Die Fragen stellte Alexander Isele.

Staats- und Parteichef Xi Jinping hat auf dem Volkskongress den USA vorgeworfen, China einkreisen und isolieren zu wollen. Der neue Regierungschef Li Qiang warb aber für einen Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Peking und Washington. Wie sieht China das Verhältnis zu den USA?

Die US-China-Beziehungen sind leider in einem gefährlich schlechten Zustand und Ausdruck eines strategischen Wettbewerbs, beziehungsweise eines strukturellen Hegemonial- und Systemkonflikts. Dabei bezeichnet Peking diese als das wichtigste bilaterale Verhältnis der Welt. Die chinesische Führung erhebt den Anspruch – im Sinne seiner sogenannten großen Länder-Diplomatie –, dass Peking von Washington auf Augenhöhe behandelt werden sollte, und mahnt Washington an, Worten der Verständigung auch Taten folgen zu lassen.

Nachdem es im Zuge des Treffens zwischen US-PräsidentJoe Biden und Chinas Staatspräsident Xi Jinping auf dem G20-Gipfel in Bali im November vergangenen Jahres einen kurzen Hoffnungsschimmer gab, befinden sich die Beziehungen aktuell wieder in einer gefährlichen Abwärtsspirale. Versuche, ein „Sicherheitsnetz“ (chinesischer Ausdruck) beziehungsweise „Leitplanken“ (amerikanischer Ausdruck) einzuziehen, um das Abgleiten in eine Konfrontationsdynamik zu verhindern, sind bis auf Weiteres gescheitert. Sehr bedenklich sind in diesem Sinne auch die Meldungen, dass die Krisen-Kommunikationskanäle beider Länder nachhaltig gestört sind.

Auf dem Volkskongress hat der neue Premierminister Li Qiang in Anlehnung an Xi Jinpings vorherige Aussagen bei einer Pressekonferenz relativ nüchtern festgestellt, dass „Einkreisung und Unterdrückung“ sowie der von einigen Personen forcierte „Hype eines Decoupling“ weder im Interesse der USA noch Chinas wäre. Chinas neuer Premier signalisiert somit recht pragmatisch die grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit.

Deutlich schärfer waren die Aussagen von Chinas neuem Außenminister Qin Qing ...

Richtig. Der sagte auf seiner Pressekonferenz, dass China keine „unilateral von Washington vorgeschlagenen Leitplanken“ akzeptiere, die Peking zukünftig nur davon abhalten sollen, auf Provokationen zu reagieren. Wenn die USA nicht auf die Bremse trete und stattdessen weiterhin auf dem falschen Pfad beschleunigt, helfen keine Leitplanken „beim Entgleisen“ und es komme sicherlich zum Konflikt. Diese Politik mache die Zukunft der Menschheit zu einem Glücksspiel, so Qin. Die Indo-Pazifik-Strategie der USA bezeichnete er als die „Indo-Pazifik-Version der NATO“. 

Qin Qing bekräftigte, dass sich Peking alle notwendigen Mittel vorbehält, um die Souveränität über Taiwan zu sichern.

In Bezug auf Taiwan sagte er, dass Taiwan die „erste rote Linie“ in den US-China-Beziehungen sei, die niemals überschritten werden dürfe. Qin bekräftigte, dass sich Peking alle notwendigen Mittel vorbehält, um die Souveränität über Taiwan zu sichern. Chinas Außenminister signalisiert somit gleichzeitig Pekings grundsätzliche Bereitschaft, für seine Kerninteressen einen Konflikt auszutragen.

Auf die jüngsten Aussagen aus dem Weißen Haus, dass US-Präsident Biden von einem baldigen Gespräch mit Xi Jinping ausgeht, reagiert Peking bislang verhalten. Aber nachdem der geplante Peking-Besuch von US-Außenminister Antony Blinken bis auf Weiteres verschoben wurde, dürfte ein erneuter Austausch auf oberster Entscheidungsebene notwendig sein, um zumindest ein Minimum an strategischem Vertrauen wieder aufzubauen. 

Neben der Wiederwahl Xis zum Präsidenten für die kommenden fünf Jahre war vor allem die Neubesetzung des Ministerpräsidenten Li Qiang das wichtigste personalpolitische Ereignis des diesjährigen Volkskongresses. Für was steht Li?

Li Qiang wird nachgesagt, ein großer Förderer der Digitalwirtschaft zu sein, der auch internationale Unternehmen wie Tesla erfolgreich nach Shanghai gebracht hat. Als Shanghais Parteisekretär war er ohnehin für eines der wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentren des Landes mit 70 000 internationalen Unternehmen verantwortlich. Kontroverser wird seine Bilanz beim Management des drakonischen Corona-Lockdowns im Frühjahr 2022 in Shanghai gesehen.

Li Qiang gilt als enger Vertrauter Xi Jinpings und es wird zumindest erwartet, dass er mehr Beinfreiheit als sein Vorgänger Li Keqiang haben dürfte.

Li Qiang gilt als enger Vertrauter Xi Jinpings und es wird zumindest erwartet, dass er mehr Beinfreiheit als sein Vorgänger Li Keqiang haben dürfte. Da er seine Karriere bislang fast ausschließlich im prosperierenden Jangtse-Delta – also in Shanghai und den reichen Provinzen Zhejiang und Jiangsu – verbracht hat, fehlt ihm bislang allerdings die Erfahrung in der Pekinger Zentralregierung sowie mit weniger entwickelten Provinzen. Schlussendlich bieten diese biografischen Eckdaten und die damit verbundenen Einschätzungen jedoch lediglich Hinweise, wofür Li Qiang steht. Für eine Bewertung ist es schlichtweg noch zu früh.

Li warb im Privatsektor sowie bei ausländischen Investoren um Vertrauen in die schwächelnde chinesische Wirtschaft. Welche Impulse gehen ökonomisch vom Volkskongress aus?

Die chinesische Führung hat für 2023 als Planziele vergleichsweise moderate fünf Prozent Wirtschaftswachstum sowie die Schaffung von zwölf Millionen neuen Arbeitsplätzen vorgegeben und würde damit nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds immerhin ein Drittel zum weltweiten Wachstum beitragen. Chinas Entscheidungsträger bekräftigten das neue Entwicklungskonzept sowie die sensible Umstellung vom Wirtschaftsmodell des quantitativen Wachstums zu mehr sozioökonomischer Stabilität sowie zu sogenannter hoch-qualitativer Entwicklung, um ein auf allen Gebieten modernes sozialistisches Land zu werden.

Im Arbeitsbericht der Regierung wird die Zielsetzung einer grünen Transformation bekräftigt. Durch den Auf- und Ausbau einer umweltbezogenen Infrastruktur in Stadt und Land sollen verstärkt Ökosysteme geschützt und wieder hergestellt werden. Die saubere und hocheffiziente Nutzung von Kohle soll zudem gefördert und entsprechende Technologien erforscht und entwickelt werden, was auf einen verlangsamten Ausstieg aus der Kohlenutzung zugunsten von Energiesicherheit hindeuten könnte. Allerdings wurde die Realisierung von Chinas bekannten 2030er bzw. 2060er Klimazielen erneut bekräftigt, also in sieben Jahren den Höchststand beim CO2-Ausstoß zu erreichen und in 37 Jahren Klimaneutralität.

Wie soll der wirtschaftliche Wiederaufschwung gemeistert werden?

Die chinesische Regierung setzt vor allem auf den Binnenmarkt und damit auf eine gesteigerte Konsumquote und auf in Pandemiezeiten aufgestaute Investitionen und Konsum. Nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden sozioökonomischen Schäden der Null-Covid-Politik leidet die chinesische Wirtschaft jedoch auch unter einer massiven Vertrauenskrise, zu der auch längerfristige Trends wie die schnell alternde Bevölkerung sowie ein sinkendes Produktivitätswachstum beitragen.

Die auf der Zentralen Wirtschaftlichen Arbeitskonferenz im Dezember 2022 eingeleitete Kurskorrektur, welche neben der Staatswirtschaft auch die wichtige Rolle der Privatwirtschaft wieder explizit hervorhebt, wurde erneut bekräftigt. Landwirtschaft, Industrie-, Technologie-, und Bildungssektor und damit implizit die Sicherheit bei Lieferketten, Nahrungsmitteln, Energie, Rohstoffen sowie die technologische Unabhängigkeit sollen gefördert werden.  

Nicht nur die Erforschung und Entwicklung, sondern auch die Anwendung und Verbreitung von Spitzentechnologien sollen durch neue Forschungseinrichtungen beschleunigt werden. Eine zentrale Technologie-Kommission wurde neu etabliert, die sich insbesondere mit der Beseitigung von Chinas technologischen Schwachstellen wie etwa Halbleitern beschäftigen wird. Ebenso wurde die Schaffung einer neuen nationalen Finanzaufsichtsbehörde bekannt gegeben, die Systemrisiken für den Finanzsektor überwachen soll. Die neue Behörde dürfte dementsprechend auch Einfluss auf große Initiativen wie die Global Development Initiative, die Belt and Road Initiative und Chinas internationale Kreditvergabe haben. Xi Jinping betonte erneut, dass Entwicklung und Sicherheit sich gegenseitig bedingen. An den zwei Sitzungen nahmen über 100 Vertreter der Rüstungs- und Raumfahrtindustrie sowie von Halbleiterproduzenten und Firmen aus dem Bereich künstlicher Intelligenz teil. Die Zusammensetzung des neuen Staatsrats spiegelt insgesamt den Fokus auf Technologie, Sicherheit und sozioökonomische Stabilität wider.

