Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Sie wurden letzte Woche aus Gaza evakuiert und sind am Freitag in Deutschland angekommen. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?

Es geht uns den Umständen entsprechend gut. Wir sind sehr erleichtert, nun in Sicherheit zu sein, auch wenn wir nicht wissen, wie unsere nahe Zukunft aussehen wird. Unsere Tochter ist mit ihrem Mann noch in Ägypten und wartet auf das Visum. Deutschland war für uns zwölf Jahre lang ein Zuhause, deshalb sind wir froh, wieder hier zu sein.

Israel greift seit den Terror-Angriffen vom 7. Oktober militärisch im Gazastreifen ein. Wie haben Sie den Beginn erlebt?

Ich bin durch die Abfeuerung der ersten Raketen aufgewacht. Dann habe ich weitere Raketen am Himmel gesehen. Für mich war gleich klar: Das sind keine Test-Raketen, die im Meer landen sollten. An der Wucht der Raketen konnte ich erkennen, dass sie nicht vom Islamischen Dschihad sind, sondern von der Hamas. Mit der Zeit erkennt man anhand der Intensität und der Geräusche, welche Art von Raketen zu welcher Gruppe gehört. Wir wussten erst nach einer halben Stunde, als die Meldungen mehr und mehr wurden, dass es sich auch um ein größeres Eindringen in israelisches Gebiet handelte. Da war uns sehr schnell klar, es wird einen Krieg geben. Wir haben zwar mit einer starken Reaktion der Israelis gerechnet. Wir haben auch erwartet, dass Sicherheitsgebäude und die Stellungen der Hamas bombardiert werden würden. Allerdings haben wir nie und nimmer gedacht, dass Gebäude der normalen Bevölkerung so massiv angegriffen werden würden. Von Anfang an standen zivile Gebäude viel stärker als in vorherigen Kriegen im Visier, in viel größerem Umfang als Infrastruktur der lokalen Hamas. Jeder Tag war schrecklich. Deshalb haben wir entschieden, wir können in Gaza nicht bleiben.

Hunderttausende mussten den Norden des Gazastreifens verlassen, auch Sie. Nun greift Israel auch im Süden an. Wie ist die Lage vor Ort für die Zivilbevölkerung?

Die Leute in Nordgaza und Gaza-Stadt wurden aufgefordert nach Süden zu fahren. Dort lebte vor dem Krieg über die Hälfte der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens, über eine Million Menschen. Innerhalb einer Woche sind 600 000 bis 700 000 nach Süden geflohen. Die Kapazitäten dort sind jedoch nicht ausreichend für so eine große Welle von Menschen. Daher kam es sehr schnell zu einer großen Notlage, zum Beispiel was Wasser und Essen angeht. Israel ließ über mehrere Wochen keine einzige Lieferung in den Gazastreifen rein. Der Krieg kam völlig überraschend, so dass Treibstoff und Essen nicht mal für eine Woche vorrätig waren. Und dann kamen zusätzlich so viele Menschen. In einem Gebäude mit drei Wohnungen, in dem normalerweise maximal 15 Personen wohnen, mussten auf einmal, 70, 80, manchmal bis zu 100 Personen unterkommen.

Das Leitungswasser reicht nicht, um den Bedarf der intern Vertriebenen abzudecken. Es gibt auch keinen Strom. Diesen brauchen wir aber, um die Wasserspeicher auf den Dächern zu füllen. Das geht nur sehr eingeschränkt mit kleinen Gas- oder Diesel-Generatoren. Wenn Wasser überhaupt vorhanden ist, ist es unheimlich teuer. 3 000 Liter kosten derzeit 400 Schekel, das sind genau 100 Euro. Normalerweise zahlt man für 1 000 Liter nur sechs Schekel, also 1,50 Euro.

Die Hilfsgüter decken nicht mal zehn Prozent des Bedarfs der Menschen ab.

