Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Portugals Premierminister António Costa ist völlig überraschend nach dem Bekanntwerden von Korruptionsermittlungen zurückgetreten. Was ist über die Hintergründe bekannt?
Zunächst, die Staatsanwaltschaft ermittelt gar nicht gegen Costa selbst, sondern gegen acht Personen, von denen sich zwei im direkten Umfeld Costas befinden, nämlich sein Stabschef Vitor Escária und sein Trauzeuge und langjähriger politischer Weggefährte Diogo Lacerda Machado. Beide befinden sich derzeit wegen Fluchtgefahr in Haft. Sie sollen die direkte Nähe zu Costa genutzt haben, um den Premierminister zu beeinflussen, und zwar im Rahmen der Vergabe von Abbaurechten für Lithium in Nordportugal und beim Bau des größten Datenzentrums Südeuropas im südwestlichen Sines.
Über Monate hinweg wurden die Telefonate Escárias und Machados mit anderen Personen abgehört, darunter mit den Vorsitzenden der IT-Firma Start Campus. Die Firmenchefs sowie der Bürgermeister von Sines wurden deshalb ebenfalls festgenommen. Im Falle der Erschließung der Lithiumregion zweifelt die Staatsanwaltschaft das Vergabeverfahren für die Abbaurechte aus dem Jahr 2019 an. Auch hier wird überprüft, ob der damalige Staatssekretär für Energie João Galamba versucht hat, über Costas Stabschef Escária Einfluss auf den Premierminister zu nehmen – im Gegenzug für Firmenleistungen. Um herauszufinden, ob Costa bestochen wurde, beziehungsweise welche Rolle er in diesen beiden Fällen spielt, hat die Polizei nun eben auch Costas Büro und seinen Amtssitz durchsucht. Schnell entstand dann in der Öffentlichkeit der Eindruck: Costa ist korrupt. Dabei hat die Staatsanwaltschaft keine Klage gegen ihn erhoben und hält sich mit direkten Anschuldigungen gegen Costa bis dato zurück.
Aber wenn Costa doch gar nicht im Zentrum der Ermittlungen steht, warum trat er dann zurück?
Das ist eine berechtigte Frage. Costa selbst sagte in seiner Rücktrittserklärung, dass er ein reines Gewissen habe, von den Untersuchungen überrascht war und unschuldig sei. Aus meiner Sicht ist es plausibel, dass er von den Durchsuchungen überrascht wurde. In der gesamten PS-Parteizentrale waren die Mitarbeiter am vergangenen Dienstag in Schockstarre. Costa fügte in seiner Rücktrittserklärung hinzu, dass es die Portugiesen verdient hätten, jemanden an der Spitze der Regierung stehen zu haben, dem sie vertrauen können. Solange für die Öffentlichkeit nicht klar ist, ob und wie er in einen Korruptionsskandal verwickelt sei, könne er das Amt des Regierungschefs nicht ausführen. Daher der Rücktritt. Er habe Vertrauen in den Rechtsstaat und wolle mit der Justiz kooperieren.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass seine Partido Socialista so einige Compliance-Affären im letzten Jahr hatte.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass seine Partido Socialista so einige Compliance-Affären im letzten Jahr hatte, an denen Costa jedes Mal um Haaresbreite vorbeigeschrammt ist. Sein Image war schon ziemlich angekratzt. Sicherlich wollte er also auch in Würde zurücktreten und damit einer Entlassung durch den Staatspräsidenten Marcelo Rebelo de Sousa zuvorkommen, der bildlich gesprochen, schon seit Monaten mit erhobenem Zeigefinger hinter ihm stand.
Präsident de Sousa hat gestern Neuwahlen für den 10. März 2024 angekündigt. Wie geht es mit Portugal nun weiter?
Zunächst einmal muss bis zum 29. November der Staatshaushalt verabschiedet werden. Darauf hat Rebelo de Sousa Wert gelegt. Erst am darauffolgenden Tag tritt Costas Rücktritt und die Auflösung des Parlaments in Kraft. Ein paar angekündigte Maßnahmen werden in den nächsten Wochen also noch in die Wege geleitet. Die Erhöhung des Mindestlohns auf 820 Euro im Januar 2024 wird ziemlich sicher kommen, auch die Erhöhung der Beamtengehälter ab 2024 wird noch durchgehen, genauso wie staatliche Subventionen für Mieterinnen und Mieter, die finanziell unter Druck geraten sind. Dieses Gesetz, das Teil einer großen Mietreform sein sollte, hat der Staatspräsident gestern sogar noch unterschrieben. Doch eben genau diese große Mietmarktreform und sämtliche andere Vorhaben, die noch ein paar Wochen Zeit gebraucht hätten, bleiben jetzt liegen. Darunter die Anpassungen bei der Einkommenssteuer, von der insbesondere Menschen mittleren Einkommens profitiert hätten, oder die weitere Verwendung von Geldern aus dem europäischen Rettungsfonds. Auch bei der Privatisierung der Fluggesellschaft TAP, bei der die Lufthansa zuletzt fast das Rennen gemacht hätte, wird sich nun erst einmal wieder nichts tun.
