Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Sie sind eine der bekanntesten Verfechterinnen der Modern Monetary Theory. In Ihrem Buch „The Deficit Myth“ schreiben Sie, dass Staatsdefizite eigentlich gar keine so große Rolle spielen. Was genau meinen Sie damit?
Es kommt darauf an, wie das Geld ausgegeben wird. 2017 haben die Republikaner in den USA das Defizit erhöht, indem sie die Körperschaftssteuer gesenkt haben, um mehr Investitionsanreize für Unternehmen zu schaffen. Sie behaupteten, wir würden einen Beschäftigungs- und Investitionsboom erleben. Das ist nicht passiert. Aber was noch viel wichtiger ist: Die ganzen negativen Entwicklungen, von denen uns lange eingeredet wurde, dass sie mit höheren Defiziten einhergehen, sind ebenfalls nicht eingetreten, etwa steigende Zinssätze, die Verdrängung privater Investitionen und die wachsende Gefahr einer Schuldenkrise.
In meinem Buch gehe ich davon aus, dass jedes Defizit jemandem zugutekommt. Das ist der springende Punkt. Denn jedes Haushaltsdefizit bedeutet einen finanziellen Überschuss in irgendeinem Wirtschaftssektor. Deshalb heißt ein Kapitel in meinem Buch „Ihre roten Zahlen sind unsere schwarzen Zahlen“. Die entscheidende Frage ist: Wem nutzt das Defizit? Von den Haushaltsdefiziten, die von den Republikanern gemacht wurden, haben die großen Konzerne und die Reichsten der Gesellschaft profitiert.
Die Demokraten haben mit ihrem Covid-19-Rettungspaket im März dieses Jahres das Defizit um fast zwei Billionen US-Dollar erhöht. Von diesem Defizit hat eine ganz andere Bevölkerungsgruppe profitiert. Das reichste Prozent hatte davon nichts, aber die Mittelschicht und die Menschen mit niedrigem Einkommen, die Armen sowie die Bundesstaaten, die Kommunen und die kleinen Unternehmen.
Defizite spielen eine wichtige Rolle. Die Frage ist aber: Defizite für wen und wofür? Machen wir Defizite, um Investitionslücken bei Infrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung zu schließen – also in Bereichen, die langfristig das Produktivitätspotenzial der Volkswirtschaft steigern? Oder machen wir die Defizite nur, um großen Unternehmen und reichen Leuten zu einem unverhofften Geldsegen zu verhelfen?
Viele Ökonomen würden ins Feld führen, dass Schulden irgendwann zurückgezahlt werden müssen.
Wenn ein Staat sich verschuldet, steckt er mehr Dollar oder Euro in die Wirtschaft, als er an Steuern herauszieht, und dann gleicht er das Defizit aus, indem er einen Teil dieser Dollars oder Euros in ein verzinsliches Wertpapier umwandelt: in eine Staatsanleihe. Eine US-Bundesanleihe ist nichts anderes als eine verzinslichte Form von Geld.
Die US-Regierung hat zwei Instrumente zur Auswahl: Sie kann einen Dollar in Umlauf bringen, oder sie kann eine Staatsanleihe auflegen. Auf den Dollar zahlt niemand Zinsen, auf die Staatsanleihe schon. Wenn die Regierung Schatzanweisungen ausgibt, dann heißt es, die Regierung habe sich etwas geliehen, sie habe Schulden aufgenommen und müsse diese Schulden zurückzahlen. Doch was heißt das für einen Staat, der ja das Geld schafft? Was heißt „Schulden zurückzahlen“? Es bedeutet nur, dass die Regierung gelbes Papier wieder in grünes Papier umwandelt.
„Schulden zurückzahlen“ bedeutet nur, dass die Regierung gelbes Papier wieder in grünes Papier umwandelt.
