Das Interview führten Lisa Felgendreff und Alexander Isele.

Fast ein Jahr nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine diskutieren die USA und ihre Verbündeten unentwegt und mitunter auch heftig über das richtige Maß an militärischer Unterstützung für die Ukraine. Das werden Sie auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz tun. Wie beurteilen Sie die aktuellen Bemühungen in Europa zur Unterstützung der Ukraine?

Jason Crow: Der Krieg ist zwar noch lange nicht vorbei, aber wir haben bemerkenswerte Arbeit geleistet, indem wir uns als Koalition zusammengeschlossen haben. Damit meine ich nicht nur die NATO, sondern auch die größere Ukraine-Kontaktgruppe, über die wir Hilfe leisten. Diese versetzt die Ukraine in die Lage, den Krieg zu gewinnen – nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Ausrüstung, finanzieller Hilfe und Sanktionen gegen Russland, die notwendig sind. Vor drei Jahren lautete das Thema der Münchner Sicherheitskonferenz „Westlosigkeit“ („Westlessness“). Es gab diese Vorstellung, dass der Westen vom Kurs abgekommen sei und die transatlantische Partnerschaft nicht mehr die gleiche Bedeutung habe wie früher. Es gab eine ständige Debatte über die Zukunft der NATO. Heute ist die Diskussion eine ganz andere. Die NATO ist jetzt stärker. Die transatlantische Partnerschaft ist ebenfalls stärker und die Menschen erkennen an, dass sie notwendig ist.

Brendan Boyle: Das zurückliegende Jahr war ein glänzender Moment für das transatlantische Bündnis und insbesondere für die NATO. Heute bezeichnet niemand mehr die NATO als hirntot oder stellt die Bedeutung oder die Stärke des transatlantischen Bündnisses in Frage. Vor vier Jahren wurde noch darüber gescherzt, ob es die NATO im Jahr 2023 noch geben würde. Insgesamt bin ich sehr stolz auf die Einigkeit der NATO, auf die Einigkeit in Europa und in Nordamerika und insbesondere in den Vereinigten Staaten. Es ist mir ein echtes Anliegen, dafür zu sorgen, dass dies so bleibt, vor allem, wenn wir irgendwann in diesem Jahr einen wirtschaftlichen Abschwung erleben werden. Für uns als Volksvertreterinnen wird es von entscheidender Bedeutung sein, die Bekämpfung der russischen Aggression in der Ukraine weiterhin zu unterstützen, selbst wenn einige unserer Bürgerinnen und Bürger sich nach innen wenden und sich auf innenpolitische Themen konzentrieren wollen.

Dennoch gab es im letzten Jahr Probleme innerhalb des transatlantischen Bündnisses, vor allem wegen der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine ...

Boyle: ... und der Frage, ob Deutschland die Leopard-Panzer liefern würde oder nicht, das stimmt. Gelegentlich gibt es Reibereien, aber wir müssen das richtig einordnen. Letztes Jahr um diese Zeit war ich auf der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Brüssel. Selbst in den Tagen direkt vor der russischen Invasion glaubte die große Mehrheit unserer Parlamentskollegen aus anderen NATO-Ländern nicht an eine russische Invasion. Der heutige Stand der Dinge, dass wir im Großen und Ganzen alle die Anstrengungen für die Ukraine unterstützen, ist wirklich bemerkenswert – das sollten wir nicht als selbstverständlich hinnehmen.

Putin glaubt, dass Demokratien mit freien und offenen Debatten schwach sind. Er irrt sich.

Crow: Ich weise die Vorstellung zurück, dass Meinungsverschiedenheiten und Debatten problematisch sind. In Russland gibt es keine Debatte, in China gibt es keine Debatte. Das ist nicht das, was wir wollen. Wenn man eine Partnerschaft, eine Koalition freier, unabhängiger und demokratischer Nationen zusammenbringt, sind alle willkommen, ihre Perspektiven und ihre Ansichten einzubringen, und niemand hat ein Monopol darauf, immer Recht zu haben. Debatten führen zu besseren Ergebnissen. Wladimir Putin ist der Meinung, dass dies unsere Schwäche ist – und genau darum geht es letztlich. Das ist ein Test von konkurrierenden Modellen, von konkurrierenden Weltanschauungen. Er glaubt, dass Demokratien mit freien und offenen Debatten schwach sind. Er irrt sich. Man kann eine Koalition von mehr als 50 Ländern zusammenbringen, die gesunde Meinungsverschiedenheiten haben und trotzdem den besten Weg finden, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie gewinnt.

