Wie wird in Ungarn die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gesehen?

Wir wissen wie Ministerpräsident Viktor Orbán das sieht. Er freut sich. Er hat verkündet, die Demokratie habe gesiegt. Die Ungarn sind aber eher erschrocken, zumindest die politisch Interessierten. Sie fragen sich, wie es weiter geht. Die Ungarn sind trotz der massiven Anti-EU- und Anti-Westen-Propaganda der Regierung ein bisschen positiver gegenüber dem Westen eingestellt als die übrigen Menschen in Osteuropa. Die lange Übergangszeit, der „Gulaschkommunismus“, hat eine positive Sicht auf Westeuropa doch tiefer verankert als vielleicht in der Tschechischen Republik oder in Polen. Deswegen ist die Sympathie gegenüber dem Westen in Ungarn auch größer und vielleicht auch der Schock größer angesichts des Siegs von Trump.

Dennoch scheinen sich die Ungarn zum Teil als EU-Bürger zweiter oder gar dritter Klasse zu fühlen.

Einerseits denken die Ungarn, dass ihnen alle Hilfe seitens der EU zusteht. Viel Dankbarkeit sollte man da nicht erwarten. Andererseits haben die Ungarn doch geglaubt, viel schneller in Westeuropa anzukommen. Die Enttäuschung ist da groß. Es kann sein, dass einige von ihnen sich manchmal im Stich gelassen fühlen.

 

Laut Statistik leben knapp vier Millionen Ungarn unterhalb des Existenzminimums. Das wäre ja fast die Hälfte. Kann das sein?

Wenn Sie die Regierung fragen, stimmt das nicht. Sie versucht, die Statistik abzuschaffen. Leider gibt es große Armut in Ungarn, und die Regierung hat eine soziale Umverteilung hin zu den Aktiven und Reichen der Gesellschaft vorgenommen. Ganz bewusst werden die Schwächsten benachteiligt, denn sie sind keine Wähler.

Orbán versucht, diese „Trickle-down“-Ideologie der amerikanischen Republikaner umzusetzen und verteilt das Vermögen um in Richtung der Reichen.

Die einzige Wählerschicht, die wirtschaftlich besser gestellt wird und inaktiv ist, sind die Rentner. Die Ärmsten, die Minderheiten, die Arbeitsuchenden sind am schlimmsten dran. Ganze Landstriche sind von Orbáns Leuten fallengelassen worden. Orbán versucht, diese „Trickle-down“-Ideologie der amerikanischen Republikaner umzusetzen und verteilt das Vermögen um in Richtung der Reichen. In der Wirtschaft versucht er, die Besitzverhältnisse umzuverteilen von ausländischen Besitzern in Richtung ungarische Oligarchen.

Trotzdem lag die Arbeitslosenquote im Juli bei 5,1 Prozent, was sehr niedrig ist. Oder sind das auch Statistiken, denen man nicht trauen kann?

Orbán hat die gemeinnützige Arbeit eingeführt. Gemeinnützige Arbeit heißt, wenn man arbeitslos ist, wird man nicht als arbeitslos gemeldet. Man wird als gemeinnütziger Arbeitnehmer registriert und bekommt einen Monatslohn von 47 000 Forint. Davon soll man nach Ansicht der Regierung leben können. Das sind ungefähr 150 Euro – ein Hungerlohn. Es gibt ganze Dörfer, in denen alle Arbeitsplätze seit der Wende weggefallen sind und es nur noch gemeinnützige Arbeit gibt. Der Bürgermeister entscheidet, wer gemeinnützige Arbeit leisten kann; wer nicht, der bekommt nichts. Arbeitslosengeld gibt es nicht. In diesen Dörfern ist der Bürgermeister Herr über alles und jeden. Er kann entscheiden, welche Familien Einkommen beziehen und welche nicht. Die sozialen Brennpunkte Ungarns liegen interessanterweise nicht in den Städten, sondern die Dörfer sind zu sozialen Brennpunkten geworden und dort findet sich ein großer Teil der vier Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben.

Aber wer wählt dann Orbán?

Auch diese Leute, obwohl sie eigentlich nicht davon profitieren. Bei dem Referendum am 2. Oktober über eine Ablehnung der EU-Flüchtlingsquote haben Bürgermeister, die gegenüber der Regierung Ergebnisse vorweisen wollten, alle Menschen, die gemeinnützige Arbeit machen wollen, zum Wählen aufgefordert. Mit „Nein“ zu stimmen, war vielleicht nicht vorgegeben, aber zur Abstimmung zu gehen, schon. Die ungarischen Massenmedien und vor allem die staatlichen Medien haben eine Anti-Migrationskampagne gefahren, die teilweise auf Lügen beruhte. Die Kollegen haben Videos gemacht in Dörfern, die ganz abgewirtschaftet sind und wo sich die Menschen vor Migration fürchten. In Dörfern, aus denen alle wegziehen und in denen Migration nie ein Problem sein wird, haben die Menschen sehr konkrete Angst vor Einwanderung, vor Muslimen, vor Flüchtlingen und davor, dass ihnen das Geld weggenommen wird.

Die staatlichen Medien haben eine Anti-Migrationskampagne gefahren, die teilweise auf Lügen beruhte.

Regierungsmitarbeiter haben zum Beispiel in den Bürgerforen vor dem Referendum behauptet, falls uns von Brüssel Flüchtlinge aufgezwungen würden, müssten wir so viel Geld an die zahlen, dass wir leider kein Geld mehr hätten für Soziales, für gemeinnützige Arbeit und so weiter. Also wer Zigeuner ist, das haben sie so wörtlich gesagt, muss gegen Migration stimmen. Der ungarische Justizminister hat gesagt, wir können uns nicht um Flüchtlinge kümmern, weil wir ja die Zigeuner haben und uns um die kümmern müssen. Das ist das Niveau.

Dennoch scheiterte Orbán Anfang Oktober mit seinem Referendum zur Ablehnung der Flüchtlingsquote. Anfang November ist auch sein Gesetz im Parlament gescheitert. Wird er das Projekt nun aufgeben?

Zunächst müssen wir klären, ob er mit dem Referendum wirklich gescheitert ist. Das Referendum hatte meiner Ansicht nach zwei Ziele. Zum einen wollte Orbán damit zum Vorreiter in Europa werden. Er wollte Geert Wilders, Marine Le Pen und Norbert Hofer einen Gefallen tun und Jarosław Kaczyński zeigen, dass er jetzt Vorreiter ist und nicht die Polen. Das Ziel hat er verfehlt. Aber das Referendum hatte noch ein zweites, für ihn viel wichtigeres Ziel. Es war eine Sonntagsfrage unter realen Bedingungen. Wie viele Menschen bringt seine Fidesz-Maschinerie an die Urne. Von 8 Millionen Menschen haben 3,3 Millionen Menschen so gestimmt wie Orbán es wollte. Er hat gesehen, dass alle Wähler noch da sind, die ihm 2014 eine Zweidrittelmehrheit verschafft haben. Das ist beängstigend. 3,3 Millionen, also 40 Prozent unserer Mitbürger, haben eine unsinnige Frage auf eine nicht existierende Gefahr so beantwortet wie Orbán es wollte.

In den deutschen Medien wurde es so dargestellt, als wäre dieses Referendum gegen die Quote gewesen. Die Referendumsfrage war: Ob man damit einverstanden ist, dass die Europäische Union Ungarn ohne Zustimmung des ungarischen Parlaments eine Massenquote aufzwingen kann. Da die Ungarn an die Souveränität ihres Landes glauben, kann man schwer sagen, ja bitte, lasst Euch die Quote von Brüssel gegen den Willen des Parlaments aufzwingen. Die Frage ist Unsinn. Der zweite Unsinn ist, dass Orbán den Vertrag von Lissabon ja selber unterzeichnet hat, was Brüssel das Recht gibt, Ungarn gegen den Willen des ungarischen Parlaments Maßnahmen aufzuzwingen. Unsinn Nummer drei ist, dass Orbán eine Verfassungsänderung eingeleitet hat mit dem Zweck, alles in die Verfassung hineinzubringen, was in den Europäischen Verträgen enthalten ist. Es ist eine Scheinverfassungsänderung, weil sie die Verfassung so ändern wollen, dass eine Massenumsiedlung ohne Einzelfallprüfung nicht möglich wird. Aber Brüssel verlangt das gar nicht. Eine Einzelfallprüfung ist für jedes Land vorgesehen. Also wollen sie genau das in die Verfassung aufnehmen, was Brüssel sagt.

Es ist eine Pseudodebatte, ein Pseudogesetz, eine Pseudoveränderung.

 Ist es also eine Scheindebatte?

Ja, eine Pseudodebatte, ein Pseudogesetz, eine Pseudoveränderung. Das Komischste an all dem ist, dass es auch eine Pseudogefahr ist. Wir können die Migrationsprobleme in Ungarn lösen. Wir sagen, niemand darf rein und weil niemand auch rein will, haben wir das Problem von selber gelöst.

Vielleicht will man damit auch von anderen Problemen wie Korruption und Vetternwirtschaft ablenken. Ihre Zeitung Népszabadság hat diesbezüglich einige Skandale aufgedeckt. Sie wurde am 8. Oktober eingestellt, mit der Begründung, sie sei nicht mehr wirtschaftlich.

Népszabadság war die auflagenstärkste politische Tageszeitung des Landes und der Marktführer. Es gibt zwei regierungsnahe Zeitungen, die zusammen noch nicht einmal ein Viertel der Auflage haben, die Népszabadság hatte. Ich frage mich, wirtschaftlich macht es keinen Sinn, den Marktführer zu drucken, dafür aber zwei konkurrierende Kleinzeitungen? Unser früherer Eigentümer, der Österreicher Heinrich Pecina, hat die Zeitung 2014 gekauft. Pecina muss einen Sinn darin gesehen haben, die Zeitung zu kaufen. In den letzten zwei Jahren wurde viel verbessert. Wir haben unsere Ausgaben weiter gesenkt und zugestimmt, dass unsere Gehälter gekürzt werden. Es wurden Leute entlassen. Im Sommer wurden dann acht neue Mitarbeiter eingestellt, für die Online-Ausgabe. So handelt kein Unternehmen, das finanziell am Abgrund steht. Die Zeitung war Teil eines Portfolios, das Gewinne erwirtschaftet hat.

Welche Strategie verfolgt also Orbán?

Ich weiß nicht was Orbáns Plan ist. Ich bin mir sicher, er will die Freiräume des ungarischen Journalismus soweit einengen, bis ihn kaum noch jemand ärgern kann. Er versucht, die Massenmedien unter seine Kontrolle zu bringen. Ich glaube nicht, dass es sein Plan ist, alle kritischen Stimmen verstummen zu lassen. Aber er versucht, allen Projekten, die für Recherche und Qualitätsjournalismus stehen, den Geldhahn zuzudrehen. Ihn stört es nicht, wenn ich ihn einen Idioten nenne. Ihn stört es, wenn ich ihm zeige, wie er sich bereichert.

Ihn stört es nicht, wenn ich ihn einen Idioten nenne. Ihn stört es, wenn ich ihm zeige, wie er sich bereichert.

Zugleich lässt er das zu, was Erdogan oder Putin in ihren Ländern nicht mehr zulassen, dass er von einer kleinen Gruppe von Journalisten, Bloggern und Humanisten verlacht wird. Da ist er großzügig, weil er weiß, dass er die Wahlen mit den Massen gewinnt und es reicht, die Massenmedien zu kontrollieren. Da ist eine unheimliche Maschinerie entstanden, nicht öffentlich-rechtlich, sondern einfach nur noch Propaganda, was die staatlichen Medien machen. So hat er den zweitgrößten kommerziellen Sender aufkaufen lassen. Die ProSiebenSat.1 AG ist jetzt raus aus Ungarn. Ein ungarischer Oligarch, der einen Regierungsposten bekleidet, hat den Sender gekauft. Der zweitgrößte ungarische Sender ist im Besitz eines Regierungsvertreters, der zugleich ungarischer Oligarch ist. Die Deutsche Telekom hat das größte Portal des Landes an einen ungarischen Oligarchen verkauft.

Was passiert nun mit Népszabadság?

Wir glauben, dass jetzt das Ende ist. Sie wird nicht mehr erscheinen. Den Namen können wir auch nicht mehr benutzen. Seit unserer Schließung erfahren wir Stück für Stück, wie lange unser Schicksal schon besiegelt war. Das lief zwei Jahre. Wir mussten sechs Tage nach dem Referendum zumachen. Viele sagen, es sei Rache gewesen, weil das Referendum ungültig war. Wir glauben, dass es für Orbán doch ein Erfolg war, was seine Wählerschaft angeht. Deswegen hat er gelernt, dass ihm nichts schaden kann. Es gibt keine Korruption, keinen Fehltritt, der ihm schaden kann. Er kann sich sogar leisten, Népszabadság zu schließen. Es war also kaltes politisches Kalkül – basierend auf dem erfolgreichen Referendum.

Wie sehen Sie Orbáns Vision einer zurückgefahrenen EU, also einer EU, die nur noch in einigen Bereichen zusammenarbeitet, wie Sicherung der Außengrenzen und Verteidigung, und den Rest den Nationalregierungen überlässt? Wird er sich damit durchsetzen?

Ich weiß es nicht. Orbán, das merke ich immer wieder, wenn ich mit Politikern und Diplomaten spreche, ist ein viel besserer Partner für Europa als es scheint. Nehmen wir das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA. Die ungarische Regierung hat CETA ohne Murren unterzeichnet. Es gibt nicht viel in CETA, an dem seine populistische Sicht anecken könnte. Das, was Frau Merkel, Herrn Cameron, jetzt Frau May und Herrn Hollande wichtig ist, das macht er mit. Orbán weiß sehr genau, wie weit er gehen kann. Er gefällt sich in der Rolle des Beschützers von Europa vor den Muslimen, vor den „politisch Korrekten“ und den missratenen Liberalen. Aber gleichzeitig kann man nichts sehen, wo er in den letzten Jahren in Europa wirklich Probleme bereitet hat. Sicherlich war es für Angela Merkel ein bisschen problematisch, wie Orbán sich mit Horst Seehofer über die Grenzschließungen verständigt hat.

Orbán ist ein viel besserer europäischer Partner als es scheint. Er ist kein Putin und kein Erdogan.

Aber gleichzeitig gibt er sehr oft in Brüssel klein bei. Er ist kein Putin und kein Erdogan. Es gibt zwei wichtige Unterschiede: Erstens ist er eher wie eine großmäulige Maus, die so tut als wäre sie ein Hund. Aber wenn größere Partner etwas sagen, ist er gleich wieder die Maus. Zweitens, was für uns wichtig und gut ist, er ist jemand der vom Naturell her gegen physische Gewalt ist. Ich kann etwas behaupten, und ich werde nicht verprügelt. In dem Sinne ist ein Vergleich mit der Türkei Unsinn.

Aber es geht ihm schon darum, den investigativen Journalismus möglichst klein zu halten oder auszuschalten, um dann 2018 wiedergewählt zu werden?

Genau, es ist diese Doppelstrategie. Deswegen ist es so schwierig, gegen Orbán vorzugehen. Er macht seine Sache sehr clever, und er ist Angela Merkel auch von Nutzen. Ihm ist der Erfolg ein wenig zu Kopf gestiegen, und manchmal provoziert er ein bisschen zu sehr. Aber ansonsten ist er doch ein verlässlicher Partner, viel verlässlicher als etwa Kaczyński.

 

Die Fragen stellte <link ipg autorinnen-und-autoren autor ipg-author detail author anja-papenfuss>Anja Papenfuß.