Neben dem Zwölf-Punkte-Positionspapier für die Ukraine hat Peking zeitnah ein Positionspapier zur Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) vorgelegt. Die chinesische Sicherheitsinitiative gewinnt damit an Statur. Worum geht es China dabei?

Im kürzlich vorgelegten Positionspapier zu Chinas Globaler Sicherheitsinitiative werden zentrale Konzepte, Prinzipien und erste Vorstellungen unterbreitet, wie sich Peking eine grundsätzliche Reform der Weltordnung sowie eine neue globale Sicherheitsordnung vorstellt. Damit verbunden ist der Anspruch, dass China als großes und starkes Land zunehmend die Weltordnung mitgestaltet, zentraler Interessensvertreter der Entwicklungsländer ist und als friedensstiftende Macht wahrgenommen wird. In Peking wird beispielsweise die kürzlich bekannt gewordene Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien als Erfolg chinesischer Vermittlung und als Eröffnungsakt der GSI dargestellt. Als Essenz der chinesischen Vision von Sicherheit wird in dem Papier das „Konzept gemeinsamer Sicherheit“ benannt.

Unter den ersten Punkten des GSI-Positionspapiers fordert Peking den Respekt für die Souveränität, territoriale Integrität und die Prinzipien der UN-Charta, während jede Form von „Block-Konfrontation“ abgelehnt wird. Darauf folgt der Verweis auf das Prinzip unteilbarer Sicherheit, wonach kein Land auf Kosten eines anderen Landes seine Sicherheitsinteressen verfolgen sollte. Letzteres deckt sich auch mit Aussagen russischer Offizieller und dürfte nicht zuletzt eine indirekte Kritik an den USA sein, denen Peking immer expliziter vorwirft, seine Sicherheitsinteressen kriegerisch und egoistisch auf Kosten anderer Länder durchzusetzen. 

Nicht zuletzt wird in dem GSI-Positionspapier das auf dem Volkskongress bekräftigte Verständnis umfassender nationaler Sicherheit hervorgehoben, wonach traditionelle wie nicht traditionelle Sicherheitsbereiche zunehmend miteinander vernetzt und entsprechend adressiert werden müssen. Im letzten Abschnitt wird unter der Überschrift „Prioritäten der Kooperation“ angekündigt, im Rahmen des GSI-Rahmenwerks bilaterale und multilaterale Sicherheitskooperationen voranzutreiben. Wiederholt wird der „Konsens, dass ein Nuklearkrieg nicht gewonnen kann und niemals gekämpft werden darf“, während eine Unterstützung für zentrale Rüstungskontroll- wie Nichtverbreitungs-Verträge bekräftigt wird. Explizit wird die trilaterale Kooperation zwischen China, Afrika und Europa bei Kleinwaffen und leichten Waffen genannt.

Ziel ist es, dass sich so viele China wohlgesonnene Länder und Organisationen wie möglich hinter der Initiative versammeln, um zu untermauern, dass sich das Gravitations-Zentrum der Welt in Richtung der Entwicklungsländer verschiebt.

Am Ende des Papiers wird für die Umsetzung der genannten Konzepte, Prinzipien und Mechanismen auf regionale Organisationen wie die Shanghai Corporation Organisation, BRICS, ASEAN sowie die Afrikanische Union verwiesen. Ziel ist es, dass sich so viele China wohlgesonnene Länder und Organisationen wie möglich hinter der Initiative versammeln, um zu untermauern, dass sich das Gravitations-Zentrum der Welt in Richtung der Entwicklungsländer verschiebt.

Wie kann der Westen darauf reagieren?

Spannend wäre es dementsprechend, mit Peking zu klären, wie wir neben einer Block-Konfrontation zukünftig auch eine „Club-Konfrontation“ vermeiden können. Pekings Verweis auf die UN-Charta, die territoriale Integrität, den Verzicht auf den Einsatz von Nuklearwaffen sowie auf internationale Rüstungskontrolle bieten in jedem Fall interessante Anknüpfungspunkte für den außen- und sicherheitspolitischen Dialog.