Das Interview führte Michael Bröning.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen entsteht der Eindruck, dass wir von einer Krise in die nächste geraten. Gibt es eine Entwicklung, die Sie besonders beunruhigt?

Die derzeit schwerste Krise auf der Welt ist sicherlich der russische Überfall auf die Ukraine. Das liegt auf der Hand. Putins Drohungen und seine Irrationalität sind für alle beunruhigend. Besonders besorgniserregend ist, dass wir es mit einem autoritären und möglicherweise nicht hundertprozentig rationalen Herrscher zu tun haben, der keine Hemmungen hat.

Der US-Dollar wird gerade täglich stärker. Ist deswegen eine neue internationale Schuldenkrise mit Auswirkungen besonders im Globalen Süden zu befürchten?

Diese Entwicklung sehe ich mit sehr großer Sorge. Viele Länder waren schon vor der Pandemie überschuldet. Durch die Pandemie und dann noch einmal durch den Krieg in der Ukraine hat die Situation sich verschlechtert. Ein weiterer verschärfender Faktor ist der Klimawandel. Die Folge sind steigende Lebensmittel- und Energiepreise und die Notenbanken verschlimmern die Lage inzwischen noch weiter, indem sie die Zinsen anheben und dadurch den Dollar aufwerten. Für die vielen Länder, die in Dollar verschuldet sind, ist das ein Riesenproblem. Dass die Zinserhöhungen an der Inflationsrate viel ändern werden, glaube ich nicht, denn die Hauptursache für die Preissteigerungen ist die Verknappung bestimmter Güter. Wenn der Ukraine-Krieg vorbei wäre, hätte diese Güterverknappung ein Ende – sofern die OPEC nicht beschließt, aus dem derzeit herrschenden Chaos Kapital zu schlagen und die Energiepreise in die Höhe zu treiben.

Viele Notenbanken in aller Welt heben derzeit die Zinsen an. Gibt es aus einer politisch progressiven Perspektive eine praktikable Alternative zur Zinsanhebung?

Es gibt eine Alternative. Das Inflationsproblem ist in erster Linie durch eine weitestgehend temporäre Angebotsverknappung bedingt. Die geeignete Reaktion bestünde darin, die Folgen dieser Angebotsverknappung mit fiskalpolitischen Mitteln abzumildern. Die Anhebung der Zinssätze aber verschärft die Angebotsengpässe, weil sie investitionshemmend wirkt und dadurch die Situation zusätzlich verschlimmert. Das bereitet mir wirklich Sorgen. Ein Beispiel: Wir haben ein Energiepreisproblem. Es wäre höchst sinnvoll, wenn wir massiv in den Ausbau umweltschonender und regenerativer Energien investieren würden. Es ist ja nicht so, dass wir jeden Tag neue Ölquellen entdecken. Aber wir wissen, wie man kostengünstige grüne Energie produziert, und die dafür nötigen Rohstoffe sind größtenteils verfügbar. Wir könnten im großen Stil in erneuerbare Energieträger investieren.

Wir könnten im großen Stil in erneuerbare Energieträger investieren.

Deutschland hat kürzlich beschlossen, einige Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, um die Krise zu bewältigen. Halten Sie das zum jetzigen Zeitpunkt für richtig?

Wenn ein Krieg ausgetragen wird, hat dies Vorrang vor anderen Problemen. Ich kann den Widerwillen gegen die Nutzung der Kernenergie nachvollziehen und verstehe, dass sie nach dem Reaktorunfall in Japan Beunruhigung auslöst. Die meisten Wissenschaftler halten das Ausmaß dieser Beunruhigung jedoch für unbegründet. Letztlich müssen wir die Entscheidung treffen, welche Risiken größer sind. Nach meiner Einschätzung ist die größte Gefahr im Augenblick, dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das wäre eine Form von Appeasement und würde das Völkerrecht aushöhlen. Außerdem würde es den Beweis liefern, dass man mit Aggression durchkommt. Deshalb halte ich es für elementar, dass wir gewinnen müssen, wenn wir eine stabile Zukunft wollen. Das ist die Priorität. Eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken unter sicheren Bedingungen ist nicht annähernd so risikoreich wie ein Sieg Russlands.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die politischen Auswirkungen von Wirtschaftskrisen vielschichtig, komplex und extrem negativ sein können. Haben Sie den Eindruck, dass die Welt aus 2008 und aus früheren Krisenwellen ökonomisch dazugelernt hat, oder sind wir dazu verdammt, die Geschichte oder zumindest ein Echo der Geschichte zu wiederholen?

Lernprozesse vollziehen sich in sehr kleinen Schritten. Aus der Krise von 2008 hätten wir lernen sollen, dass die Marktwirtschaft nicht besonders widerstandsfähig ist. Sie kalkuliert die Risiken nicht mit ein. Sie macht die Rechnung bekanntlich auch ohne den Klimawandel. 2008 haben wir erlebt, dass die Finanzmärkte nicht krisenfest waren. Die Pandemie hat uns dann vor Augen geführt, dass es nicht nur den Finanzmärkten an Widerstandsfähigkeit mangelt, sondern unserer ganzen Wirtschaftsordnung. Das ist in etwa so, wie wenn man Autos ohne Ersatzreifen produziert. Das geht so lange gut, bis man einen Platten hat. Wir haben insgesamt ein Wirtschaftssystem aufgebaut, das zu kurzsichtig war und die Risiken ausgeblendet hat.

2006 schrieb ich in meinem Buch Die Chancen der Globalisierung, dass es von Deutschland und Europa unklug war, sich so stark von russischem Gas abhängig zu machen. Ich sagte damals, dass man kein Hellseher sein müsse, um zu erkennen, dass auf Russland kein Verlass ist. Leider hat sich herausgestellt, dass ich mit dieser Einschätzung richtiglag. In der Vergangenheit haben die Märkte die Risiken ausgeblendet. Das ist eine Erkenntnis, die wir nach 2008 nicht ausreichend verinnerlicht haben. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis jetzt in unserem Bewusstsein angekommen ist.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld