Sie kehren gerade aus Kolumbien zurück. Wie ist die Situation im Land vor der Präsidentschaftswahl am 27. Mai?
Leider ist die Lage nicht so Hoffnung machend, wie ich es mir wünschen würde nach dem offiziellen Friedensabschluss. Aber es hilft alles nichts: Man muss sich mit den Realitäten dort auseinandersetzen. Es handelt sich um ein sozial sehr gespreiztes Land mit großen Unterschieden in der Bevölkerung. Insoweit sind riesige Schritte in dem auch lang angelegten Friedensprozess noch zu gehen, denn die Menschen müssen irgendwann spüren, dass dieser Friedensprozess auch für sie etwas bedeutet, was ihre Zukunft, ihre soziale Situation angeht.
Bei den Parlamentswahlen im März lag die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent. Warum mobilisieren der Friedensprozess und damit die elementare Frage nach Krieg und Frieden nicht mehr Wähler?
Ich glaube, dass der Krieg für viele Leute, beispielsweise in Bogota, weit weg war. Wir haben viel stärker ein Berührt-Sein erlebt, als wir an der Karibikküste unterwegs waren. Dort war der Konflikt Alltagserfahrung für die Menschen. Es gibt dort kaum eine Familie, die nicht auf schreckliche Weise betroffen war durch Verschleppungen oder durch Todesfälle. Wenn man dagegen in Bogota, wo rund neun Millionen Menschen leben, unterwegs ist, und zwar nicht nur im Norden der Stadt, wo die Bessergestellten leben, sondern auch im Süden, wo ganz arme Menschen leben – Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes in der Gosse schlafen – , da ist dieser Prozess weit weg. Ich glaube nicht, dass er keine Bedeutung für die Leute hat. Nur, das Überleben im Alltag steht so im Vordergrund, dass anderes zurücktritt.
Die Hoffnung bei den friedensorientierten Kräften ist, dass der Friedensprozess wegen der internationalen Aufmerksamkeit nicht einfach abgebrochen werden kann.
Es kommt hinzu, dass das Vertrauen in die Politik offensichtlich nicht sehr entwickelt ist. Wir haben Städte besucht, in denen es in den letzten zehn Jahren elf Bürgermeister gab. Ein Teil von denen, die es nicht mehr sind, sitzt heute im Gefängnis. Uns ist von ganz vielen Leuten geschildert worden, beispielsweise auch von Pater Fransisco de Roux, der die neu geschaffene Wahrheitskommission leitet, dass sich die kolumbianische Bevölkerung zu einer entwickelt hat, in der ganz viele das Vertrauen verloren, und kein Gefühl für Solidarität mehr haben. Man hat immer Ausbeutung erlebt. Man hat immer erlebt, dass die Mächtigeren sich durchgesetzt, und auf andere keine Rücksicht genommen haben.
Wenn es um den Zusammenhalt der Gesellschaft schlecht bestellt ist, gibt es auch Anzeichen, die Hoffnung machen?
Das Einzige, was wirklich Hoffnung macht, ist, dass es doch zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, die sich für eine gerechtere Gesellschaft und für eine Sicherung des Friedens stark machen und engagieren. Dort versuchen wir auch als Stiftung vor Ort besonders intensiv zu unterstützen und tätig zu sein. Wir haben einige Bürgermeister kennen gelernt, wo man durchaus den Eindruck hat: Die wollen etwas zum Guten verändern. Es gibt nur ein unglückliches System: Man kann nur einmal, und das auf vier Jahre, ein solches Amt bekleiden. Wenn man die Größe der Aufgaben sieht, von Infrastruktur über eine notwendige Landreform, dem Aufbau einer Zukunftswirtschaft, die eben nicht von Kohle und Rohstoffen allein abhängig ist, sondern die ökologischen Vorteile nutzt, und dem Tourismus eine Chance gibt, dann sind natürlich vier Jahre eine verdammt kurze Zeit.
Im Friedensprozess ist vorgesehen, dass die ehemaligen FARC-Kämpfer Land bekommen sollen, um dies zu bestellen. Wie steht es um diesen Plan?
Man redet von etwa 13.000 ehemaligen FARC-Kämpfern, die das betreffen würde. Das ist allerdings ein Prozess, an den man nicht so wirklich glaubt. In weiten Teilen des Landes gibt es keine Grundbücher. Es gibt wohl noch heute die Situation, dass Gruppierungen auf kriminelle Art und Weise Menschen von ihrem Land, vertreiben, ohne dass sie sich rechtlich wehren können, weil nichts eingetragen ist. Und wer nicht geht, ist irgendwann ermordet. Dann gehen andere wieder von selbst. Und wo gehen sie hin? Ins Elend der Armenviertel der großen Städte. Das ist wohl der schwierigste Prozess, weil dieses Landteilen – überhaupt Ordnung schaffen, was die Landverteilung angeht – wohl auf die größte Ablehnung der Großgrundbesitzerfamilien stößt.
Sie haben sich sowohl mit Vertretern politischer Parteien als auch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren jenseits der Großstädte getroffen. Was haben die unterschiedlichen Gesprächspartner als oberste Priorität zur Umsetzung des Friedensabkommens genannt? Ist man sich überhaupt einig?
Formal ist man sich in jedem Fall einig – zumindest bei denen, die nicht zu den stark Konservativen gehören. Denn es läuft ja gerade der Präsidentschaftswahlkampf und da gibt es schon Kandidaten, die den Friedensprozess so nicht wollten. Das ist eine Gefahr. Die Hoffnung bei den friedensorientierten Kräften ist, dass der Friedensprozess wegen der internationalen Aufmerksamkeit nicht einfach abgebrochen werden kann. In der internationalen Beachtung sehen diese Kräfte auch eine aktuelle Priorität. Aber es gibt beispielsweise die Sorge, dass Gegner über Haushaltskürzungen die nächsten Schritte, des mit 500 Zielschritten bis 2025 verbundenen Friedensprozesses, behindern könnten. Weil offensichtlich viele Kräfte, die jetzt in diesem Land das Sagen und auch den Besitz haben, kein Interesse daran haben, dass breitere Schichten der Bevölkerung nach oben kommen und ihnen politisch, aber auch wirtschaftlich, Konkurrenz machen.
Man darf fragen, ob die katholische Kirche nicht mehr machen muss, was den Kampf um Gerechtigkeit angeht.
Welche Punkte könnten aus Ihrer Sicht den Prozess noch zum Scheitern bringen?
Es ist noch mit der „Nationalen Befreiungsarmee“ (ELN) eine Aushandlung über einen Frieden im Gange. Diese Gruppe ist im Unterschied zu der FARC sehr viel intensiver mit der ländlichen Bevölkerung verbunden. Die FARC war offensichtlich nicht sehr nah bei den Menschen, denn bei den Parlamentswahlen hat sie nicht einmal drei Prozent bekommen. Aber die noch rebellierende Gruppe kommt stärker aus der Bevölkerung heraus. Da ist also eine Unsicherheit, wie dieser Prozess noch läuft, obwohl viele zuversichtlich sind, dass auch dort zumindest die Waffen schweigen werden.
Aber das Entscheidende wird sein, dass die Leute spüren: Es geht etwas voran, was ihre Lebenssituation angeht. Das heißt, Infrastruktur in ländliche Regionen hineinbringen. Und das heißt sicher in den Städten, dass dieses kaum zu ertragende Elend ein Ende erlebt. Es gibt offizielle Aussagen, wir haben auch mit dem Hohen Kommissar für den Friedensprozess Rodrigo Rivera gesprochen, die sagen, dass 90 Prozent der Straftaten ungeahndet bleiben. Das ist natürlich eine Aussage über den Staat und seine Durchsetzungsfähigkeit oder sein Interesse, sich durchzusetzen. Und natürlich ziehen Menschen daraus Schlussfolgerungen: Die einen, indem sie kriminelle Banden bilden, die anderen, indem sie auf übelste Weise die Armen noch mehr ausbeuten. Das Ganze wird jetzt noch verschärft durch die rund 700.000 Flüchtlinge, die aus Venezuela kommen. Das alles birgt zusammen das Risiko für diese Gesellschaft, dass sie aus sich selbst heraus nicht wirklich nach oben findet.
Wer könnte denn in der Situation helfen?
Ich glaube, dass die katholische Kirche eine ganz große Rolle spielt. Die Kirchen sind voll, dreimal am Tag in den Gottesdiensten. Da ist bei fortschrittlich verantwortlich denkenden Menschen doch eine gewisse Hoffnung auf Papst Franziskus gesetzt. Man darf fragen, ob die katholische Kirche da nicht mehr machen muss, was den Kampf um Gerechtigkeit angeht. Wie gesagt, gibt es solche Leute wie Pater de Roux, die ihr ganzes Leben da reinstecken, die Situation der Menschen zu verbessern. Aber, ob die Amtskirche das auch so macht? Da habe ich meine Zweifel.
Was kann Deutschland zu einem Gelingen des Friedensprozesses beitragen?
Deutschland ist sehr angesehen, und man hofft sehr auf die Unterstützung Deutschlands. Der deutsche Botschafter hat uns auch die Programme, die Deutschland durchführt, geschildert: teilweise sehr kleinteilige Programme. Aber gerade die kommen bei den Menschen an und gehen nicht über alle möglichen Kanäle und Filter, wo eben vieles hängen bleibt. Das ist das eine: unterstützend tätig sein, besonders dort, wo über zivilgesellschaftliches Engagement Projekte gemacht werden, von denen die Leute auch etwas haben. Außerdem braucht es sicher auch weiter die internationale Aufmerksamkeit auf diesen Prozess. Durch den Friedens-Nobelpreis war das alles sehr präsent, weltweit. Aber die Gefahr ist da, dass das irgendwann im leider so vielfältigen Reigen der internationalen Konflikte immer mehr zurücktritt. Deshalb habe ich dem Hohen Kommissar für den Frieden Rodrigo Rivera als auch dem Richter der Sondergerichtsbarkeit Rodolfo Arango und der Wahrheitskommission von Pater de Roux zugesichert, dass wir auf die Probleme aufmerksam machen, die den vielen weiteren Schritten, die noch bis 2025 kommen sollen und zu einer wirklichen Befriedung des Landes beitragen sollen, im Wege stehen.
Das Interview führten Joanna Itzek und Hannes Alpen