Es bedeutet, dass der Staat die emittierten Staatsanleihen wieder vom Markt nimmt; ihre Laufzeit endet. Und wenn sie mit dem Ende ihrer Laufzeit fällig werden, wandelt der Staat sie wieder in das andere geldpolitische Instrument um, das ihm zur Verfügung steht. Das ist einfach nur ein elektronischer Buchungsvorgang. „Schulden zurückzahlen“ heißt lediglich, dass die Zahl in der einen Spalte heruntergesetzt und in der anderen Spalte hochgesetzt wird. Es ändert sich nur die Zusammensetzung der Geldmenge: weniger Staatsanleihen, mehr Geld, das ist alles.
Teile des wirtschaftlichen und politischen Establishments in Deutschland, darunter die ehemaligen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück und Edmund Stoiber, fordern „mehr Disziplin und weniger Schuldenfinanzierung“. Sie warnen vor einer steigenden Inflation, massiven sozialen Verwerfungen und einer weiteren politischen Polarisierung. Liegen sie damit falsch?
Dass ein gravierendes Inflationsproblem zu sozialen Verwerfungen führen kann, ist sicher richtig. Ich habe allerdings von den Europäern noch keinen Vorschlag gehört, auch nur annähernd so viel Geld auszugeben, dass Europa in die Gefahr einer Inflationsspirale geraten könnte, die die Menschen wirklich in Not brächte. Der sehr viel wahrscheinlichere Auslöser für soziale Verwerfungen ist im Gegenteil die Sparpolitik.
Die Sparpolitik ist das, was die Menschen ohne Not in die Misere treibt. Wenn Sie den Regierungen jetzt sagen, dass die Europäische Zentralbank die fiskalische Unterstützung, die sie während der Pandemie geleistet hat, einstellt und die Staaten ihre Schuldenquoten wieder mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und den Maastricht-Kriterien in Übereinstimmung bringen sollen, weiß jeder, was passieren wird. Wir haben das schon einmal erlebt. Wir wissen aus 2010 und aus der Erfahrung mit Griechenland, was dann geschieht.
Die Gesellschaften sind in den letzten 15 Monaten wegen der Pandemiefolgen bereits durch die Hölle gegangen. Menschen sind nur bis zu einem bestimmten Punkt belastbar. Man kann nicht am Ende der Pandemie daherkommen und den Regierungen sagen, dass sie jetzt drakonische Haushaltskürzungen und Sparmaßnahmen durchsetzen müssen. Das wäre ein Pulverfass, das mit Sicherheit hochgeht.
Die deutschen Autoren äußern, dass die Mitgliedsstaaten nur dann billiges Geld bekommen sollten, wenn dies an Bedingungen geknüpft wird. Sonst würden sie – wie sich zum Beispiel in Griechenland zeigte – das Geld leichtfertig ausgeben und ihren Schuldenstand in die Höhe schnellen lassen.
Griechenlands Krise wurde durch eine globale Finanzkrise ausgelöst. Als es die Drachme noch gab, hatte Griechenland – wie Warren Buffett in einem berühmten Ausspruch einmal gesagt hat – viele andere Probleme, aber kein Schuldenproblem. Was in Griechenland passiert ist, war eine einmalige Situation, bei der zwei Probleme zusammenkamen: Das Land hatte keine eigene Währung mehr und erlitt einen massiven wirtschaftlichen Abschwung, der das Defizit in die Höhe trieb.
Was Europa braucht, ist ein kluges und substanzielles Investitionsprogramm, das darauf ausgerichtet ist, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen.
Was Europa braucht, ist ein kluges und substanzielles Investitionsprogramm, das darauf ausgerichtet ist, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen – uns also für die nächste Pandemie zu rüsten und die akute Krise zu bekämpfen, die uns alle betrifft: den Klimawandel. Das Argument, niedrige Zinssätze würden zu einer verschwenderischen Kreditaufnahme und Ausgabenpolitik verleiten, ist falsch. Wir müssen Geld ausgeben, und die griechische Regierung muss – weil das Geldsystem nun einmal so ist, wie es ist – Kredite aufnehmen, um Steuerausfälle auszugleichen. Und es ist für die griechische Regierung besser, wenn sie das in einem Niedrigzinsumfeld tut, weil sie so den fiskalischen Kurs stabil halten kann.
Welche Folgen hätte es, wenn die Europäische Zentralbank ihr Notkaufprogramm für Anleihen einstellen würde?
