Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.

Interview von Benjamin Schreiber.

In ŸFrankreich kommt es seit Monaten zu heftigen sozialen Demonstrationen. Wie lässt sich die Zunahme dieser Bewegungen recht unterschiedlicher Herkunft erklären?

Hier sind die professionellen Protestbewegungen der Staatsangestellten von der Bewegung der Gelbwesten zu unterscheiden. Erstere lehnen Privatisierungen ab oder sie verlangen mehr Mittel für die korrekte Ausführung der wachsenden öffentlichen Aufgaben sowohl im Bereich Sicherheit als auch bei Gesundheit und Erziehung.

Aber noch stärker drücken diese Protestbewegungen die große Besorgnis über den neoliberalen Kurs der verschiedenen Regierungen seit 2007 aus. Die neoliberalen Reformen haben dazu geführt, dass Personal reduziert und Budgets gekürzt wurden, auch wenn diese Reduzierung deutlich geringer ausfällt als in Deutschland in den 1990er Jahren. Neben der Frage nach den Kosten oder den Arbeitsbedingungen stellt sich eine wesentlich philosophischere und zwar jene nach der Zukunft des öffentlichen Diensts, seit 1875 in Frankreich ein Grundstein der Französischen Republik: Er vereint die Idee der Solidarität, einer positivistischen Philosophie, die Erziehung und Wissenschaft Vorrang einräumt, und des Laizismus, der den Staat zum Garant der zivilen Eintracht durch die Neutralisierung der Religionen im Öffentlichen Raum macht. Der Begriff des Öffentlichen Diensts „à la française“ ist ein völlig anderer als der von den „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, wie sie die Europäische Union entwickelt hat und welche die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen legitimiert bzw. unterstützt.

Im Grunde auch wenn sich dies je nach beruflichem Background unterschiedlich äußert drücken die Demonstrationen eine tiefe Angst vor dem Ende eines Gesellschaftsmodells aus, das tief in der Kultur der Beamtenschaft aber auch der Nutzer öffentlicher Dienstleistungen verankert ist.

Hinter all diesen Protesten steht die Idee, dass der Laizismus nicht mehr respektiert wird, die nationale Solidarität nicht mehr funktioniert oder die führenden Schichten nicht interessiert, und dass die Wissenschaft vor der Ignoranz zurückweicht. Die protestierenden Lehrer, Polizisten, Mediziner und Pflegekräfte sind der Meinung, dass sie durch ihre tägliche Arbeit einen gesellschaftlichen Wandel ausgleichen müssen, der durch den globalisierten Kapitalismus bedingt ist und jetzt zu Unsicherheit, Gewalt und sozialer Ausgrenzung führt.   

Und worum geht es bei den Gelbwesten?

Bei der Bewegung der Gelbwesten haben wir es mit einer Protestbewegung zu tun, die von normalen Bürgerinnen und Bürgern innerhalb der sozialen Netzwerke organisiert wird. Gewerkschaften sind nicht beteiligt. Diese Protestbewegung tritt häufig recht gewalttätig auf, wird jedoch von der gleichen Angst getrieben.

Die „Gelbwesten“ sind im Wesentlichen Leute aus den unteren Mittelschichten, die eine Verschlechterung ihres Lebensstandards oder des Lebensstandards der zukünftigen Generationen befürchten. Sie lehnen den Kapitalismus ab, nicht aber die kleinen Unternehmen, und sie wenden sich gegen den Staat, weil er ihrer Ansicht nach einen ungerechten Steuerdruck ausübt und das Angebot an öffentlichen Dienstleistungen vor allem in den ländlichen Regionen einschränkt.

Die populistische Dimension ist in der Bewegung der Gelbwesten sehr präsent. Ihr politisches Zentrum sieht sich zumindest wenn man die Wählerschaft analysiert, die diese Bewegung unterstützt daher näher an der Nationalen Bewegung von Marine Le Pen als an der Bewegung „Unbeugsames Frankreich“ von Jean-Luc Mélenchon.

Insgesamt kann man zwei Protestbewegungen mit ganz unterschiedlicher politischer Herkunft beobachten links und linksradikal, was die Berufsorganisationen betrifft, radikal und rechts was die Gelbwesten angeht. Sie haben jedoch zwei Ursachen gemeinsam: das Ende einer Lebensweise, die durch öffentliche Dienstleistungen abgesichert wird, und die Ablehnung des globalisierten Kapitalismus.

Wie sehr ist Präsident Macron durch seine Vorgehensweise mitverantwortlich für die aktuelle Krise?

Wir sollten besser vom „Macronismus“ als Doktrin sprechen als nur von der Vorgehensweise Emmanuel Macrons. Der Macronismus ist Opfer und gleichzeitig Hauptdarsteller dieser Entwicklung, die er beschleunigt hat. Er wollte die Politik aus dem Verharren zwischen links und rechts herausholen und die Mobilität in Gesellschaft und Beruf vorantreiben.

