Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Das Bundes-Klimaschutzgesetz greift aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts zu kurz. Die Richter verpflichten den Gesetzgeber, bei den Regelungen zum Klimaschutz nachzubessern. Eine notwendige Rüge aus Karlsruhe für die unzureichende Arbeit des Parlaments?

Eine Rüge ist es auf jeden Fall. Es stellt sich die Frage, ob sie gerechtfertigt oder gar notwendig war. Nimmt man die Pariser Klimaziele ernst und ich meine, wir sollten das unbedingt tun, dann muss man handeln, um in nachvollziehbaren Schritten dieser Selbstverpflichtung nachzukommen.

Es ist allerdings ein tiefer Eingriff des Verfassungsgerichts in die Prärogativen des Parlaments – des Souveräns zweiter Ordnung, der vom Volk durch direkte Wahlen ermächtigt wurde –, die Gesetze als grundsätzlich autoritativ zu befolgende Normen zu erlassen. Dass dem Gesetzgeber von der Verfassungsjudikative aufgegeben wird, einen Stufenplan ab 2031 zur Erfüllung des Klimaziels zu erarbeiten, um die Erderwärmung bis 2050 unter zwei Grad oder möglichst anderthalb Grad zu halten, kratzt an der Doktrin der richterlichen Selbstbeschränkung. Es mag ein guter Tag im symbolischen Kampf gegen die Erderwärmung gewesen sein, ob es auch ein guter Tag für die parlamentarische Demokratie war, wage ich zu bezweifeln.

Was meinen Sie mit „symbolischem Kampf“?

Dass auch Deutschland etwas gegen die globale Erderwärmung tun muss, steht außer Zweifel. Das Problem aber ist, dass Deutschland noch nicht einmal zwei Prozent der globalen Treibhausgase emittiert. Wenn also Deutschland lobenswerterweise alle Pariser Klimaziele zu 100 Prozent erfüllt, wird es bestenfalls zwei Prozent zum globalen Neutralitätsziel beitragen. Ökonomen haben allerdings schon an der Zwei-Prozent-Wirkung erhebliche Zweifel, da etwa ein deutscher oder europäischer Ausstieg aus der Kohle den Kohlepreis sinken lässt und sich andere Länder wie Indien oder China mit dem verbilligten fossilen Energieträger eindecken werden. Nehmen wir aber an, dass diese unrecht haben, dann erhebt sich dennoch die Frage, ob eine beschleunigte Reduktion von zwei Prozent der globalen Emission von Treibhausgasen „verhältnismäßig“ ist.

Worauf gründet sich Ihr Zweifel an der Verhältnismäßigkeit?

Es ist nicht primär mein Zweifel, sondern er wird längst von Juristen und Verfassungsrechtlern formuliert. Verhältnismäßig heißt: Die Maßnahmen müssen einen legitimen Zweck erfüllen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Der Zweck, die Erderwärmung zu reduzieren, ist legitim. Da soll kein Zweifel bestehen. Ob die Maßnahmen geeignet und erforderlich sind, da kann man schon Zweifel hegen. Sie sind halt nur um maximal zwei Prozent dazu geeignet. Ob er damit erforderlich ist, davon muss man nicht überzeugt sein.

Die Nordeuropäer brauchen das Klima-Vorbild nicht, weil sie schon längst ökologischer handeln als Deutschland.

Aber wäre dann Deutschland nicht ein Vorbild, dem andere Länder folgen könnten?

Das ist eine schöne Vorstellung: Deutschland als Klima- und Moralweltmeister. Schon in der EU wird das nicht klappen. Die Nordeuropäer brauchen das Klima-Vorbild nicht, weil sie schon längst ökologischer handeln als Deutschland. Frankreich hat sich ebenfalls in der Energieversorgung stets von Deutschland abgegrenzt. Mit ihrer nicht unproblematischen Produktion von Atomstrom emittieren sie im Übrigen weniger Treibhausgase als Deutschland. Und Deutschland als Vorbild für China, Indien, die USA, Brasilien oder Indonesien? Dies anzunehmen wäre naiv. Ich glaube einfach nicht an den Osterhasen.

Die Begründung des Gerichts ist durchaus interessant, da das Urteil explizit auf die Freiheit künftiger Generationen abzielt. Die Richter sprechen von „intertemporaler Freiheitssicherung“. Ist der Verweis auf die Verteidigung der zukünftigen Freiheit etwas Außergewöhnliches?

Intertemporale Freiheitssicherung ist kein voraussetzungsloser Blick in die Zukunft. Die nicht unbegründete skeptische Sicht auf die Zukunft der Erderwärmung basiert auf dem gegenwärtigen Stand der Klimaforschung, wie sie vom IPCC (International Panel on Climate Change) mit großer wissenschaftlicher Autorität wiedergegeben wird.

Die „intertemporale Freiheitssicherung“ erinnert mich andererseits ein bisschen an die „intergenerationale Gerechtigkeit“, die John Rawls im fünften Kapitel seiner berühmten „Theorie der Gerechtigkeit“ vorsichtig ausbuchstabiert hat. Doch der große Gerechtigkeitstheoretiker ist zurückhaltender als die acht Richterinnen und Richter in Karlsruhe. So muss man Rawls „gerechten Spargrundsatz“ umdrehen, verschärfen und danach fragen, wie weit die heutige Generation das CO2-Budget in der Atmosphäre noch weiter belasten darf, um die gleiche Ausübung der Freiheiten für die kommenden Generationen zu gewährleisten.

Trotz aller richtigen Wissenschaftsbasierung der Klimapolitik enthält ein so weiter Blick in die Zukunft immer eine Restspekulation. Weder das IPCC noch die Richter in Karlsruhe können diese Restspekulation jenseits gesicherter wissenschaftlicher Kenntnis auflösen: Niemand weiß genau, wie sich der wissenschaftliche und technische Fortschritt in der Bekämpfung der Erderwärmung entwickeln wird. Er könnte linear, exponentiell oder auch nur schneller sein, als dies unsere Worst-Case-Szenarien berücksichtigen.

Es sind stets die unteren Schichten, die Transformationsbürden überproportional zu tragen haben.

2030 könnten wir Wissen und technologische Verfahren der CO2-Reduktion oder -Bindung haben, von denen wir, wie das Bundesverfassungsgericht heute, noch keinen Begriff haben. Ausgerüstet mit solch erweitertem Wissen könnten wir dann ressourcenschonender die Transformation der Klimapolitik ermöglichen. Denn wir sollten nicht vergessen: Transformationen sind nicht nur mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet, sondern es sind stets die unteren Schichten, die Transformationsbürden überproportional zu tragen haben. Die skeptische Zukunftssicht durch Karlsruhe bestätigt meine allgemeine These, dass wir in Zeiten einer beschleunigten Verwissenschaftlichung der Politik leben. Diese betont zumindest in Deutschland viel stärker die Risiken als die Chancen.

Könnte das Prinzip der intertemporalen Freiheitssicherung von nun an systematisch auch auf andere Politikbereiche angewendet werden? Müssen wir möglicherweise mit Folgen rechnen, die wir momentan noch gar nicht im Blick haben?

Das glaube ich eher nicht, zumindest nicht von der Verfassungsjudikatur. Wir werden das nicht in der Sicherheitspolitik, der Innenpolitik oder Familienpolitik erleben. Aber als weiches Prinzip angewandt, etwa auf die zukünftige Bildungs- und Gesundheitspolitik, könnte der ernsthafte Prüfungsblick auf die Zukunft, die Geschlechter- und Generationengerechtigkeit durchaus helfen. Die Konservativen und Marktliberalen werden allerdings immer wieder die Schuldenpolitik und die angeblich generationengerechte „schwarze Null“ ins Gespräch bringen. Auch das muss der gegenwärtige Jubelchor zu Ehren des Verfassungsgerichtsurteils berücksichtigen.

Aber es gilt: Eine kluge und gerechte Politik muss die Zukunft weit über die Legislaturperioden hinaus im Blick haben. Sie sollte aber freiheitlich, demokratisch und so wenig autoritär wie nur möglich sein. Dafür ist in einer parlamentarischen Demokratie nun mal das Parlament in erster Linie zuständig.

Die Entscheidungen der Europäischen Zentralbank hatten im letzten Jahrzehnt weitreichende Auswirkungen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger in Europa. Bis zur Verabschiedung der Bundesnotbremse beschloss in Deutschland die Ministerpräsidentenkonferenz umfangreiche Einschränkungen. Nun die jüngste Entscheidung aus Karlsruhe. Alle drei sind nicht direkt gewählte Institutionen. Ist die repräsentative Demokratie in der Krise?

Krise, bezogen auf unsere Demokratie, ist ein schwieriger Begriff. Nimmt man den Begriff als eine Existenzfrage ernst, also eine Frage auf Leben und Tod, würde ich das verneinen, zumindest für Deutschland und Westeuropa. Aber ich sehe einen demokratieabträglichen Trend weg von sogenannten majoritären Institutionen, also solchen, die wir wie Parteien, Parlament und indirekt auch Regierungen wählen dürfen, hin zu nicht majoritären Institutionen wie Zentralbanken, Gerichten, EU-Kommission, Welthandelsorganisation oder IPCC. Also all jene wichtigen Institutionen, die wir nicht wählen dürfen. Dieser Trend lässt sich als Expertokratisierung der Demokratie bezeichnen und wird von nicht wenigen Bürgerinnen und Bürgern begrüßt. Er verschiebt jedoch die Präferenzen vom Input (Bürgerbeteiligung) und Throughput (demokratische Verfahren der Entscheidungsfindung) hin zum Output. Wichtig ist, so hat schon Helmut Kohl den gegenwärtigen Zeitgeist vorweggenommen, „was hinten herauskommt“. Ich nenne das einen exekutivlastigen Blick auf die repräsentative, parlamentarische Demokratie.

Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise, Klimakrise. Krisen sind eine Konstante der Gegenwart. Gleichzeitig werden politische Herausforderungen immer komplexer. Sind in unseren Antworten darauf bestimmte Reaktionsmuster erkennbar?

Wir haben es im 21. Jahrhundert mit einem neuen Typ von Krisen zu tun. Diese sind wie etwa die Migrations-, Klima- oder Coronakrise von drei Faktoren geprägt: Verwissenschaftlichung, Moralisierung und Polarisierung. Die Wissenschaft liefert da nicht nur den Rohstoff für Entscheidungen, sondern mittlerweile auch Vorschläge für diese gleich mit. Die wissenschaftlichen Vorschläge werden dann im öffentlichen Diskurs rasch moralisiert. Es gibt humanitäre und nicht humanitäre, lebensschützende oder lebensverachtende, moralische oder amoralische Positionen. Es ist dann kein epistemischer, also ein auf Erkenntnis beruhender, sondern ein moralischer Disput.

Moralische Dispute werden gegenwärtig zunehmend mit dem Ziel geführt, den anderen zu diskriminieren und auszugrenzen. Dies verschärft die Krankheit der Polarisierung in unseren Gesellschaften. Das geht an die Substanz der politischen Gemeinschaft. Die brauchen wir aber, um nicht in eine moralinsaure Gesellschaft von selbstgerechten und missgünstigen Individuen zu zerfallen. Nicht zuletzt deshalb, weil wir die Klimakrise gemeinsam, effektiv und demokratisch bekämpfen müssen.