Das Interview führte Anja Wehler-Schöck.

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Chile wird es am 19. Dezember ein Duell zwischen dem ultrarechten Pinochet-Sympathisanten José Antonio Kast und dem jungen Linkspolitiker Gabriel Boric geben. Erstmals seit 30 Jahren ist keine der Parteien der Mitte in der Stichwahl vertreten. Was ist mit der politischen Mitte in Chile geschehen?

Gute Frage, darüber werden wir in Chile vermutlich noch jahrelang nachdenken. Für eine abschließende Analyse ist es noch zu früh, aber so viel steht für mich fest: Die Parteien, die den Übergang von der Pinochet-Diktatur zur Demokratie verkörperten, stellen für uns heute die politische Mitte dar. Diese Übergangsphase neigt sich nun dem Ende zu, eingeläutet von der sozialen Mobilisierung, die Chile seit 2019 erlebt hat. Zum ersten Mal gibt es ganz andere Hauptakteure, die nicht zu diesen Parteien gehören. Wie oft haben wir schon gesagt: „Die Übergangsphase ist vorbei!“ Nun ist sie tatsächlich vorüber. Wir haben die Diktatur endgültig hinter uns gelassen.

Bislang wurde die Tatsache, dass Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit angehörten, im politischen Diskurs als Ende der Diktatur gedeutet. Nach und nach begriffen wir – spätestens nach den Protesten 2019 – dass das grausame Erbe der Diktatur eine viel größere Dimension hat. Das Pinochet-Regime hat einen Ultra-Neoliberalismus implementiert, der den Staat nur noch als subsidiären Akteur betrachtete. Streng genommen werden durch dieses Wirtschaftssystem ebenfalls die Menschenrechte verletzt, wenn man beispielsweise die grundlegenden Rechte auf Gesundheit, Bildung, Wasser etc. miteinbezieht. Alles, was zum Leben nötig ist, wurde unter Pinochet zur reinen Handelsware. Die Diktatur hat tiefe Spuren politischer, sozialer und kultureller Natur hinterlassen. Das hört nicht schlagartig auf – die Überwindung ist ein Prozess.

Nun haben wir zum ersten Mal zwei Präsidentschaftskandidaten, die keine Mitglieder der traditionellen Parteien sind. Gabriel Boric ist der erste linke Kandidat seit Salvador Allende. Sein Gegner José Antonio Kast gehörte zwar zu den politischen Kräften des Übergangs, steht aber heute für eine Art neofaschistischen Post-Pinochetismus, eine neue harte Rechte wie wir sie von Trump oder Bolsonaro kennen. Einen solchen Diskurs, z.B. gegen Einwanderer, hat es in Chile bisher nicht gegeben.

Die Übergangsphase von der Diktatur neigt sich nun dem Ende zu, eingeläutet von der sozialen Mobilisierung, die Chile seit 2019 erlebt hat.

Aus deutscher Sicht gehört Boric zum sozialdemokratischen Spektrum. Sie haben ihn im Wahlkampf unterstützt. Lange Zeit lag er in den Umfragen vorn, aber bei der Wahl gelang es Kast, sich vor ihn zu setzen. Worin sehen Sie die Gründe für Kasts Aufholjagd?

Das hat mit dem Umbruch zu tun, den Chile gerade durchläuft, und damit, was dieser gefühlsmäßig bei der Bevölkerung bewirkt. Wir stehen am Anfang einer neuen Epoche, in der wir hinterfragen, wer wir waren, wer wir heute sind und wohin wir wollen. Das braucht etwas Zeit, es bedarf einer Verfassungsänderung und eines strukturellen Wandels in Chile. Angst und Unsicherheit, die daraus erwachsen, sind ein fruchtbarer Boden für aufkommende autoritäre Führungspersönlichkeiten. Kast macht sich diese Ängste vor Veränderung zunutze. Er weiß sehr gut damit umzugehen und bedient sie mit Feinbildern, etwa des Migranten. Er punktete mit einem einfachen Sicherheitsnarrativ. Dass Boric in Chile als „ziemlich links“ bezeichnet wird, liegt daran, dass hierzulande der Maßstab etwas verschoben ist. In Anbetracht seines Wahlprogramms müsste er eigentlich als Sozialdemokrat eingeordnet werden.

An der Wahl im November nahmen nicht einmal die Hälfte aller wahlberechtigten Chileninnen und Chilenen teil. Worin sehen Sie die Gründe?

