Die Fragen stellten Joscha Wendland und Nikolaos Gavalakis.
Vor 20 Jahren traten im Zuge der Osterweiterung zehn osteuropäische Staaten, darunter die baltischen Länder, aber auch Polen und Ungarn der Europäischen Union bei. Sie haben in der Vergangenheit die von Ihnen vorbereitete Erweiterungsrunde 2004 als bedeutendste historische Leistung der EU seit ihrer Gründung gewertet. Teilen Sie diese Einschätzung auch noch heute?
Ja, unbedingt. Sogar noch eindringlicher. Aus der Sicht von heute ist es ein kleines Wunder, dass es möglich gewesen ist, dieses Projekt zu verwirklichen. Die EU wäre heute dazu nicht mehr in der Lage. Das war damals nur möglich, weil der Geist eines neuen, geeinten Europas noch lebendig war und Regierungen, Parlamente und Gesellschaft in den Kandidatenländern bereit waren, die Mühen der Transformation auf sich zu nehmen. Nur dadurch konnte das erfolgreich sein. Jetzt, 20 Jahre später, würde ich sagen, dass das Wesentliche, das erreicht werden sollte, auch erreicht wurde. Aber natürlich ist das nicht das Ende der Fahnenstange. Um es leicht abgewandelt mit Willy Brandt zu sagen: Es ist noch nicht alles zusammengewachsen, was zusammengehört.
Nicht alle der damals beigetretenen Länder produzieren rein positive Schlagzeilen. Könnte man nicht mit Blick auf Staaten wie zum Beispiel Ungarn sagen, dass der Beitritt zur EU womöglich etwas zu früh war?
Das könnte man dann auch für einige Alt-Mitglieder sagen. Welches Land sorgt schon immer für die beste Presse? Es ist interessant, dass Sie gerade das Beispiel Ungarn wählen. Ungarn war damals im Jahr 2000 Everybody’s Darling. Ungarn war das Land, das den Eisernen Vorhang geöffnet hatte. Es war damals geradezu eine Liebesbeziehung zwischen der EU und Ungarn. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, zu sagen, Ungarn gehöre nicht in die Europäische Union. Demokratische Wahlen produzieren nicht immer notwendigerweise Ergebnisse, die sich andere wünschen. Ich halte auch nichts davon, Menschen für ihr Wahlverhalten zu bestrafen.
Aktuell würde niemand mehr die Beziehung zwischen der EU und Ungarn als Liebesbeziehung bezeichnen.
Nein, absolut nicht. Und das schon seit zehn Jahren nicht mehr. Aber wir sollten nicht den Fehler machen, die ungarische Demokratie abzuschreiben. Ungarn ist nach wie vor eine Demokratie und das Schicksal, das Jarosław Kaczynski in Polen widerfahren ist, wird Viktor Orbán auch passieren.
Sie haben sich in der Vergangenheit auch für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen und gesagt, dass bezüglich eines EU-Beitritts des Landes keine weiteren Hindernisse mehr auf dem Tisch lägen. Wie beurteilen Sie die Situation heute?
Die EU hat die Türkei verloren. Und das ist einer der schwerwiegendsten strategischen Fehler, den sie in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Im Gegensatz zur Osterweiterung, bei der ein Akt historischer Gerechtigkeit im Vordergrund stand, ist der Fall Türkei ein geopolitischer. Die feste Einbindung der Türkei in EU-Strukturen ist eine zentrale sicherheitspolitische Frage, denn die Türkei liegt an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien.
Die feste Einbindung der Türkei in EU-Strukturen ist eine zentrale sicherheitspolitische Frage.
Als der Europäische Rat die Türkei 1999 als Beitrittskandidat anerkannte, entwickelte das Land eine unglaubliche Reformdynamik, die 2002 am stärksten war, als Erdoğan an die Macht kam. Das ist heute natürlich vergessen. 2005 kam es dann zum Regierungswechsel in Deutschland und das Referendum über die Europäische Verfassung scheiterte in Frankreich. Chirac machte unter anderem die Türkeipolitik der EU dafür verantwortlich. Merkel behauptete wiederum, die Türkei sei ein anderer Kulturkreis mit einer anderen Religion, die nicht zu Europa gehöre. Damit war die Sache erledigt. Aus welchem Grunde sollte sich die Türkei dann noch weiter Mühe geben?
Gehört zu der Erzählung nicht auch eine deutliche Kritik am Erdoğan-Regime?
Keine Frage. Ich sage nicht, dass die EU schuld an dem ist, was seitdem in der türkischen Innen- und Außenpolitik passiert. Aber ich sage, dass die EU ganz leichtfertig auf jede Möglichkeit der Einflussnahme auf die innere Entwicklung der Türkei und auf die türkische Politik verzichtet hat. Nun neigt sich das Erdoğan-Regime dem Ende zu, aber ob man noch einmal zurückkehren kann zu der Situation von 1999 oder 2004, da habe ich ganz starke Zweifel. In dem Teil der türkischen Bevölkerung, für die es ein Herzenswunsch war, als Europäer akzeptiert zu werden, ist die Enttäuschung und die Frustration natürlich sehr groß.
Schauen wir Richtung Balkan. Mehrere Länder, unter anderem Albanien, Montenegro und Serbien, stehen auf der Liste der Beitrittskandidaten. Wie blicken Sie auf eine bevorstehende Balkanerweiterung der EU?
