Bosnien erlebt seit vergangenem Mitwoch die schwersten Unruhen seit dem Ende des Krieges 1995. Wie ist aktuell die Lage?
Seit Ende des Krieges sind dies unbestritten die größten Demonstrationen im Land. In mehr als 30 Städten gingen Tausende gegen die miserablen wirtschaftlichen und sozialen Zustände auf die Straße. Armut und Angst um ihre wirtschaftliche Existenz treibt die Menschen an. Dies wird befeuert durch die jahrelange Untätigkeit der politischen Eliten
Die Lage ist derzeit zwar ruhig, aber sehr angespannt. Im Zentrum von Sarajevo demonstrieren die Menschen weiter. Sie fordern den Rücktritt des sozialdemokratischen Premierministers der Föderation Bosnien und Herzegowina, Nermin Niksic. Dieser erklärte gestern, dass ein Rücktritt erst bei Neuwahlen oder bei Benennung eines geeigneteren Kandidaten erfolgen werde.
Die Proteste eskalierten am vergangenen Freitag. In der Industriestadt Tuzla im Nordosten Bosniens waren Arbeiter am Mittwoch als erstes auf die Straße gegangen. Sie hatten teilweise seit Jahren keinen Lohn erhalten. Für die erfolglose Privatisierung ihrer Betriebe machten sie die kantonale Regierung verantwortlich. Studenten und Rentner kamen hinzu. Die Polizei reagierte unangemessen hart und es kam zu Ausschreitungen. In der Folge gingen die Gebäude der Kantonsregierung in Tuzla in Flammen auf. Kurz darauf brannten in anderen größeren Städten ebenfalls Regierungsgebäude und Parteizentralen. In Sarajevo wurde das Staatspräsidium in Brand gesteckt. Danach beruhigten sich die Demonstrationen. In den Tagen darauf legten in bisher vier Kantonen die Premierminister ihre Ämter nieder. In Tuzla trat die gesamte Regierung zurück.
Woher kommt diese Frustration gegen die politische Klasse?
Die Proteste richten sich gegen das politische Establishment. Die Demonstranten rebellieren gegen die weit verbreitete Korruption, gegen Vetternwirtschaft und gegen die wirtschaftlich katastrophale Situation. Die Arbeitslosigkeit ist eklatant hoch und schwankt je nach Berechnungsgrundlage zwischen 28 und 44 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 60 Prozent. Jeder dritte Bürger ist laut Angaben der Weltbank von Armut bedroht, jeder fünfte lebt unterhalb der Armutsgrenze. Gleichzeitig leistet sich der kleine Staat mit seinen rund 3,5 Millionen Bewohnern über 150 Ministerien. Eine Reform dieses überdimensionierten Staatsapparats wird von der Mehrzahl der politischen Parteien verhindert. Sie profitieren von den Ressourcen des Staates.
Eine Reform dieses überdimensionierten Staatsapparats wird von der Mehrzahl der politischen Parteien verhindert. Sie profitieren von den Ressourcen des Staates.
Auch deshalb erheben sich die Proteste über die verschiedenen Landesteile und ethnische Grenzen. Zwar waren die Kundgebungen in der Föderation Bosnien und Herzegowina größer, aber auch im serbisch dominierten Landesteil kam es zu zahlreichen Solidaritätsprotesten.
Die Verfasstheit des Landes wird maßgeblich durch das Friedensabkommen von Dayton geprägt. Sind grundlegende politische Reformen vor diesem Hintergrund ohne weiteres möglich?
In diesem Zusammenhang muss man auf Tuzla zurückkommen. Hier entsteht gerade ein politisches Experiment, das Schule machen könnte. Die Demonstranten verlangen die Gründung einer Expertenregierung und artikulieren damit implizit die Forderung nach einem Systemwechsel. Denn die Proteste richten sich nicht nur gegen die jetzigen Amtsträger. Die Demonstrationen stehen für eine generelle Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit eines politischen Systems, das weltweit einmalig ist.
Die Demonstrationen stehen für eine generelle Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit eines politischen Systems, das weltweit einmalig ist.
Aus der Dayton-Verfassung hat sich ein komplexer Staatsaufbau ergeben, der konkordanzdemokratische Elemente mit einem komplizierten ethnischen Proporz kombiniert. Sowohl die Vertreter der drei verschiedenen Ethnien wie auch die der beiden Landesteile verfügen über weitreichende Vetomöglichkeiten. Natürlich wird die Regierungs- und Parlamentsarbeit dadurch enorm eingeschränkt. Für alle wichtigen Entscheidungen sind breite parteiübergreifende Kompromisse notwendig, die aber eben in vielen Fällen schlicht nicht zustande kommen.
Eine Anpassung der Dayton-Verfassung wäre für das Funktionieren des Staates zweifellos nützlich. Doch in Anbetracht der Vetospieler und einer erforderlichen Zweidrittelmehrheit ist das derzeit kaum denkbar.
Die Ausschreitungen haben offenbar keinen ethnischen Hintergrund. Wird die ethnische Frage auch weiterhin außen vor bleiben?
Der Konflikt verläuft nicht zwischen Ethnien, sondern zwischen Vertretern der politischen Klasse und den sozial Marginalisierten, die in Bosnien und Herzegowina potentiell ein Drittel der Gesellschaft ausmachen. Wichtig ist, zu verstehen, wer protestiert. Es sind vor allem Arbeitslose, Rentner, Studierende, Kriegsinvaliden – Gruppen, die am Abgrund leben, und nun gegen das politische Establishment rebellieren. Der soziale Status und nicht die ethnische Zugehörigkeit ist ausschlaggebend für die Motivation zu den Protesten.
Der Konflikt verläuft nicht zwischen Ethnien, sondern zwischen Vertretern der politischen Klasse und den sozial Marginalisierten
Das bedeutet allerdings nicht, dass ethnische Fragen nicht von politischen Parteien instrumentalisiert werden. In ihrer großen Mehrheit sind die bosnisch-herzegowinischen Parteien ethnonationalistisch ausgerichtet und buhlen um ihre jeweilige Wählerklientel. In den vergangenen Tagen bemühten sie sich rasch, angesichts der anstehenden Wahlen in diesem Jahr die Proteste der jeweils anderen ethnischen Gruppe zuzuschieben. Insbesondere der Präsident der Republika Srpska Milorad Dodik schilderte die sozialen und wirtschaftlichen Zustände im serbisch dominierten Landesteil als deutlich positiver. Tatsächlich aber widersprechen alle offiziellen Wirtschaftsdaten dieser Aussage.
4 Leserbriefe
Die historisch-politischen Hintergründe dürften noch etwas deutlicher und umfangreicher dargestellt werden.
Vielen DAnk fuer diesen Beitrag.
"Das bedeutet allerdings nicht, dass ethnische Fragen nicht von politischen Parteien instrumentalisiert werden." Auch wenn der Auslöser für die Demonstrationen in der prekären Lage des 3-geteilten Landes liegt ( Entwicklungshilfe-Niveau), so lassen sich Armuts - und Deklassierungsverhältnisse kaum von den ethnischen Konflikten einerseits und den damit verbundenen unterschiedlichen Zugängen zu Ressourcen aller Art trennen. Auch der Zugang zu Ämtern und Pfründen ist davon abhängig. Deshalb scheint mir ihr letzter Satz überdenkenswert: "Der soziale Status und nicht die ethnische Zugehörigkeit ist ausschlaggebend für die Motivation zu den Protesten." Hängt beides hier nicht oftmals zusammen?