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Das Interview führte Claudia Detsch.
Derzeit erleben wir einen weltweiten Wettlauf um die Produktion eines Corona-Impfstoffes. Russland hat nun als erstes Land einen Impfstoff zugelassen. Gleichzeitig werden die Warnungen vor den Folgen dieses Wettbewerbs eindringlicher. Wie stark spielt schlicht Sorge um die eigene Reputation eine Rolle bei den kritischen Reaktionen in den USA und Europa auf Russlands Impfstoff?
Natürlich haben wir ein Wettrennen um den Impfstoff, und da geht es um nationales Prestige, aber auch um sehr handfeste nationale Interessen. Nach allem, was wir wissen, hält sich Russland bei der Zulassung des Impfstoffes nicht an die von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebenen Standards. Den Impfstoff großflächig einzusetzen, ohne die Ergebnisse von klinischen Studien abzuwarten, hat schon was von Menschenversuchen. Dies kann sich nur ein autoritäres System wie Russland leisten, in westlichen Demokratien wäre das undenkbar. Ob der russische Impfstoff – den die Russen wohl „Sputnik V“ nennen wollen –, mit dieser Vorgeschichte wirksam ist oder gar schadet, ist noch nicht absehbar.
Es bleibt abzuwarten, ob das unkonventionelle russische Vorgehen Erfolg haben wird. Falls Russland das erste Land sein wird, das einen wirksamen Schutz gegen Covid-19 hat und seiner Bevölkerung zur Verfügung stellt, hat das tatsächlich etwas von „Sputnik“ – also wie in den 1950er Jahren beim Start des ersten künstlichen Erdsatelliten aus der Sowjetunion. Russland hätte dann einen Vorsprung in einem technologischen Wettrennen, das ihm Prestige und ökonomische Vorteile bringt. Falls nicht, wäre der Schaden umgekehrt ebenso groß. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Russland dieses Risiko sehenden Auges eingeht und insofern vermute ich, dass es sich mit voller Überzeugung auf richtigem Wege sieht. Diese Selbstwahrnehmung könnte aber trügerisch sein.
Wieso wurde die Erforschung eines Corona-Impfstoffes zum neuen Schlachtfeld der Geopolitik?
Bei der Impfstoffentwicklung, die ja bei der Bewältigung dieser Jahrhundertkrise eine strategische Frage ist, handelt es sich in Wahrheit um das, was wir früher „kollektive Weltgüter“ genannt haben. Also die Herstellung von materiellen oder immateriellen Gütern, die für weite Teile der Welt zentral sind, etwa internationale Sicherheit, freie Handelswege, intakte Umwelt. Wer bei der Herstellung dieser Güter führend war, bestimmte traditionell internationale Politik auch in anderen Bereichen. Das war gewissermaßen das Handwerkszeug von Hegemonen.
Den Impfstoff großflächig einzusetzen, ohne die Ergebnisse von klinischen Studien abzuwarten, hat schon was von Menschenversuchen. Dies kann sich nur ein autoritäres System leisten, in westlichen Demokratien wäre das undenkbar.
Wenn Impfstoffe nun die neuen kollektiven Weltgüter sind, dann ist es nicht verwunderlich, dass ein Wettrennen darum eingesetzt hat. Dabei gibt es allerdings zwei Narrative, die man auseinanderhalten muss. Die einen sagen, diese Pandemie führt uns vor Augen, dass wir notwendigerweise global denken müssen, dass wir gewissermaßen eine globale Strukturpolitik in diesen Fragen von Weltgesundheit brauchen. Das Gegennarrativ lautet, dass sich jetzt jedes Land in erster Linie um sich selbst kümmert. Ich halte es noch nicht für ausgemacht, welches Narrativ siegt. Aber wenn das zweite gewinnt, dann haben wir wirklich ein nationalstaatliches Gegeneinander, mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Davon wird vermutlich längerfristig keiner profitieren.
Die großen Player scheinen derzeit Russland, die USA und China zu sein – wo steht die Europäische Union in diesem Kräftemessen?
Die mehr als 150 aussichtsreichen Entwicklungen für einen Impfstoff, die bei der WHO gelistet sind, belegen, dass es derzeit eine enorme Kraftanstrengung auf unterschiedlichen Ebenen gibt. Es wird also früher oder später einen wirksamen Impfstoff geben. Davon hat die Menschheitsgeschichte im Übrigen in jeder anderen Phase nur träumen können. Die spannende Frage ist aber: Wer wird Zugang dazu haben und wer wird davon profitieren? Alle großen Länder, die dazu finanziell in der Lage sind, haben sich in den vergangenen Monaten entweder die Rechte an der Nutzung von Impfstoffen gesichert oder treiben die Forschung mit Staatsunternehmen oder Staatsbeteiligungen voran. Der Einstieg des deutschen Staates bei der Tübinger Firma Curevac ist da sicher keine Ausnahme. Dass Curevac nun in den USA an die Börse geht, zeigt allerdings auch die transnationale Vernetzung in diesem Bereich.
Es ist die Aufgabe jeder Regierung, zunächst für die eigene Bevölkerung zu sorgen. Kluge politische Führung macht daraus aber keinen Gegensatz.
Die USA haben zudem Vereinbarungen mit dem deutschen Unternehmen Biontech, aber auch mit Johnson & Johnson und Sanofi und etlichen anderen. Australien, Kanada, Japan und viele andere Staaten haben ebensolche Verträge geschlossen. In Europa gibt es ebenfalls zahlreiche derartige Bemühungen; so hat eine Allianz aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden mit dem britischen Konzern AstraZeneca die Lieferung von 400 Millionen Dosen vereinbart. Die EU will sich an der von der WHO gemeinsam mit der globalen Impfstoff-Allianz GAVI gegründeten Initiative mit dem Namen COVAX beteiligen, die bis 2021 gemeinschaftlich zwei Milliarden Dosen kaufen und gerecht global verteilen will.
Ist das Eintreten der Europäischen Staaten für eine universelle Bereitstellung des Impfstoffes nicht etwas wohlfeil? Im Endeffekt werden Länder wie Deutschland und Frankreich doch ebenfalls zunächst ihre eigene Bevölkerung impfen, bevor Länder des Globalen Südens bedacht werden.
Wenn die Grundphilosophie dieser globalen Pandemie lautet: „Keiner ist sicher, solange nicht alle sicher sind“, dann gilt es, auch bei der Impfstoffverteilung diesen Gedanken populär zu machen. Andererseits ist es natürlich die Aufgabe jeder Regierung, zunächst für die eigene Bevölkerung zu sorgen. Es zeigt sich ja, dass in diesen Zeiten einer der wichtigsten Maßstäbe für Erfolg oder Misserfolg einer Regierung die Frage ist, wie das Land durch die Pandemie geführt wird. Kluge politische Führung macht daraus aber keinen Gegensatz. Wir brauchen also einen Ausgleich zwischen kurzfristigen rein nationalen Interessen und mittelfristigen globalen Interessen, die bei Lichte betrachtet auch nationale Interessen sind.
Wird der Impfstoff als Schmiermittel weltweiter Allianzen zum Wegbereiter einer neuen Weltordnung? Welche Staaten dürften davon voraussichtlich profitieren?
Das hielte ich für übertrieben. Ich sehe das längerfristige Problem eher darin, dass internationale Solidarität künftig vielen als Luxusgut erscheinen wird. Die berühmten „duties beyond borders“ – also die Pflichten jenseits des eigenen Staates – werden in den kommenden Jahren massiv unter Druck geraten. Wahrscheinlich wird jeder Staat versuchen, sein eigenes Süppchen so gut es geht allein zu kochen und der Gedanke von internationaler Solidarität wird so gewissermaßen massiv unter Druck geraten. Das wird sich vermutlich in sinkenden Etats für Entwicklungshilfe zeigen, in sinkenden Etats für internationale Stabilisierung, in einem Rückzug aus internationalen Friedenssicherungsmissionen, auch in Kürzungen von Verteidigungshaushalten. Kosmopolitismus, internationale Solidarität und globale Verantwortung drohen also zunächst im Diskurs, dann aber auch im Handeln ins Hintertreffen zu geraten.
Wie lässt sich sicherstellen, dass internationale Organisationen wie die UN angesichts dieses geopolitischen Kräftemessens nicht völlig unter die Räder kommen?
Die UN spielt bedauerlicherweise im Moment keine Rolle. Der Sicherheitsrat ist zwar zusammengekommen, ist aber auch aufgrund der Vetorechte von China, Russland und den USA gelähmt. Es gibt einzelne UN-Sonderorganisationen, wie etwa das Entwicklungsprogramm, oder im Bereich humanitärer Hilfe, die durchaus wirksam sind. Das gilt auch für die Weltgesundheitsorganisation, die weiterhin eine gute Arbeit macht, aber zugleich politisch unter die Räder gerät. Das geht ja so weit, dass die USA ihren Austritt angekündigt haben und sich die zunehmende Machtrivalität zwischen den USA und China auch in der WHO deutlich spiegelt.
Impfstoffe sind die neuen kollektiven Weltgüter. Wer bei der Herstellung dieser Güter führend war, bestimmte traditionell internationale Politik auch in anderen Bereichen. Das war gewissermaßen das Handwerkszeug von Hegemonen.
Das UN-System ist mithin nicht völlig wirkungslos, aber der Multilateralismus, wie wir ihn kennen, gerät wirklich unter Druck. Was in Entwicklungsländern passiert, ist heute gar nicht im Fokus der Öffentlichkeit, weil wir die Zahlen auch noch nicht kennen. Das hat damit zu tun, dass dort wenig getestet wird, aber es wäre schon ein Wunder, wenn etwa weite Teile Afrikas oder die Konfliktregionen von Syrien bis Libyen oder Afghanistan besser durch diese Pandemie kämen. Die Zahlen werden sich auch dort erhöhen und das wird zu Instabilität führen. Insofern werden die berühmten schwarzen Löcher in der Weltpolitik wahrscheinlich zunehmen, und das kann schon besorgt machen.