Am Wochenende fanden wieder Gefechte in der Region Berg-Karabach statt. Es waren die schwersten Kämpfe seit dem Waffenstillstand von 1994 zwischen Armenien und Aserbaidschan. War das nur ein kurzes Aufflackern, oder könnte die Situation eskalieren?
Seit über einem Jahr kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, sowohl an der sogenannten Kontaktlinie zu Berg-Karabach als auch an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Bisher handelte es sich um Einzelfälle und Scharfschützeneinsätze. Jetzt fahren jedoch zum ersten Mal seit 1994 beide Seiten wieder schwere Artillerie auf.
Dieser bisher „eingefrorene Konflikt“ gehört zu den gefährlichsten in der Region, da das Waffenstillstandsabkommen von 1994 keine internationalen Friedenstruppen vor Ort vorsieht und die Kontaktlinie höchst militarisiert ist. Armenien und Aserbaidschan haben in den letzten Jahren, gerade auch mit russischer Unterstützung, aufgerüstet und die feindselige und nationalistische Rhetorik drastisch erhöht.
Wenn sich die internationale Gemeinschaft, vor allem die Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), nicht eindeutig und bestimmt für eine sofortige Wiederherstellung der Waffenruhe einsetzt, hat der Konflikt das Potenzial, weiter zu eskalieren. In beiden Ländern fallen die Ereignisse in einem sehr aufgeheizten Klima auf fruchtbaren Boden. Auch wenn beide Länder sich rational derzeit keinen Krieg leisten können, sind sie bereit, den Konflikt weiter eskalieren zu lassen. Die Tatsache, dass beide Südkaukasus-Republiken im Ernstfall von Russland beziehungsweise der Türkei unterstützt würden, verschärft die Situation zusätzlich.
Wieso flammt der Konflikt genau jetzt auf?
Angesichts der unklaren Informationslage ist es schwierig, eine genaue Aussage darüber zu treffen, wie es zu den Kämpfen kam. Beide Länder weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Klar ist jedoch, dass, egal welche Seite begonnen hat, die andere mit mindestens ebenso schweren Geschützen reagiert hat. Die Regierungen beider Länder sehen sich derzeit mit großen innenpolitischen Herausforderungen konfrontiert und könnten daher Motive für eine Zuspitzung haben.
Klar ist jedoch, dass, egal welche Seite begonnen hat, die andere mit mindestens ebenso schweren Geschützen reagiert hat.
Insbesondere das aserbaidschanische Regime steht aufgrund des starken Verfalls des Ölpreises unter Druck. Die Stabilität seiner Herrschaft gründete bis vor kurzem auch auf der vergleichsweise guten wirtschaftlichen und sozialen Situation. Durch den niedrigen Ölpreis sind dem Land, dessen Wirtschaft immer noch maßgeblich auf Gewinnen aus Öl beruht, wichtige Einnahmen weggebrochen. Die Währung hat dramatisch an Wert verloren, die Inflation befindet sich im zweistelligen Bereich. In vielen Regionen Aserbaidschans kam es zu Aufständen, da die Bevölkerung ihre Grundnahrungsmittel nicht mehr zahlen konnte.
Gleichzeitig fühlt sich Aserbaidschan, insbesondere nach der Annektion der Krim, vor allem international im Kampf um seine territoriale Integrität allein gelassen. Eine Eskalation könnte einerseits auf diesem Bewusstsein gründen, andererseits aber von der schwierigen innenpolitischen Situation ablenken und das Volk im Nationalgefühl einen.
Doch auch die armenische Regierung musste sich in jüngster Zeit immer wieder scharfer Kritik der Bevölkerung stellen. Nachdem es im letzten Jahr zu erheblichen Protesten („Electric Yerevan“) gegen die Regierung und den Präsidenten kam sowie zu Kritik an einer neuen Verfassung, ruft derzeit die Arbeit an einem neuen Wahlgesetz zahlreiche Kritiker auf den Plan. Auch hat Armenien bereits vor ein paar Wochen angekündigt, eine offensivere Strategie in der Karabach-Frage zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund könnte auch die armenische Regierung zumindest kurzfristig innenpolitisch von einer Verschärfung der Konflikte profitieren. Es haben sich bereits zahlreiche Freiwillige auf den Weg an die Kontaktlinie gemacht.