Chile hat schon lange ein Problem mit geringer Wahlbeteiligung, nicht erst seit wir freiwillige Wahlen haben. Bis 2012 galt die Wahlpflicht, die Registrierung im Wählerverzeichnis war allerdings freiwillig. Schon damals haben etwa 5 Millionen Menschen nicht gewählt. Es gibt also in Chile viele Menschen, die noch nie gewählt haben. Für mich spiegelt das ein politisches Problem wider, das der Diktatur geschuldet ist.

Unsere aktuelle Verfassung hat eine „Anti-Politik“, fehlende soziale Bindung und ein stark individualistisches Denken hervorgebracht. Eine Lebensphilosophie des „Jeder denkt an sich, dann ist an alle gedacht“ ist typisch für Chile. Es herrscht eine individualistische Mentalität, in der der Wert der Gemeinschaft keinen Platz hat. Das erzeugt natürlich Misstrauen.

Unsere politische Struktur ist im Grunde sehr undemokratisch. Der Präsidentialismus ist übertrieben ausgeprägt. Die Macht des Parlaments ist praktisch darauf beschränkt, Vorschlägen des Präsidenten zuzustimmen oder sie abzulehnen. Die Leute fragen zu Recht, wozu wir überhaupt ein Parlament haben, wenn es sowieso nichts ändern kann.

Dieser Zustand und die Korruptionsfälle haben dazu beigetragen, die Politik in Chile zu entwerten. Wir wiegten uns in der Illusion, dass Chile frei von Korruption sei. Wie sich herausstellte, ist Chile genauso korrupt wie jedes andere Land auch. Die Aufdeckung von Korruptionsfällen schlug wie eine Bombe in der Gesellschaft ein und bewirkte ein noch größeres Misstrauen gegenüber politischen Prozessen. Auch darin ist ein Grund für die niedrige Wahlbeteiligung zu sehen.

Unsere aktuelle Verfassung hat eine „Anti-Politik“, fehlende soziale Bindung und ein stark individualistisches Denken hervorgebracht.

Die beiden Kandidaten Kast und Boric stehen sich in ihren Positionen quasi diametral gegenüber. Boric steht für den Kampf für soziale Gerechtigkeit, während sich Kast in der Tradition von Bolsonaro und Trump sieht. Droht Chile eine weitere Verschärfung der politischen und sozialen Polarisierung?

Die Volksabstimmung letztes Jahr, in der sich fast 80 Prozent für eine neue Verfassung ausgesprochen haben, zeigt uns, dass das Land eben nicht polarisiert ist, sondern sich eine große Mehrheit der Bevölkerung strukturelle Änderungen wünscht. Die Tatsache, dass in den drei reichsten Wahlkreisen Chiles mehrheitlich gegen eine Veränderung gestimmt wurde, legt den Finger in die Wunde. Auch bei der Abstimmung über die Zusammensetzung des Konvents im Mai zeigte sich große Einigkeit. Die konservativen Kräfte, die sich Veränderungen widersetzen wollten, erhielten nicht einmal ein Drittel der Stimmen.

Bei den Präsidentschaftswahlen sieht es allerdings anders aus. Hier treffen zwei sehr unterschiedliche Zukunftsvisionen für das Land aufeinander. Dass das Land per se gespalten sei, kann man trotzdem nicht sagen. Die Polarisierung in Chile macht sich hauptsächlich an bestimmten Themen fest, beispielsweise Migrations- oder Sicherheitsfragen.

Die aktuelle Verfassung Chiles stammt im Kern noch aus der Pinochet-Diktatur. 2019 demonstrierten tausende Bürgerinnen und Bürger für eine Neuerung. Im Sommer hat der Verfassungskonvent, dem Sie angehören, seine Arbeit aufgenommen. Die Hoffnungen der Bevölkerung, die auf Ihnen liegen, sind enorm. Was sind die wichtigsten Themen, an denen Sie und Ihre Kollegen derzeit arbeiten?

Ich habe das Glück, den Ausschuss für Verfassungsgrundsätze, Demokratie und Staatsbürgerschaft zu koordinieren. Für mich gehören diese Themen zu den wichtigsten, sie durchdringen die gesamte Verfassung. Meiner Ansicht nach wird in diesem Ausschuss der wichtigste Artikel der gesamten Verfassung formuliert, nämlich dass Chile zu einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat wird und den Neoliberalismus hinter sich lässt. Das macht einen gewaltigen Unterschied aus. Die Bedeutung des Staates wurde in der Verfassung von 1980 als nachrangig festgelegt. Dem Staat wurden die Hände gebunden – nur die von der Privatwirtschaft aussortierten Bereiche sollten von ihm übernommen werden.