Innerhalb von Europas Sozialdemokratie gilt die Partido Socialista als Vorzeigepartei. Seit acht Jahren regiert sie mit Costa an der Spitze das südeuropäische Land. Welche Auswirkung hat sein Rücktritt für die Partei?
Auf die Partido Socialista kommen nun harte Zeiten zu. Bisher hatte sich die PS mit wenigen Ausnahmen zu Costa bekannt und sich nach außen geschlossen gezeigt. Doch nun wird sicherlich ein Grabenkampf um die Nachfolge Costas als Generalsekretär entbrennen. Zwischen dem moderaten Flügel um den Finanzminister Fernando Medina und den Innenminister José Luís Carneiro auf der einen und dem linken Flügel unter Anführung des ehemaligen Infrastrukturministers Pedro Nuno Santos auf der anderen Seite. Wenn es, wie bei der Wahl Costas zum Generalsekretär im Jahr 2015, zur Mitgliederbefragung kommen würde, dann hätte Pedro Nuno Santos die Nase klar vorn. Er setzt sich vehement für die Neuauflage einer Regierung mit dem Linksblock und der kommunistischen Partei ein. Das könnte für Europa schwierig werden, denn weder Linksblock noch Kommunisten haben die Russlandsanktionen mitgetragen. In einer Koalition mit den Konservativen, die der Innen- und der Finanzminister bevorzugen, könnte die PS andererseits den so dringenden Ausbau des Sozialstaats nicht in der Geschwindigkeit fortführen wie es die PS in den letzten acht Jahren getan hat. In beiden Fällen müssten die Sozialisten also unangenehme Kompromisse eingehen.
Es ist klar, dass die Krise einen großen Vertrauensverlust für die Partei bedeutet.
Ich würde die PS jedoch noch nicht abschreiben und könnte mir sogar eine erneute Regierungsverantwortung gut vorstellen, weil sie in den Umfragen bis vor kurzem noch führte und weil sie mit vielen Parteien koalitionsfähig ist. Es ist jedoch auch klar, dass die Krise einen großen Vertrauensverlust für die Partei bedeutet und es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit ist, bis sie nicht mehr stärkste Partei ist. Dass die liberal-konservative PSD dann gemeinsam mit der Liberalen Initiative und der rechtsnationalen Chega-Partei eine rechte Mehrheit zusammenbringen könnte, ist – zugegeben – durchaus wahrscheinlich, aber noch nicht abgemacht. Die PS konnte in der jüngsten Vergangenheit schon mehrmals mit guten Wahlergebnissen überraschen, zuletzt mit ihrer absoluten Mehrheit im Januar 2022.
Die angesprochene rechtspopulistische Partei Chega konnte seit den letzten Parlamentswahlen 2022 deutlich zulegen. Steht Portugal bei den Neuwahlen vor einem Rechtsruck?
Bei den vergangenen Wahlen war es bereits ein großer Schock, als auf einmal nicht mehr nur ein Abgeordneter von Chega, sondern gleich zwölf ins Parlament gewählt wurden. Ganz klar wird Chega auch diesmal zulegen und von dem Vertrauensverlust in „die da oben“ profitieren. Die Gretchenfrage stellt sich aber eigentlich den Konservativen von der PSD: Werden sie sich von den Rechtspopulisten dulden lassen oder gar mit ihnen koalieren? In der Regionalregierung auf den Azoren lassen sie sich bereits von Chega dulden, auf Madeira hingegen lehnten die Konservativen erst vor wenigen Wochen das Koalitionsangebot der Rechtspopulisten ab und koalieren nun mit der Tierschutzpartei PAN. Wenn die PSD sich nicht klar von Chega abgrenzt, werden die gemäßigten Wählerinnen und Wähler der Mitte wohl wieder für die PS stimmen, wie bereits 2022. Das war übrigens einer der Gründe, der damals der PS die absolute Mehrheit bescherte.
Portugal gilt in Europa als großer Unterstützer der Ukraine. Stehen die Hilfen unter einer neuen Regierung möglicherweise zur Disposition?
Ich halte es für möglich, dass die Unterstützung für die Ukraine ins Wanken gerät. Die beiden Volksparteien PSD und PS stehen zwar an der Seite der Ukraine. Doch deren potenzielle Koalitionspartner an den Rändern, also die kommunistische Partei am linken und Chega am rechten Rand, distanzieren sich nicht von Russland. Hoffen wir also, dass auch in Zukunft die Mitte in Portugal stark bleibt und sich nicht von den Rändern unter Druck setzen lässt.