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Das Interview führte Daniel Kopp.
In den französischen Kommunalwahlen konnte das progressive Lager wichtige Siege erringen – unter anderem in französischen Großstädten wie Paris, Lyon, Straßburg, Lille und sogar Marseille, einer Stadt, die seit 25 Jahren konservativ regiert wird. Die französischen und internationalen Medien sprechen von einer „grünen Welle“. Aber zeigt die Wahl nicht eher die Stärke einer vereinten Linken?
Es ist ohne Frage berechtigt, von einer „grünen Welle“ zu sprechen. Doch darf die Rede von einer „grünen Welle“ nicht missverstanden werden als alleiniger Siegeszug der französischen Grünen. Julien Bayou, der Generalsekretär von EELV (Europa Ökologie – Die Grünen) brachte es zutreffend auf den Punkt: „An erster Stelle steht die Ökologie, nicht die Grünen“.
Das Ergebnis der Kommunalwahlen ist sicherlich in erster Linie der Triumph derjenigen politischen Kräfte, die eine ökologische und solidarische Erneuerung des französischen Wirtschafts- und Sozialmodells anstreben. Dabei wird diese Agenda der sozial-ökologischen Erneuerung von einer breiten Allianz im linken Lager getragen, die sich vor allem auf eine erneuerte Sozialistische Partei und die zu einer eigenständigen und ernst zu nehmenden politischen Option aufgestiegenen Grünen stützt.
Es ist dieser „sozial-ökologische Block“ einer erneuerten Linken, der sich nicht auf eine politische Kraft reduzieren lässt, die der Sieger dieser Kommunalwahlen ist. Und die teils spektakulären Einzelerfolge dieses Blocks gab es vor allem dort, wo – wie beispielsweise in Marseille – die sonst im linken Lager altbekannten parteipolitischen Profilierungsinteressen dem gemeinsamen Ziel einer ökologischen und solidarischen Neuausrichtung der Kommunalpolitik untergeordnet wurden.
„Grüne Welle“ meint also, wie gesagt, dass sich das Anliegen einer sozial-ökologischen Transformation auf sehr breiter Linie verankert hat. Dies hat selbstverständlich auch zu einem beeindruckenden Erstarken der Grünen als parteipolitischer Kraft geführt. Regierten die Grünen zuvor mit Grenoble nur eine Stadt mit über 100 000 Einwohnern, werden sie nun Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Städten wie Marseille, Lyon, Straßburg und Bordeaux stellen. Doch gerade diese schillernden Siege haben die Grünen nicht alleine aus eigener Kraft, sondern in Allianz mit anderen Parteien des „sozial-ökologischen Blocks“ errungen. Es ist deshalb richtig, dass das Wahlergebnis mehr noch als die sicherlich gegebene Stärke der Grünen vor allem die Stärke eines geeinten linken Lagers widerspiegelt.
Die Sozialisten nehmen traditionell die hegemoniale Position auf der linken Seite ein. Warum waren sie offen für Bündnisse bei den Kommunalwahlen?
Die Sozialisten hatten explizit auf ihre angestammte hegemoniale Position im linken Lager verzichtet und waren bereit, sich hinter Kandidatinnen und Kandidaten der Grünen oder anderer linken Kräfte einzureihen. Der PS-Vorsitzende Olivier Faure erinnerte dann auch gleich daran, dass die französische Linke immer dann verliert, wenn sie gespalten ist, wenn sie sich aber verbündet, Siege erringen kann.
Wenn vom Triumph einer „grünen Welle“ gesprochen werden kann, dann schließt dies sicherlich eine erneuerte sozialistische Partei mit ein. Die PS hat nach den demütigenden Wahlergebnissen bei den Präsidentschafts- und Europawahlen ein Ergebnis eingefahren, das ihr wieder Leben einhaucht und ihren Status als wichtige politische Kraft untermauert. Sie hat nicht nur Paris verteidigt, sondern zudem in einer ganzen Reihe weiterer wichtiger Städte den Sieg davongetragen.
Es ist dabei aber sicherlich kein Zufall, dass sie sich dort besonders eindrucksvoll behaupten konnte, wo ihre Kandidatinnen und Kandidaten mit einem ausgeprägten sozial-ökologischen Profil ins Rennen gingen – wie insbesondere Anne Hidalgo in Paris, aber auch Johanna Rolland in Nantes oder Nathalie Appéré in Rennes. Aber selbst dort, wo PS-Bastionen wie Lille oder Dijon durch starke grüne Herausforderer bedroht waren, konnten Urgesteine der Partei wie Martine Aubry und François Rebsamen sich im Amt behaupten.
Was könnte das für die Präsidentschaftswahlen 2022 bedeuten – ist es realistisch, dass sich das progressive Lager hinter einem Kandidaten vereinen könnte?
Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen gilt es zunächst einmal, den bei diesen Kommunalwahlen erfolgreichen sozial-ökologischen Block zu konsolidieren. Es ist zu hoffen, dass das Erfolgserlebnis im linken Lager nachhaltig die Bereitschaft fördert, Profilierungsbedürfnisse und Hegemoniebestrebungen im Zaum zu halten. Da kommt es nicht zuletzt auch darauf an, ob sich Mélenchons La France Insoumise in den sozial-ökologischen Block einbinden lässt. Aber allen linken Kräften sollte klar sein, dass sich bei den kommenden Präsidentschaftswahlen eine Neuauflage des Duells Macron-Le Pen nur mit einer geeinten Kandidatur vermeiden lässt.
Präsident Emmanuel Macron musste eine ordentliche Schlappe bei den Kommunalwahlen hinnehmen. Einzig sein Premierminister Édouard Philippe wurde in der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre wiedergewählt. Was sagt das über Macrons Chancen für die Präsidentschaftswahlen 2022 aus?
Wenn auf der einen Seite der „sozial-ökologische Block“ als klarer Wahlsieger steht, steht auf der anderen Seite Macrons En Marche als eindeutiger Verlierer. En Marche ist nicht nur mit seinem Anspruch gescheitert, sich als noch neue politische Kraft in der Fläche zu verankern, sondern hat auch eine Reihe empfindlicher Niederlagen in symbolisch wichtigen Städten erlitten: so in Paris, wo die ehemalige Gesundheitsministerin Agnes Buzyn nur auf den dritten Platz kam und nicht einmal als Stadträtin gewählt wurde; aber auch im als macronistische Hochburg geltenden Lyon und in Bordeaux, wo En Marche im zweiten Wahlgang die Kandidaten der konservativen Republikaner unterstützte.
Die Gründe für diese „politische Wende“, wie Jannick Jadot von den Grünen das Wahlergebnis interpretiert, liegen in einer sehr tiefen Enttäuschung ob der fehlenden ökologischen, aber auch sozialen Akzente der Politik von Emmanuel Macron. Hatte diese Enttäuschung sich zuvor schon in sozialen Protesten und den Mobilisierungen der Klimaaktivisten Ausdruck verschafft, so hat sie zuletzt En Marche auch den Verlust der absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung gekostet. Die Covid-Pandemie hat die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik noch verstärkt. Zudem hat die Erfahrung des pandemiebedingten wochenlangen Stillstands des wirtschaftlichen und sozialen Lebens bei vielen Französinnen und Franzosen die Infragestellung unserer konsumorientierten Lebensweise befördert; „ökologische“ Themen haben so sicherlich zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang nochmals einen beträchtlichen Schub erhalten.
Macron wird sich auch mit der erwarteten Regierungsumbildung schwertun, bei der viele eine Ablösung seines Premiers Édouard Philippe für wahrscheinlich hielten. Nun wird es ihm schwerfallen, sich von Philippe zu trennen und damit eine deutliche Richtungsänderung nach links zu vollziehen. Auch durch den Verlust der eigenen Mehrheit in der Nationalversammlung ist er mehr denn je auf Alliierte in der moderaten Rechten angewiesen. Zudem hat er in der Covid-Krise sehr stark einen national-patriotischen Diskurs bemüht, in dem nationale Unabhängigkeit und Souveränität betont werden. Es bleibt abzuwarten, ob dies einer kontrastierenden Profilierung gegenüber Le Pen abträglich ist.
Wie ist das Abschneiden von Marine Le Pens Rassemblement National zu bewerten, das mit dem Sieg von Louis Aliot in Perpignan Schlagzeilen gemacht hat? Und wie sind ihre Aussichten für die Präsidentschaftswahlen?
Noch kurz vor dem Wahlgang am Sonntag wurde eine Umfrage veröffentlicht, die einmal mehr bestätigte, dass es bei den Präsidentschaftswahlen 2022 im zweiten Wahlgang wieder zu einem Aufeinandertreffen zwischen Macron und Le Pen kommen wird, mit einem diesmal allerdings knapperen Vorsprung als noch 2017 für Macron. Beide – Macron und Le Pen – gehen aus den Kommunalwahlen geschwächt hervor.
Das Rassemblement National selbst hat aus der Schwäche Macrons bislang nur bedingt Nutzen ziehen können. Dass sie mit Perpignan wieder eine Stadt mit über 100 000 Einwohnern gewinnen konnten, vermag nicht über ein ansonsten unbefriedigendes Wahlergebnis hinwegzutäuschen. Von einer Ausdehnung der territorialen Verankerung der Rechtspopulisten kann jedenfalls nicht gesprochen werden. Aber solange auf der Linken keine wirklich ernsthafte Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen entsteht, bleibt Marine Le Pen weiter im Rennen.