG-Redaktion