Als zu Beginn der Pandemie die wirtschaftlichen Auswirkungen sich bemerkbar machten und die Haushaltsdefizite und Zinssätze zu steigen begannen, sagte Christine Lagarde: „Verlasst euch nicht auf die Europäische Zentralbank; wir sind nicht dafür zuständig, die Zinsdifferenzen zwischen den Staatsanleihen verschiedener Länder zu begrenzen.“ Die Reaktion war bei den meisten – meine Person und die Finanzmärkte eingeschlossen – die gleiche: Wird die Europäische Zentralbank es wirklich noch einmal tun? Erleben wir eine Neuauflage von 2010?
Lagarde hat das jedoch sehr schnell zurückgenommen. Sie erkannte klar: Damit 2010 sich nicht wiederholt und die Renditen nicht wieder in die Höhe schnellen, gibt es keine andere Alternative. Die Europäische Zentralbank musste mit einem Pandemie-Notfallankaufprogramm eingreifen und die Zinsdifferenzen unter Kontrolle halten. Was würde passieren, wenn die Europäische Zentralbank damit aufhören würde? Die Märkte würden die Renditen in die Höhe treiben, insbesondere in Ländern wie Italien, wo die Staatsschuldenquote bei 160 Prozent liegt. Diese Länder würden in ernste Schwierigkeiten geraten.
Viele Ökonominnen und Ökonomen warnen vor einer galoppierenden Inflation. In Deutschland stieg sie im April auf zwei Prozent und damit auf den höchsten Stand seit zwei Jahren. Besteht die Gefahr einer konjunkturellen Überhitzung?
Zwei Prozent sind eine sehr gute Nachricht, denn das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass die reale Inflationsrate sich mit dem Inflationsziel deckt. Überall auf der Welt mühen die Zentralbanken sich ab, um ihre Zwei-Prozent-Inflationsziele zu erreichen. In den USA hat die Notenbank sich einen neuen Handlungsrahmen gegeben. Wenn wir Monat für Monat und Jahr für Jahr nur zwei Prozent Inflation haben, verfehlen wir unser Inflationsziel. Wir würden die Zielmarke immer noch unterschreiten, weil die Federal Reserve verkündet hat, dass sie ein Inflationsziel von durchschnittlich zwei Prozent anstrebt. Da wir seit vielen Jahren unter diesem Inflationsziel liegen, müssen wir nun etliche Jahre über zwei Prozent kommen, damit wir den Durchschnitt erreichen.
Inflation ist eine knifflige Angelegenheit, denn sie ist ein dynamisches und komplexes Phänomen, für das kein Ökonom ein verlässliches Modell hat; ein solches Modell gibt es einfach nicht. Was wir im Augenblick auf der ganzen Welt erleben, sind die Anfangsschwierigkeiten, die sich einstellen, wenn man eine längere Pandemie hinter sich hat: Verwerfungen, Lieferkettenprobleme, Versorgungsengpässe. Aber diese Probleme werden sich von selbst regeln. Darin sind die meisten Ökonominnen und Ökonomen sich einig.
Inflation ist eine knifflige Angelegenheit, denn sie ist ein dynamisches und komplexes Phänomen, für das kein Ökonom ein verlässliches Modell hat.
Der Chef der US-Notenbank Jerome Powell ist sicherlich nicht der Meinung, dass wir in einer Situation wären, in der die Inflation sich verfestigt und wie in einer Lohn-Preis-Spirale selbst verstärkt. Die meisten Wirtschaftsfachleute hier in den USA teilen seine Einschätzung. Nur Larry Summers und vielleicht noch ein paar andere glauben, dass die USA und die Welt wirklich auf eine Überhitzung zusteuern.
Sie haben gerade die Pandemie erwähnt. Die Eurozone funktioniert derzeit wahrscheinlich nur, weil wir uns in einer Notsituation befinden. Diese hat bewirkt, dass sich alle Mitgliedsstaaten – zumindest vorübergehend – auf eine gemeinsame Strategie geeinigt haben. Doch wie könnte eine langfristige politische Lösung aussehen? Brauchen wir eine Vergemeinschaftung der Schulden oder fiskalische Transfers zwischen den Mitgliedsstaaten? Und würden solche Maßnahmen nicht dazu führen, dass der Nord-Süd-Konflikt in der Eurozone erneut aufbricht?
Das ist eine gute Frage. Auf jeden Fall braucht es irgendeine stabile Lösung. Einen Nord-Süd-Konflikt wird es auch dann geben, wenn die Europäer versuchen, mit dem alten Regelwerk weiterzumachen. Das ist bereits Realität: Schuldzuweisungen und Vorwürfe, eine Gruppe von Ländern würde die anderen finanziell belasten. Die Europäische Union, die Wirtschafts- und Währungsunion sind Realität. Dem Wort nach sind die Europäer eine Union, sie verhalten sich aber nicht immer wie eine.
Bis zu einem gewissen Grad erleben wir hier in den USA das Gleiche. Früher bekamen wir von Politikern oder anderen Leuten nicht zu hören, dass Mississippi und West Virginia anderen Bundesstaaten wie New York oder Kalifornien auf der Tasche liegen. Neuerdings höre ich solche Aussagen. Wohlhabende „Blue States“, Hochsteuerstaaten, die mehr in den Finanzausgleich einzahlen, als sie an öffentlichen Fördermitteln auf Bundesebene zurückbekommen. Aber es ist nicht so schlimm wie in der EU, denn wir sind eine vollwertige Fiskalunion, eine vollwertige Währungsunion. Über weite Strecken unserer Geschichte haben wir uns auch so verhalten – zumindest seit dem Bürgerkrieg. Irgendwann haben wir angefangen, uns als eine Nation zu begreifen und unsere Interessen aufeinander abzustimmen. Aber das bröckelt inzwischen. Demokratien sind zerbrechlich – wir haben es ja am 6. Januar 2021 erlebt.
Dass die Eurozone reformiert werden muss, ist offensichtlich, aber ich kann nicht sagen, wie die Spannungen, die Sie angesprochen haben, vermieden werden können. Ich weiß nicht genau, wie sie sich überwinden lassen, weil sie zu einem großen Teil politisch aufgeladen sind und mit nationalen Identitäten zu tun haben. Aber wie auch immer die Lösung aussehen könnte – ein gemeinschaftlicher Staatsanleihemarkt oder eine Fiskalunion: Die Europäer brauchen etwas, das ihr Projekt voranbringt.
Nachdem Joe Biden im März bereits sein 1,9 Billionen US-Dollar schweres Corona-Hilfspaket aufgelegt hat, will er nun weitere Billionen in die Wirtschaft pumpen, um unter anderem in die Infrastruktur und die Bekämpfung der Klimakrise zu investieren. Würden Sie diese Strategie auch europäischen Ländern wie Deutschland empfehlen?
Was Präsident Biden jetzt vorschlägt, sind 2,3 Billionen US-Dollar für den American Jobs Plan sowie 1,8 Billionen US-Dollar für den American Families Plan. Insgesamt strebt er ein Volumen von über vier Billionen US-Dollar für die Infrastruktur im weitesten Sinne an – also für menschliche und physische Infrastruktur. Könnten Deutschland und andere Länder das als Modell für eine Strategie nach dem Motto „Building back better“ nutzen? Selbstverständlich! Den meisten Ländern würden Investitionen guttun. Viele investieren zu wenig in Bereiche wie Forschung und Entwicklung sowie in die Infrastruktur.
In vielerlei Hinsicht ist Europa uns in den USA jedoch weit voraus, was bezahlte Elternzeit, Kinderbetreuung, kostenloses Studium und all diese Dinge angeht. Wir versuchen gerade, in vielen Bereichen das aufzuholen, was viele europäische Länder längst erreicht haben.
Klimapolitisch sind die Vorschläge der Biden-Administration allerdings ausgesprochen dürftig. Die gemachten Zusagen reichen nicht annähernd aus, um den Klimawandel schnell genug zu bekämpfen. Wir alle müssen massiv investieren – vor allem an der Klimafront.
Aus dem Englischen von Christine Hardung