Abgesehen davon ist bemerkenswert, dass der Konflikt ausgerechnet ausbricht, kurz nachdem beide Präsidenten am Rande des Gipfels zur nuklearen Sicherheit in den USA in getrennten Treffen mit dem amerikanischen Vize-Präsidenten Joe Biden sowie Außenminister John Kerry zusammengetroffen sind. Den USA, die den Ko-Vorsitz in der Minsker Gruppe innehaben, war es nicht gelungen, ein gemeinsames Treffen beider Länder zu organisieren. Dieses Scheitern der amerikanischen Diplomatie könnte eine Gelegenheit für Russland sein, sich als Friedensstifter in der Region zu profilieren.
Welche Rolle spielen Russland und die Türkei?
Obwohl Russlands Interesse an einer „stabilen Instabilität“ in der Region offensichtlich ist, ist ein gezieltes russisches Hinwirken auf eine Eskalation fraglich. Einerseits garantiert der „eingefrorene Konflikt“ den russischen Einfluss in Armenien, das wirtschaftlich und im Ernstfall militärisch auf seinen strategischen Partner angewiesen ist. So unterhält Russland einen großen Militärstützpunkt in Gyumri, der zweitgrößten Stadt des Landes. Auch hat Russland in den letzten Jahren an beide Südkaukasus-Republiken Waffen verkauft. Jedoch hat Russland in Berg-Karabach selbst keine Truppen und auch kein Interesse an einem weiteren Krieg in der Region. Das russische Verteidigungsministerium hat von Anfang an beide Seiten zur Besonnenheit aufgerufen. Die treibenden Kräfte der Eskalation scheinen Armenien und Aserbaidschan selbst zu sein.
Dieses Scheitern der amerikanischen Diplomatie könnte eine Gelegenheit für Russland sein, sich als Friedensstifter in der Region zu profilieren.
Eine mögliche Einmischung der Türkei in den Konflikt birgt natürlich besondere Sprengkraft für die gesamte Region. Bereits am Sonntag hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan angekündigt, Aserbaidschan in dieser Frage „bis zum Schluss“ zu unterstützen. Das ohnehin schwierige Verhältnis mit dem Nachbarn Armenien sowie die jüngst angespannten Beziehungen zu Russland machen eine entschärfende Haltung der Türkei unwahrscheinlich. Auch der in letzer Zeit sehr zahme Umgang der EU mit der Türkei angesichts der Flüchtlingskrise lassen keine positiven Impulse der Türkei erwarten.
Eine anhaltende Zuspitzung der Situation würde daher Konsequenzen haben, die weit über die Region hinausreichen könnten. Sie würde die Beziehungen zwischen Russland und der NATO, der die Türkei angehört, einmal mehr belasten. Aber auch Georgien, das strategische Beziehungen zur Türkei und zu Aserbaidschan pflegt sowie ein konstruktives Verhältnis mit Armenien hat, würde aufgrund seiner (geografischen) Lage zwischen allen potenziellen Konfliktparteien unter Druck geraten
Was kann die OSZE tun und speziell Deutschland als derzeitiger Vorsitz?
Die OSZE hat den Konflikt um Berg-Karabach in den letzten Jahren, auch angesichts anderer Konflikte in der Region, zu sehr vernachlässigt. Hinzu kommt, dass die Arbeit der Minsker Gruppe seit der Ukraine-Krise nahezu paralysiert ist, da diese die Beziehungen zwischen ihren Ko-Vorsitzenden Russland, den USA und Frankreich belastet. Auch die Irritationen zwischen dem Westen und Aserbaidschan im letzten Jahr haben eine konstruktive Zusammenarbeit erschwert. Die Minsker Gruppe kommt am 5. April 2016 zusammen, um weitere Schritte zu beraten. Deutschland sollte alle Bemühungen daran setzen, sie zur kooperativen Zusammenarbeit zu bewegen, um eine möglichst schnelle Wiederherstellung der Waffenruhe zu gewährleisten. Darüber hinaus sollte es auch seine Kommunikationskanäle zur Türkei nutzen und sie zu einer konstruktiven Rolle in der aktuellen Krise anhalten.
Die Fragen stellte Anja Papenfuß.
3 Leserbriefe
Eigentlich müsste es egal sein, ob ein Armenier in Aserbaidschan oder ein Azeri in Armenien lebt. Würden in beiden Ländern die Menschenrechte geachtet und niemand wegen seiner religiösen oder ethnischen Zughörigkeit diskriminiert, sollte s keinen Unterschied machen. Doch beide Länder sind zum einen tief korrupt, zum anderen ist ethnische Zughörigkeit und ein wichtiges Merkmal, ob man in vollem Umfang an der Gesellschaft partizipieren kann oder nicht. Solange diese Defizite nicht beseitigt sind, lebt der Konflikt weiter.