Interview von Claudia Detsch

Zensur ist zu einem Kampfbegriff geworden. Wird der Hinweis auf Zensur in unserer politischen Debatte überstrapaziert?

Grundsätzlich ist es ja sehr gut, dass wir sensibel für eventuelle Bedrohungen der Demokratie sind. Dass wir die Freiheit der Rede verteidigen wollen. Wenn dann aber ständig Zensur beklagt wird, wo eigentlich nur Kritik geübt wurde, dann ist das tatsächlich eine Überstrapazierung des Begriffs ‚Zensur‘. Das geschieht meiner Beobachtung nach in der Politik ebenso wie in Kultur und Medien. Allzu häufig wird im Gerangel um mediale Aufmerksamkeit das Skandalisierungspotenzial des Zensurbegriffs missbraucht – und damit seine Aushöhlung in Kauf genommen.

In Ihrem Buch grenzen Sie die klassische Zensur, wie wir sie aus Diktaturen und autoritären Systemen kennen, von aktuellen Ausprägungen in modernen Rechtsstaaten ab. Wo liegen die Unterschiede?

Zensur in autoritären Systemen ist eine vom Staat ausgehende Kontrolle und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Sie erzeugt eine Atmosphäre physischer und psychischer Bedrohung und führt im schlimmsten Fall zum Tod von Menschen. In Deutschland schützt uns das Grundgesetz, Artikel 5, vor solchen staatlichen Restriktionen der Meinungsfreiheit. Genauso ist es vor 70 Jahren gedacht gewesen: Um Bürgerinnen und Bürger vor dem Staat zu schützen! Allerdings droht die Gefahr für die Meinungsfreiheit heute von anderer, nicht staatlicher Seite (etwa durch digitale Kommunikationslenkung privatwirtschaftlicher Unternehmen), so dass mir eine Neudeutung des Meinungsfreiheits-Artikels 5 dringend notwendig erscheint. Die Zensur hat heute andere Gesichter als vor 70 Jahren.

Sie sprechen von informeller Zensur, die durch wirtschaftliche Marktmacht und die Verquickung von Politik, Wirtschaft und Medien entstehen kann. Wie wirkt diese informelle Zensur? Ist sie so gefährlich wie staatliche Zensur?

Zensuropfer einer Diktatur würden diese Frage sicher verneinen; es geht ja hier nicht um Leib und Leben. Auch kann es bei diesen Vergleich nicht darum gehen, die immer vorhandenen Selektionsmechanismen und Kommunikationslenkungen des Marktes (Beispiel: Werbung) grundsätzlich als ‚Zensur‘ zu bezeichnen. Gefährlich wird es aber dann, wenn öffentliche Massenmedien wirtschaftlich und politisch gesteuert sind, wie es z.B. in den U.S.A. zu beobachten ist, und systematische Meinungsmonopolisierung und ‑unterdrückung betreiben. Die politische und ökonomische Abhängigkeit öffentlicher Medien höhlt Demokratien aus. Dafür gibt es in Geschichte und Gegenwart genügend erschreckende Beispiele.

Die Zukunft ist digital, die Zensur auch, so schreiben Sie. Wie lässt sich diesen Gefahren aus dem Netz für die Meinungsfreiheit begegnen?

Wenn ich das wüsste, bekäme ich bestimmt einen Nobelpreis für die Antwort. Klar ist mir, wie es nicht geht: Dass nämlich zugunsten anderer hehrer Ziele – Rechtsdurchsetzung, Urheberschutz – die Internetkonzerne regelrecht zum großen Löschen animiert werden. Der Kollateralschaden solcher Bestrebungen für die digitale Meinungsfreiheit ist immens. Wir wissen alle noch nicht genau, wie Grundwerte und Grundrechte im Netz wirksam zu schützen sind, aber wir müssen die Herausforderung annehmen. Aktuelle Überlegungen zu digitalen Rechten oder Prinzipien sind ein wichtiger Anfang. Auch die erwähnte Neudeutung des Artikels 5 wäre nach Meinung kritischer Juristen ein notwendiger Schritt: Das Grundgesetz sollte in digitalen Zeiten mit ‚Zensur‘ mehr meinen als nur staatliche Vorzensur. Es könnte dann eine Drittwirkung auf privatwirtschaftliche Unternehmen ausüben und diese genauso in die Pflicht der Zensurfreiheit nehmen.

Warum ist der Zensur-Vorwurf gerade im rechten Lager so beliebt?

Weil er wunderbar vom eigentlichen Thema ablenkt. Man poltert menschenverachtend, rassistisch, homophob oder sexistisch daher – und wenn man Kritik erfährt, lässt man sich lieber nicht auf eine echte Diskussion ein. Wie sollte man auch ernsthafte Argumente für derartige Diskriminierungen finden? Es ist viel einfacher, das Mantra „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“ aufzusagen und sich als Opfer zu inszenieren.