Sie sprechen von einer Koalition, Sie sprechen von der Einheit der NATO. Aber machen die USA in der Ukraine nicht letztlich die Arbeit Europas?

Crow: Nein. Die Ukraine-Kontaktgruppe, der mehr als 50 Länder angehören, ist zusammengekommen, und sie haben alle etwas auf den Tisch gebracht. Die Führungsrolle der USA war unverzichtbar, und wir haben geholfen, diese Koalition zusammenzustellen, aber wir machen das nicht allein. Jeder hat einen ganz besonderen Beitrag zu diesem Puzzle geleistet, sei es ein bestimmtes Waffensystem, die Ausbildung des ukrainischen Militärs, die in Deutschland, Polen und ganz Europa stattfindet, sei es nachrichtendienstliche Unterstützung und Informationsaustausch oder seien es die Sanktionen, bei denen verschiedene Länder zu unterschiedlichen Zeiten die Führung übernommen haben. Dies war eine bemerkenswerte multilaterale Mission, wie wir sie in der modernen Geschichte noch nicht gesehen haben. So viele Länder mit so unterschiedlichem Hintergrund kamen zusammen, um der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen und an der vordersten Front der Demokratie zu stehen.

Der Krieg gegen die Ukraine beherrscht die Tagespolitik. Aber der Konflikt mit China rückt immer mehr in den Vordergrund, sei es der Abschuss der Ballons oder die öffentliche Äußerung eines ehemaligen US-Generals, dass es innerhalb der nächsten zwei Jahre zum Krieg mit China kommen werde. Was bedeutet die Konfrontation mit China für die transatlantischen Beziehungen?

Boyle: Zunächst einmal würde ich jedem, der endgültige Vorhersagen über einen Krieg mit China macht, sehr skeptisch gegenüberstehen. Ich halte es für ziemlich albern, Zeit mit Spekulationen darüber zu verbringen, wie viele Jahre wir von einem Kriegsausbruch entfernt sind. Natürlich ist China ein Konkurrent für die Vereinigten Staaten und die NATO, aber wir werden uns nicht wieder so verhalten wie im Kalten Krieg. Das Verhältnis zu China wird nicht so sein wie im Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion, weil wir wirtschaftlich so stark miteinander verflochten sind. Um eine Analogie zu verwenden: Während des Kalten Krieges hatte der Westen so gut wie keinen Handel mit der Sowjetunion und auch nicht mit dem Ostblock. Im Gegensatz dazu ist China – abgesehen von Kanada und Mexiko – heute unser größter Handelspartner. China unterhält bedeutende Handelsbeziehungen zu einer Reihe von EU-Ländern, darunter auch Deutschland. Wir müssen herausfinden, wie wir einerseits Wirtschaftspartner und andererseits Konkurrenten sein können.

Zweitens ist die Entsendung eines Ballons über US-Territorium eine Provokation seitens der Chinesen – und eine sehr schlampige Aktion. China sollte sich – wie jedes andere Land – darüber im Klaren sein, dass Ballons oder Flugobjekte abgeschossen werden, die den amerikanischen Luftraum verletzen.

Vor zehn Jahren stand im strategischen Konzept der NATO kein Wort über China.

Ein letzter Punkt: Vor zehn Jahren stand im strategischen Konzept der NATO kein Wort über China. Wir haben das Strategiedokument erst letztes Jahr überarbeitet, und die Parlamentarische Versammlung der NATO hat eine Reihe von Entschlüssen und Positionspapieren vorgelegt, von denen ich einige als Vorsitzender des Politischen Ausschusses mit ausgearbeitet habe. China wird nun im strategischen Konzept der NATO ausführlich behandelt und das ist auch richtig so.

Crow: Die Vereinigten Staaten wollen nicht in einen Konflikt mit China geraten. In mancher Hinsicht sind wir Gegner, in anderer sind wir Konkurrenten, aber im Falle eines Konflikts würde niemand gewinnen, weder militärisch noch anderweitig. Im Gegensatz zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion im Kalten Krieg haben wir gemeinsame Interessen mit dem chinesischen Volk. Auch wenn wir mit der Kommunistischen Partei Chinas sehr uneins sind, da sie eine Gefahr für eine auf Regeln basierende internationale Ordnung darstellt, machen Themen wie die Klimakrise, Arbeitsstandards oder eine moderne Wirtschaft im 21. Jahrhundert ein gewisses Maß an Zusammenarbeit erforderlich. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, diese Tür auf intelligente und bewusste Weise offen zu halten.

Ein Streitpunkt zwischen den Vereinigten Staaten, Deutschland und der Europäischen Union sind chinesische Technologien. Im Jahr 2020 warnte die US-Delegation auf der Münchner Sicherheitskonferenz wiederholt vor den Gefahren, die von Huawei und chinesischen Investitionen in die Telekommunikations-Infrastruktur ausgehen. Deutschland und andere Länder begannen, sich strategisch aus den Investitionen zurückzuziehen, da sie erkannten, dass China diese Technologien zur Spionage einsetzt und die Investitionen mit erheblichen Kosten verbunden sind. Die Veräußerung bestimmter kritischer Technologien ist nach wie vor notwendig. Aber man kann sich nicht von etwas trennen, wenn man keine Alternative hat. Deshalb muss in der Europäischen Union durch multilaterale Zusammenarbeit mit der NATO eine Telekommunikations-Infrastruktur aufgebaut werden.

Was erwartet Washington angesichts der anhaltenden Spannungen und der systemischen Rivalität mit China von der EU?

Crow: Erstens, da ich dem Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses angehöre: Angesichts der Bedrohungen, denen wir uns gemeinsam gegenübersehen, ist ein höheres Maß an nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit notwendig. Aber das wird nur möglich sein, wenn die europäischen Länder und unsere Partner die Bedrohungen durch die Spionageabwehr und die Lücken in der Telekommunikations-Infrastruktur angehen. Anders ausgedrückt: Wir werden unsere nachrichtendienstlichen Erkenntnisse nur dann mit unseren europäischen Partnern teilen, wenn wir sicher sind, dass ihre Telekommunikations-Infrastruktur und ihre Fähigkeiten zur Spionageabwehr für eine solche Zusammenarbeit ausreichen. 

Zweitens erwarten wir ein höheres Maß an Investitionen in den europäischen Sicherheitsschirm. Deutschland unternimmt diese Schritte mit der Investition von 100 Milliarden Euro. Andere Länder auch, aber es muss noch mehr getan werden: die Erfüllung der Zwei-Prozent-Vorgabe bei den Verteidigungsausgaben sowie eine ausreichende Modernisierung.

Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungsindustrie.

Drittens: Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungsindustrie. Die Ausstattung des Militärs wurde durch die Ukraine extrem belastet und es wird Jahre dauern, bis wir unsere Bestände und unser Inventar wieder aufgebaut haben, da viele der Waffen an die Ukraine geliefert werden. Um dies zu erreichen, muss es eine stärkere Zusammenarbeit zwischen der amerikanischen und der europäischen Industrie geben.

Und viertens: wirtschaftliche Zusammenarbeit, Ausbau unseres Handels, Ausbau insbesondere unserer Forschung und Entwicklung und unserer wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, um einige dieser kritischen Technologien aus China und der chinesischen Einflusssphäre abzuziehen.

Boyle: In Europa gab es verschiedene Ansichten darüber, wie man China begegnen sollte. Das überarbeitete NATO-Strategiedokument zeigt, dass wir jetzt einer Meinung sind, dass viele unserer europäischen Freunde und Verbündeten die gleiche Bedrohung und Gefahr sehen wie wir, während wir gleichzeitig anerkennen, dass wir darauf hinarbeiten müssen, einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden. Ich erinnere mich, dass ich 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg war und sah, wie Xi Jinping gefeiert wurde, als wäre er ein großer demokratischer Führer. Das ist er nicht. Wenn wir in den letzten Jahren etwas gelernt haben sollten, dann, dass das Russland von Wladimir Putin und das von der Kommunistischen Partei kontrollierte China unsere Werte nicht teilen und dass das transatlantische Bündnis mehr ist als eine Ansammlung wohlhabender Nationalstaaten mit hohem Bruttoinlandsprodukt, die zusammenkommen wollen, um sich gegenseitig militärisch zu helfen. Ich würde also erwarten, dass unsere Verbündeten dies erkennen und entsprechend handeln.

Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer