Die Fragen stellten Alexander Isele und Julika Luisa Enbergs.

Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol hat dieses Jahr erneut die Debatte entfacht, ob Südkorea ein Atomwaffen-Arsenal aufbauen sollte. Warum gibt es aktuell derartige Überlegungen in Seoul?

Der Hauptgrund ist die forschere, provokative Haltung Nordkoreas. Seit dem Amtsantritt von Yoon Suk-yeol hat Nordkorea in diesem Jahr knapp 40 ballistische Raketentests mit 72 Geschossen durchgeführt. Außerdem hat das Land im September letzten Jahres seine Nukleardoktrin geändert. In der Vergangenheit hielt sich Nordkorea an das „No-First-Use-Prinzip“, also daran, einen Erstschlag auszuschließen. Doch nach dem Beginn des Ukrainekrieges deutete Pjöngjang einen anderen Ansatz an, nämlich einen möglichen präventiven Einsatz von Atomwaffen in der konventionellen Kriegsführung. Die Regierung kündigte außerdem an, dass sie taktische Atomwaffen entlang der Frontlinie stationieren werde.

Immer mehr – meist konservative – Südkoreaner sind der Meinung, dass der US-amerikanische Nuklear-Abwehrschirm, der Südkorea zur Verfügung gestellt wird, nicht ausreichend und nicht vertrauenswürdig ist. Das geht insbesondere auf die Erfahrungen mit Donald Trump zurück. Die Sichtweise ist klar: Die USA würden Los Angeles oder Hawaii nicht opfern, um Seoul zu schützen. Deswegen wird eine Rückversicherung in Form einer Verlegung amerikanischer taktischer Atomwaffen nach Südkorea oder zumindest eine nukleare Teilhabe mit den Vereinigten Staaten im Stil der NATO gefordert. Die USA lehnen jedoch beides ab.

Die Hardliner argumentieren daher, dass Südkorea seine eigenen Atomwaffen haben sollte. Während seiner Teilnahme am Weltwirtschaftsforum Ende Januar wies Yoon diese Idee, eigene Atomwaffen zu entwickeln, zurück und versicherte, Südkorea werde sich an den Atomwaffensperrvertrag halten. Dennoch stieg die öffentliche Unterstützung für die Entwicklung von Atomwaffen von 60 auf 80 Prozent – eine sehr beängstigende Statistik. Glücklicherweise haben die Präsidenten Yoon und Biden im April dieses Jahres, als Yoon Washington besuchte, die Washingtoner Erklärung angepasst, die die bestehende nukleare Abschreckung stärkt. Ich persönlich hoffe, dass diese Erklärung die öffentliche Stimmung gegen eine nukleare Aufrüstung Südkoreas dreht.

Sie warnen vor einem Dominoeffekt in Nordostasien: Wenn Südkorea Atomwaffen hat, könnten andere Länder folgen, allen voran Japan. Nun hat die südkoreanische Regierung unter Yoon Suk-yeol Entschädigungen an koreanische Zwangsarbeiter des japanischen Kolonialismus gebilligt. Kann dies ein erster Ansatz für eine engere Zusammenarbeit mit Japan sein?

Angesichts der nuklearen Bedrohung durch Nordkorea sowie einer zunehmenden Bedrohung durch China ist es für Südkorea unabdingbar, sein Militärbündnis mit den USA zu stärken. Die Regierung Yoon ist aber der Meinung, dies reiche nicht aus: Japan müsse in diesen Rahmen mit einbezogen werden. Deshalb hat Yoon eine stärkere trilaterale militärische Zusammenarbeit zwischen Washington, Tokio und Seoul gefordert – insbesondere im Hinblick auf den Informationsaustausch über die Raketenabwehr mit Blick auf Nordkorea.

In Bezug auf Japan ist die Position von Präsident Yoon einfach und geradeheraus: Die Vergangenheit ist wichtig, aber die Gegenwart und die Zukunft sind noch wichtiger – wir sollten die Gegenwart und die Zukunft nicht aufgrund der historischen Vergangenheit gefährden. Er schlug eine Entschädigung der Zwangsarbeit-Opfer durch Dritte vor, bei der Gelder südkoreanischer Unternehmen, die durch die finanzielle Unterstützung Japans sehr erfolgreich wurden, in einen Entschädigungsfonds für die Opfer und ihre Familien gezahlt werden sollen.

Das Thema Zwangsarbeit wird eine große politische Belastung bleiben, die die Verbesserung der japanisch-südkoreanischen Beziehungen weiterhin trübt.

In Südkorea ist man bezüglich dieses Plans geteilter Meinung. Die Konservativen unterstützen die Idee, weil sie Nordkorea und China als dringendere Probleme ansehen und weil Seoul im Interesse der Sicherheitskooperation das Problem der Zwangsarbeitsthematik mit diesem Entschädigungsfonds lösen könnte. Die Mehrheit der südkoreanischen Bürgerinnen und Bürger ist jedoch strikt dagegen und argumentiert, dass jede Entschädigung oder Wiedergutmachung sinnlos wäre, wenn sie nicht von den für die Zwangsmobilisierung verantwortlichen japanischen Unternehmen getragen würde. Das wäre ein Zeichen dafür, dass Japan seine Vergangenheit nicht bereut. Die Oppositionspartei und die Zivilgesellschaft stellen auch die einzelnen Opfer in den Mittelpunkt, deren Stimmen gehört werden sollten. Man kann insgesamt festhalten: Obwohl Yoon Suk-yeol behauptet, dass das Thema Zwangsarbeit nun ad acta gelegt sei, wird es eine große politische Belastung bleiben, die die Verbesserung der japanisch-südkoreanischen Beziehungen weiterhin trübt.

Der wichtigste Partner – sowohl für Südkorea als auch Japan – sind die USA. Washington beteiligt die japanische Regierung am sogenannten Security Dialogue, am Trilateral Strategic Dialogue mit Australien und am Quadrilateral Security Dialogue mit Indien und Australien. Und manche plädieren sogar dafür, dass Japan dem trilateralen Sicherheitspakt AUKUS zwischen den USA, Australien und dem Vereinigten Königreich beitritt. Fühlt man sich in Seoul außen vor gelassen?

Ja, absolut. Südkorea wurde außen vor gelassen. Die letzten US-Regierungen wollten immer, dass Südkorea in den Quad (Quadrilateral Security Dialogue) aufgenommen wird, das Sicherheitsabkommen zwischen den USA, Japan, Indien und Australien. Die japanische Regierung war jedoch dagegen, Südkorea einzubeziehen, und schlug als Alternative ein Quad Plus vor. Das Plus steht dabei nicht nur für Südkorea, sondern auch für Vietnam und Neuseeland. Die vorherige Regierung unter Moon Jae-in lehnte den Quad-Plus-Vorschlag ab, da Südkorea darin lediglich als Juniorpartner behandelt würde. Präsident Biden besuchte Seoul im Mai letzten Jahres, unmittelbar nach der Amtseinführung von Yoon Suk-yeol. Es ist bekannt, dass der neue südkoreanische Präsident erneut deutlich gemacht hat, Südkorea könne und wolle Quad beitreten, aber Biden ging nicht darauf ein, unter anderem weil Japan weiterhin dagegen ist. Daher setzt die Yoon-Regierung nun auf eine direktere, trilaterale Zusammenarbeit zwischen den USA, Japan und Südkorea.

Es ist das erste Mal, dass die drei Staats- und Regierungschefs aus den USA, Südkorea und Japan ein gemeinsames Gipfeltreffen abhalten.

In diesem Zusammenhang wird das Treffen in Camp David am 18. August von großer diplomatischer Bedeutung sein. Es ist das erste Mal, dass die drei Staats- und Regierungschefs aus den USA, Südkorea und Japan ein gemeinsames Gipfeltreffen abhalten. Biden, Yoon und der japanische Premierminister Fumio Kishida werden ein breites Spektrum an Themen besprechen, darunter die erweiterte Abschreckung gegen Nordkorea, den Austausch von Erkenntnissen über die nordkoreanische Raketenbedrohung und die trilaterale militärische Zusammenarbeit im Rahmen einer indo-pazifischen Strategie. Die wirtschaftliche Sicherheit, insbesondere in Bezug auf die Lieferkette der Halbleiterindustrie, wird ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt sein. Die drei werden auch versuchen, gemeinsame Strategien zu entwickeln, wie sie dem Aufstieg Chinas begegnen können. Es wird erwartet, dass der Gipfel in Camp David ein diplomatisches Dokument hervorbringt, das einen echten Wendepunkt in der trilateralen Sicherheitskooperation darstellt.

Die zahlreichen angesprochenen Militärbündnisse richten sich im Prinzip alle gegen den Aufstieg Chinas. Was ist die Haltung oder der Ansatz der südkoreanischen Regierung mit Blick auf Peking?

Die Yoon-Regierung hat offiziell eine indo-pazifische Strategie verabschiedet, die einerseits eine Kopie der amerikanischen Strategie ist, andererseits aber ihren „integrativen Charakter“ betont. Seoul schließt sich Washington, Tokio und Delhi bei dem Versuch an, China einzudämmen. Die Yoon-Regierung hat dies jedoch nur sehr zurückhaltend öffentlich gemacht. Während sich Südkorea dem von Biden im Mai dieses Jahres ins Leben gerufenen Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity sowie zahlreichen anderen US-zentrierten Aktivitäten angeschlossen hat, betont die Regierung gegenüber Peking immer wieder, dass sie China nicht isolieren oder ausgrenzen will und dass Seoul gesunde Beziehungen pflegen möchte.

Südkorea ist wirtschaftlich zu sehr von China abhängig.