Die alte Verfassung ließ die Menschen und ihre Bedürfnisse ausdrücklich außen vor. Die Wurzeln der Verfassung von 1980 sind sehr autoritär. Wenn man die Diskussionen der damaligen Verfassungskommission liest, wird deutlich, dass ein erneuter Aufstieg eines Linksbündnisses wie Unidad Popular um jeden Preis verhindert werden sollte. Was wir nun anstreben, ist eine stärkere Mitgestaltung durch die Bürgerinnen und Bürger. In meinem Ausschuss befassen wir uns daher auch mit Mechanismen der direkten Demokratie. Darunter verstehen wir nicht nur, dass es mehr Volksabstimmungen oder Gesetzesinitiativen geben soll, sondern auch eine größere Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger auf politische Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen, z.B. bei der Festlegung des öffentlichen Haushalts.

Die Volksabstimmung letztes Jahr, in der sich fast 80 Prozent für eine neue Verfassung ausgesprochen haben, zeigt uns, dass Chile nicht polarisiert ist, sondern sich eine große Mehrheit der Bevölkerung strukturelle Änderungen wünscht.

Der Konvent ist geschlechterparitätisch besetzt. Sind Sie zuversichtlich, dass seine Arbeit einen Wendepunkt in puncto Geschlechtergerechtigkeit darstellt?

Auf jeden Fall! Eine der ersten Verordnungen, die nun in Kraft getreten sind, legt fest, dass alle Vorschriften frei von Gewalt gegen uns Frauen sein müssen. Eine weitere Debatte, von der wir bis jetzt Lichtjahre entfernt waren, hat mit der Anerkennung der Betreuungs- und Reproduktionsarbeit zu tun, die wir Frauen leisten. Sie wird nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitswelt und das Rentensystem haben, sondern auch auf die Machtverhältnisse in der heutigen Gesellschaft. Unser aktuelles System basiert darauf, dass wir Frauen unbezahlte Arbeit verrichten. In dem Moment, in dem wir durchschauen, dass diese Arbeit nicht „naturgemäß“ in unserer Verantwortung liegt, verändert sich das Machtgefüge. Es kommt zu einem Paradigmenwechsel, der Vielfalt zulässt.

Dem Konvent gehören 17 Indigene an und er wird von Elisa Loncón, einer Angehörigen der Mapuche geleitet. Zeichnet sich hier mit der lang erhofften Stärkung der Rechte der Indigenen ein weiterer Paradigmenwechsel ab?

Ganz klar. Die Vertretung von Indigenen und die geschlechterparitätische Besetzung des Konvents ist nicht nur ein starkes Symbol nach außen. Das Kräfteverhältnis hat sich verändert. Es ist kein Zufall, dass Elisa Loncón zur Vorsitzenden des Verfassungskonvents gewählt wurde. Dass Chile in Zukunft ein plurinationaler Staat wird, steht für mich außer Frage. An die Frage, wie die Plurinationalität gestaltet und umgesetzt werden wird, tasten wir uns gerade heran. Die Verfassung wird hier für eine konkrete Grundlage sorgen. Der Impuls muss von den indigenen Völkern ausgehen. Wir wollen ihnen nicht unsere Perspektive von Plurinationalität aufzwingen. Es geht um eine gemeinsame Gestaltung. Wir lernen voneinander im Konvent.

Dass Chile in Zukunft ein plurinationaler Staat wird, steht für mich außer Frage.

Was passiert, wenn Chile zwar eine progressive Verfassung ausarbeitet, mit der Wahl am 19. Dezember aber einen rechten Präsidenten bekommt?

Ein rechter Präsident wäre für den Verfassungsprozess eine ernste Gefahr. Mit dem Parlament in seiner jetzigen Form zu arbeiten ist schon schwierig genug. Es gibt keine schnellen Fortschritte, im Gegenteil. Mit einem Präsidenten, der für einen ausgeprägten Präsidentialismus steht und ein ausgesprochener Gegner des Konvents ist, würde es noch schlimmer. Die Arbeit an der neuen Verfassung geschieht in einem prekären Gleichgewicht. Sie wird von außen torpediert. Die Medien schießen dagegen, denn sie sind in den Händen der Skeptiker. Ein Präsident mit einer starken Gegenstimme wäre schlimm. Wir dürfen nicht vergessen, dass 2022 dann das Referendum über den Verfassungstext ansteht. Der Weg zu einer progressiven Verfassung für Chile ist also keineswegs gesichert.

 

Aus dem Spanischen von Gabriela Pflügler