Tag für Tag wird es schwieriger. Die Hilfsgüter, deren Einfuhr erlaubt ist, decken nicht mal zehn Prozent des Bedarfs der Menschen ab. Dementsprechend ist die Kriminalität gestiegen. In Häuser wird eingebrochen, um Gasbehälter und haltbare Lebensmittel wie Mais oder Bohnen zu stehlen. Die Leute essen alles, was vorhanden ist, auch wenn es sich um trockenes Brot handelt. Wir erleben momentan die schlimmste Phase, die Leute können es nicht mehr ertragen. Ob man am nächsten Tag noch lebt oder nicht, ist reine Glückssache. Bis jetzt wurden über 18 000 Menschen als tot gemeldet. Über 6 000 werden vermisst und liegen unter den Trümmern und über 50 000 wurden verletzt. Von den Verletzten werden sehr viele sterben, weil die medizinischen Kapazitäten nicht vorhanden sind, um sie zu behandeln.

Was erwarten die Menschen in Gaza konkret von der internationalen Gemeinschaft, aber auch von Deutschland?

Die Menschen erwarten nur eine Sache: Stoppt den Krieg! Was Israel da macht, ist in den Augen vieler Beobachter und Experten ein Kriegsverbrechen. Länder wie die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben der Auffassung der Menschen in Gaza zufolge Israel von Anfang an freie Hand gelassen. Die USA haben vor kurzem erst im Sicherheitsrat ein Veto gegen eine Waffenruhe eingelegt. Die Menschen sehen Amerika und einige europäische Staaten in der Mitschuld für das Töten von Zivilisten und unschuldigen Menschen.

Die Menschen erwarten nur eine Sache: Stoppt den Krieg!

Der Krieg muss sofort beendet werden. Alles andere kann später gelöst werden. Was die Hamas betrifft, müssen die Leute in Gaza diese von der Macht ablösen. Die Hamas kann man militärisch nicht besiegen, sie ist eine Ideologie, die politisch bekämpft werden muss.

Wie groß ist der Rückhalt der Hamas in der Bevölkerung in Gaza?

Kurz vor dem Krieg gab es noch einen Rückhalt für die Hamas. Nicht aus Liebe zu ihr, sondern schlicht, weil der andere politische Kurs, also derjenige der PLO von Abbas, durch Verhandlungen etwas zu erreichen, nichts gebracht hat. Tagtäglich erleben die Palästinenser die israelischen Aggressionen, die terroristischen Attentate der Siedler gegen die Dörfer in der Westbank und die täglichen Provokationen in der al-Aqsa-Moschee. Deshalb gab es überhaupt so einen Rückhalt in der Gesellschaft für die Hamas – den größeren übrigens in der Westbank, nicht im Gazastreifen. Umfragen zeigen: Die Hamas hat mehr Unterstützung in der Westbank als im Gazastreifen, weil die Leute in Gaza die Hamas als Machthaberin ansehen und nicht als Opposition wie in der Westbank. Aufgrund der Hamas gab es im Gazastreifen eine harte Blockade und kaum Bewegungsfreiheit. Deshalb hat man sie als Störfaktor gesehen, die nicht an der Macht bleiben sollte.

Fühlt sich die palästinensische Bevölkerung in Gaza von den arabischen Nachbarn ausreichend unterstützt?

Nein, alle Seiten, die arabischen Staaten, Europa und Amerika, haben die Leute im Gazastreifen im Stich gelassen. Man darf auch nicht vergessen, es war Benjamin Netanyahu, der jahrelang der irrsinnigen Annahme aufsaß, er könne die Hamas stabilisieren, um eine Zwei-Staaten-Lösung durch die Spaltung der Palästinenser zu verhindern. Die Hamas auf der anderen Seite spielt mit dem Leben der Menschen, um an der Macht zu bleiben. Die Palästinenser im Gazastreifen sind machtlos. Wir alle bezahlen mit unseren Toten der israelischen Angriffe die Quittung für den Terror der Hamas und keiner hilft uns. Das ist eine große Lehre für die Leute dort, sie müssen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Alle anderen schauen einfach nur zu.