Dies ist ein schwieriger Balanceakt. Yoon hat beispielsweise sehr deutlich gemacht, dass Südkorea keine gewaltsame Änderung des Status quo in der Seestraße von Taiwan wünsche. Die chinesische Regierung war beleidigt und hat offiziell gegen diese Aussage protestiert. Das Problem für Südkorea ist, dass wir wirtschaftlich zu sehr von China abhängig sind. Jede Verschlechterung der Beziehungen hätte direkte Folgen für unsere Wirtschaft. Nicht zu vergessen ist darüber hinaus, dass Peking eine sehr wichtige Rolle für die koreanische Sicherheit spielt und in der Lage ist, mit Waffen- und Öllieferungen an Pjöngjang indirekt Druck auf Seoul auszuüben.

In den USA warnen viele Politiker und Ex-Militärs vor einem potenziellen Krieg gegen China. Wie würden Sie die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts in Ostasien einschätzen?

Die USA sind zu einer regelrechten Gerüchte-Fabrik in Bezug auf ein aggressives China geworden. Diese Gerüchte werden von Washingtoner Thinktanks und anderen Gruppen in die Welt gesetzt, die mit dem militärisch-industriellen Komplex der USA verbandelt sind. Sie wollen vor allem einen höheren Verteidigungshaushalt erreichen und mehr Waffenkäufe forcieren. Ein solcher Trend ist absolut nicht wünschenswert. China ist ein rationaler Akteur. Ich bezweifle, dass China in Taiwan einmarschieren würde; das wäre einfach zu kostspielig. Es würde auch gegen die chinesische Philosophie der Diplomatie verstoßen: Xi Jinping hat immer eine Win-Win-Diplomatie propagiert. Eine chinesische Invasion in Taiwan würde hingegen zu einem Lose-Lose-Ergebnis führen.

Xi Jinping setzt auf Nationalstolz, um sich in China Legitimität zu sichern.

Xi Jinping setzt auf Nationalstolz, um sich in China Legitimität zu sichern. Denn auch wenn China ein von einer Partei dominierter autoritärer Staat ist, kann Xi nicht ohne die Unterstützung des Volkes regieren. Durch die Taiwan-Frage kann er sich Legitimität verschaffen. Wenn die USA mit ihrer Einmischung in die Kerninteressen Chinas zu weit gehen, könnte Peking militärisch reagieren. Das Thema Nationalstolz und Identität ist jedoch nicht die einzige wichtige Dimension. Denn: Sollte China in Taiwan einmarschieren und die taiwanesische Wirtschaft zerstören – die ja eng mit Chinas Wirtschaft verbunden und verflochten ist –, würde dies auch eine wirtschaftliche Katastrophe im eigenen Land bedeuten. Eine Katastrophe, die sich Xi nicht leisten kann.

China und Russland wollen die von ihnen so genannte „westlich dominierte Weltordnung“ aufbrechen und verändern. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist eines der Zentren des Versuchs, die Geopolitik neu zu ordnen. In Seoul wird derzeit darüber diskutiert, ob die ukrainische Armee mit Munition beliefert werden soll. Bedeutet dies, dass Seoul eine neue globale Rolle anstrebt?

Das Vorgehen der südkoreanische Regierung war etwas dubios. Das nationale Recht erlaubt es Südkorea nicht, Waffen an Länder zu liefern, die sich in einem bewaffneten Konflikt befinden. Die offizielle Position ist daher, dass das Land humanitäre und wirtschaftliche Hilfe leistet und beim Wiederaufbau nach dem Krieg unterstützt, während es sich den internationalen Sanktionen gegen Russland anschließt. Laut New York Times hat die südkoreanische Regierung der Ukraine allerdings über den Umweg über die Vereinigten Staaten Munition zur Verfügung gestellt. Washington hatte Seoul demnach gebeten, etwa eine halbe Million Schuss Munition für 155-Millimeter-Haubitzen als Leihgabe zur Verfügung zu stellen, die dann an die Ukraine weitergegeben wurden. Natürlich gehen die Oppositionsparteien deswegen jetzt auf die Regierung los. Später stellte sich sogar heraus, dass jene Munition wohl aus der nationalen Kriegsreserve stammt, und nun gibt es ein Ermittlungsverfahren der Nationalversammlung.

Die Regierung Yoon bemüht sich durch eine gewisse „Wertediplomatie“ um den Status eines „globalen Dreh- und Angelpunkts“, mit dem möglichst viele Staaten kooperieren wollen und können. Im Rahmen dieser diplomatischen Initiative hat sich die Yoon-Regierung aktiv in globale Angelegenheiten eingemischt. Auch die nicht-militärische Hilfe für die Ukraine ist dadurch motiviert. Dabei betont Yoon die Bedeutung der Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Ländern, die dieselben Werte teilen. Man kann insgesamt festhalten: Einerseits bemüht sich Südkoreas Regierung mit ihrer Wertediplomatie um globale Kooperation, andererseits hat sie sich den USA und Japan angeschlossen und trägt so zur Schaffung oder Beibehaltung einer polarisierten Welt bei.

Aus dem Englischen von Tim Steins.