Die Fragen stellte Claudia Detsch
Lesen Sie diesen Text auch auf Russisch.
Die erste Wahl des Oberbürgermeisters von Istanbul hatte Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu Ende März mit 0,2 Prozent nur knapp vor dem Kandidaten der Regierung gewonnen. Die Wahl wurde ungültig erklärt und Neuwahlen angeordnet. Ging es bei der Wiederholung der Wahl am Sonntag ähnlich knapp zu?
Bei der Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul gewann Ekrem İmamoğlu mit 54,03 Prozent gegenüber dem AKP-Kandidaten Binali Yıldırım, der 45,09 Prozent erhielt. Hatte der Unterschied der Stimmen bei der Wahl vom 31. März 2019 noch bei 13.720 gelegen, so ist er nun auf 777.581 angestiegen. Die Wahlbeteiligung unter den 10,5 Millionen Wahlberechtigten lag mit 84,42 Prozent sehr hoch. Auf andere Kandidaten entfielen 0,88 Prozent der Stimmen. Während das Stimmaufkommen von Yıldırım zurückging, erhielt İmamoğlu mehr als eine halbe Million zusätzliche Stimmen. Von besonderer Bedeutung ist die Verteilung des Stimmaufkommens. In 14 Stadtbezirken, die am 31. März AKP-Bürgermeister wählten, erhielt bei der jetzigen Oberbürgermeisterwahl der CHP-Kandidat die Mehrheit. Während bisher die CHP für die in diesen Stadtbezirken dominierende konservative Bevölkerung als nicht wählbar galt, ist es Ekrem İmamoğlu gelungen, diese Hürde zu überwinden. Insgesamt dominiert die CHP nun, anders als bei der Wahl am 31. März, die Mehrheit der Stadtbezirke.
Wie lässt sich der massive Stimmenzuwachs der CHP erklären?
Die Veränderung des politischen Kräftegewichts in dem kurzen Zeitraum vom 31. März bis zum 23. Juni 2019 hat verschiedene Ursachen, die auch Einfluss auf die weitere politische Wirkung dieser Wahl haben werden.
Der Versuch, mit allen Kräften zu verhindern, dass ein CHP-Kandidat Oberbürgermeister von Istanbul wird, hat das Bündnis aus AKP und der nationalistischen MHP Stimmen gekostet hat. Nach wiederholten Anträgen auf erneute Auszählung hatten beide Parteien die Annullierung der Oberbürgermeisterwahl beantragt. Diese war dann vom Hohen Wahlrat durch Mehrheitsentscheid angeordnet worden, ohne dass überzeugende Gründe vorgebracht wurden.
Ekrem İmamoğlu, der bis zum Beginn des Wahlkampfes im Februar 2019 ein eher unbekannter Bezirksbürgermeister in Istanbul war, setzte in seinem Wahlkampf vor allem auf einen versöhnenden Jargon, auf die Unterbindung von Verschwendung, sowie die Ausrottung der grassierenden Korruption. Die Verhinderung der Prasserei würde Mittel für zahlreiche soziale Maßnahmen der Stadtpolitik schaffen. Mit der Entscheidung für die Wahlwiederholung unter fadenscheinigen Gründen erhielt er zudem einen Ungerechtigkeitsbonus, der auch viele AKP Wähler in die Arme von İmamoğlu trieb. Mit seiner Persönlichkeit war er für alle Parteien der Opposition und auch im zunehmenden Maße für Regierungsanhänger wählbar.
Welche Strategie verfolgte die AKP von Staatspräsident Erdoğan?
Das Regierungsbündnis hatte bis zum 31. März 2019 den Oppositionsparteien unterstellt, sie würden Terrorismus unterstützen und seien durch ausländische Mächte gesteuert. Zentraler Wahlkampfakteur war Staatspräsident Erdoğan. Nach der Entscheidung zur Wahlwiederholung jedoch trat Binali Yıldırım zunächst in den Mittelpunkt des Wahlkampfes.
In der letzten Wahlkampfwoche änderte die AKP ihre Strategie und stellte nun wieder Staatspräsident Erdoğan deutlich in den Vordergrund. Der Ton wurde verschärft, Versöhnungsbotschaften wichen Drohungen gegen İmamoğlu.
Die Wahlkampfstrategie der AKP hatte zudem zwei bedeutende Mängel. Angesichts der sozialen Folgen der Wirtschaftskrise fühlten sich viele AKP-Anhänger nicht ernst genommen. Sie gingen entweder nicht zur Wahl oder gaben ungültige Stimmen ab. Auf der anderen Seite fühlten sich insbesondere kurdische Wähler in den Großstädten von den türkisch-nationalistischen Tönen abgestoßen.
Ist die Niederlage eine persönliche Erdoğans?
Mit dem Engagement des Staatspräsidenten im Wahlkampf ist seine Verantwortung für den Wahlausgang gewachsen. Istanbul wird seit 1994 durch Vorläuferparteien der AKP und dann durch die AKP regiert. In dieser Stadt hat Erdoğan seine Karriere in der landesweiten Politik als Oberbürgermeister begonnen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird immer wieder eine Verbindung zwischen Erdoğan und İmamoğlu hergestellt. Es ist die erste Wahl, in der Erdoğan tatsächlich verloren hat. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit ist gebrochen.
Wird Ekrem İmamoğlu sein Amt als Oberbürgermeister nun ungestört antreten können?
Alle Parteien haben das Wahlergebnis anerkannt und İmamoğlu zu seiner Wahl gratuliert. Ein neuer Versuch, seinen Amtsantritt durch Einsprüche zu verhindern, ist darum nicht zu erwarten. Mit seinem Aufruf an Staatspräsident Erdoğan, sich möglichst bald mit ihm zu treffen, um die Probleme Istanbuls gemeinsam zu lösen, hat Istanbuls neuer Oberbürgermeister nicht nur seine Wahlkampfstrategie fortgesetzt. In konstruktivem Ton fordert er implizit seinen Kontrahenten heraus. İmamoğlu gilt als neuer politischer Faktor, dessen Wirkung weit über Istanbul hinausreicht. Auch nach dieser Wahl bleibt die politische Zukunft des Landes spannend.
Erdoğan hat einst den inzwischen berühmten Satz gesagt: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“. Ist der Wahlsieg der Opposition ein Omen für die weitere politische Entwicklung?
Für die AKP und insbesondere ihren Vorsitzenden Erdoğan ist diese Niederlage sehr viel bedeutsamer als nur eine verlorene Bürgermeisterwahl. Sie wird weitreichende nationale Konsequenzen haben. Details des Wahlergebnisses zeigen, dass das Regierungsbündnis auch in Stadtbezirken die Mehrheit verlor, die seit Jahrzehnten unbestritten von der AKP dominiert wurden. Ohne eine Neujustierung ihrer Politik wird die AKP weiter an Stimmen verlieren. Durch den Verlust des Nimbus der Unbesiegbarkeit werden sich die zentrifugalen Kräfte in der Partei verstärken. Die immer konkreter werdende Abspaltung in der Partei wird sich beschleunigen und es könnte sich schon bald eine weitere national-konservative Kraft in der politischen Landschaft etablieren, die mit dem „System Erdoğan“ unzufrieden ist und es damit an seine Grenze bringen wird.
Mit dem Erfolg von İmamoğlu und der Krise in der AKP tritt die Diskussion auf vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen auf die politische Tagesordnung. Auch wenn kurzfristig nicht mit einem solchen Schritt gerechnet wird, ist die Gewissheit, dass es bis 2023 keine neuen Wahlen mehr geben wird, geschwunden.