Ein Ziel Macrons war es, das soziale System so zu verändern, dass die Verantwortung des Einzelnen gestärkt wird. Gesetzliche Vorschriften, die das Berufsleben insbesondere im Öffentlichen Dienst unflexibel gestalten, sollten aus dem Weg geräumt werden.

Zusammengefasst ist der Macronismus die Anwendung von Manager-Regeln auf die Politik: Pragmatismus, Effektivität, Kostenreduktion. Das Ärgerliche daran ist nur, dass diese Doktrin nur denjenigen neue soziale Ressourcen verschafft, die sowieso bereits darüber verfügen. Der Macronismus, der sich am Anfang als Doktrin „für die Rechte und die Linke“ ausgab, ist immer weiter nach rechts gerutscht. Er vergisst dabei die Instabilität des sozialen Netzes und seine Abhängigkeit von öffentlichen Dienstleistungen. Er hat den Wählerinnen und Wählern auch keine gemeinsame Vision aufgezeigt. Viele fragen sich aktuell, was der Macronismus überhaupt über eine Wahlstrategie für 2022 hinaus bedeutet.

ŸIm Vergleich zu den meisten anderen Ländern zeigt Frankreich doch alles in allem ein recht zufriedenstellendes Niveau bei der Einkommensverteilung. Was funktioniert denn nicht?

Was nicht funktioniert, lässt sich in wenige Worte fassen: In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Mehrheit der Franzosen nicht liberal und sie lehnen den Kapitalismus ab. Sie bleiben sehr egalitär und verlassen sich dabei auf die gut funktionierenden öffentlichen Dienstleistungen. Entsprechend werden die Eliten, die sich für die Anpassung an die finanzielle Globalisierung einsetzen und die Verantwortung des Einzelnen stärken wollen, bestenfalls als unsensible Privilegierte wahrgenommen, die in ihrer eigenen Luxusblase leben. Schlimmstenfalls gelten sie als korrupte Zyniker, die ihre Politik auf dem Rücken des kleinen Mannes ausleben, um selbst davon zu profitieren. Die gleichen Argumente finden sich auch schon in der Presse vor 1789...

ŸDiese Protestbewegungen entstehen häufig direkt in der Bevölkerung, weit weg von repräsentativen Organisationen. Müssen sich Organisationen wie die Gewerkschaften nicht ebenfalls über ihre mangelnde Repräsentativität Gedanken machen?

Ja, auch die Gewerkschaften befinden sich in einer Krise. Es gibt viele Hinweise darauf, dass eine große Mehrheit der Beschäftigten ihnen mit Skepsis begegnet. Sie gelten als zu bürokratisch und man sagt ihnen nach, dass sie sich von den konkreten Problemen entfernt hätten. Außerdem wirft man ihnen vor, dass sie bei Betriebsschließungen nichts bewirkt hätten, ebenso wenig wie bei der Reform des Öffentlichen Dienstes. Die Streiks im Dezember 2019 gegen die Rentenreform vermitteln zwar den Eindruck, die Gewerkschaften seien wieder zu zentralen Akteuren in dem Konflikt geworden. Doch sie haben den Konflikt nur in Szene gesetzt. Es ist nicht gesagt, dass die Gewerkschaften plötzlich wieder Zulauf bekommen. Die Bewegung der Gelbwesten ist vollkommen an ihnen vorbeigegangen und hat sich teilweise sogar gegen sie gewendet, wie am 1. Mai diesen Jahres.

ŸBesonders die Rentenreform ist Ziel der Protestbewegungen. Woran entzündet sich der Konflikt?

Der Streit geht im Grunde um das Gesellschaftsmodell. Viele Franzosen freuen sich auf ihre Rente, sie denken, dass nun der schönste Abschnitt ihres Lebens folgen wird, jener Lebensabschnitt, in dem sie endlich über eine gewisse Unabhängigkeit verfügen, das tun können, was ihnen wirklich gefällt. Das hat in Frankreich einen hohen Stellenwert.

Der Kampf um die öffentliche Meinung wird sich nicht um die Finanzierung der Renten drehen, sondern um die Verlängerung der Arbeitszeit. Das ist ein strategisch wichtiger Punkt im  Konflikt zwischen der Regierung und der CFDT (Reformistischer Gewerkschaftsbund Frankreichs).

Mit anderen Worten, der Konflikt hat deswegen solche Ausmaße angenommen, weil es für viele Französinnen und Franzosen darum geht, der Wirtschaftslogik zu entkommen und die Lebensqualität in den Mittelpunkt zu stellen.

 

 Aus dem Französischen von Elisabeth Zenner