Die sogenannten Westbalkan-Staaten haben bereits seit 1999 eine Beitrittsperspektive. Sie sollte der Anreiz für die Länder der Region sein, für Frieden, Stabilität und gute Nachbarschaft zu sorgen. Das wurde zunächst sehr aktiv verfolgt, aber nach einiger Zeit hat die EU nicht mehr viel getan, um diesen Prozess lebendig zu halten. Man könnte argumentieren, dass, wenn die EU etwas energischer gewesen wäre – wie bei der Osterweiterung 2004 –, wir heute weiter wären. Entscheidend ist aber etwas anderes: Diese nächste Runde wird nicht möglich sein ohne Veränderungen im institutionellen System der EU. Die Aufnahme von mehreren Klein- und Kleinststaaten würde die demokratische Balance innerhalb der EU verändern. Bei unserem jetzigen System könnten diese Staaten dann den Kurs der EU bestimmen. Es besteht weitgehender Konsens, dass die nächste Erweiterung mit einer institutionellen Reform verbunden sein muss. Nur ein Beispiel: Kann man sich eine Kommission mit 37 Mitgliedern oder mehr vorstellen, von denen sieben aus dem ehemaligen Jugoslawien kämen, aber nur eines aus Frankreich? Ob ein solches System in der Bevölkerung Akzeptanz finden würde, bezweifle ich. Ehe diese Beitrittsrunde abgeschlossen wird, braucht es einen neuen europäischen Vertrag, den es in Anbetracht der rechtspopulistischen Welle und der derzeitigen Verhältnisse in Europa in nächster Zeit nicht geben wird. Das Ziel der Erweiterung ist nach wie vor richtig, aber zunächst muss die Frage der weiteren Funktionsfähigkeit der EU geklärt werden.
Ende letzten Jahres haben die EU-Staaten beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Realistisch betrachtet ist das Land noch sehr weit davon entfernt, Mitglied zu werden. Ist die Mitgliedsperspektive für Kiew ein Ansporn für Reformen oder reine Symbolpolitik, die zusätzlich falsche Hoffnungen weckt?
Ich glaube beides. Aber ich neige eher dazu, dass es eine reine Symbolhandlung ist, die in der aktuellen Situation durchaus ihren Wert für die Ukraine haben mag. Eine realistische Perspektive für einen Beitritt der Ukraine ist damit zunächst einmal jedoch nicht verbunden. Ich will aber nicht ausschließen, dass eine ganze Reihe von Akteuren in der EU auch guten Glaubens ist, dass man mit dieser Perspektive das Land zu den notwendigen Reformen ermutigen kann. Tatsächlich haben wir es mit tiefgehenden strukturellen Problemen in der Ukraine zu tun – die endemische Korruption, die tief verwurzelte Macht der Oligarchen und der Radikalismus der Ultrarechten –, die diesen Prozess sehr schwierig gestalten. Hinzu kommt das Kriegsrecht. Angesichts all dessen bin ich eher pessimistisch, was die Perspektiven angeht.
Tatsächlich haben wir es mit tiefgehenden strukturellen Problemen in der Ukraine zu tun.
Wir wissen auch nicht, welche politische und territoriale Gestalt die Ukraine haben wird, mit der dann ernsthafte Verhandlungen geführt werden könnten. In den Verhandlungen werden schwierigste Fragen hochkommen, die bereits heute für massiven Ärger in einigen EU-Staaten sorgen, wie etwa die Landwirtschaft. Und dann sind da auch noch die Kosten, die durch einen Beitritt der Ukraine entstehen würden. Die Mittel dafür müssen aufgebracht und verteilt werden. Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten: Die Beiträge der Mitgliedstaaten erheblich erhöhen oder die Leistungen deutlich kürzen. Beides wird sehr wehtun. Vor allen Dingen werden sie den größten Nettoempfänger, Polen, treffen, sodass die Begeisterung dort für einen schnellen Abschluss sich relativ schnell abkühlen wird, wenn wir in die Nähe ernsthafter Verhandlungen mit der Ukraine kommen.
Hat die EU, was die Ukraine betrifft, Fehler gemacht?
Ohne Zweifel. Fast 25 Jahre lang war es die Brüsseler Politik, die Ukraine auf Abstand zu halten. Noch im 2014 gebilligten Assoziierungsabkommen wurde der Ukraine der Wunsch nicht erfüllt, eine EU-Beitrittsperspektive zu bekommen. Die EU hatte sich in den Verhandlungen 2011 schlicht geweigert, Bezug auf den EU-Vertrag zu nehmen, worin steht, dass jeder sich um einen Beitritt bemühen kann. Die europäische Position war bis 2014 ganz klar von Distanz gekennzeichnet. Das hat sich dann, vor allem durch amerikanischen und englischen Druck – und natürlich durch den Krieg – geändert. Aber hätte die EU eine gesamteuropäische Strategie gehabt, hätten wir 2014 schon sehr viel weiter sein können. Vielleicht gäbe es dann auch heute keinen Krieg.
Neben der Ukraine werden mit der Republik Moldau Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Auch Georgien ist offizieller Beitrittskandidat. Besteht für Brüssel nicht die Gefahr einer imperialen Überdehnung?
Nun, der Begriff „Überdehnung“ wird gewöhnlich in Bezug auf Imperien angewandt. Man kann der Europäischen Union sicherlich eine Menge vorwerfen, aber imperiale Gelüste hat sie nicht. Es wird niemand gezwungen, dabei zu sein, niemand wird unterdrückt. Der Gedanke der europäischen Einigung ist gesamteuropäisch und die EU ist ein Instrument, um diese europäische Einheit herzustellen, denn ihrem Wesen nach ist die EU ein Friedensbund. Die alte Lektion, dass Europa nur dort friedlich ist, wo es geeint ist, gilt heute unvermindert.