Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

In Ihrem Buch „Der Triumph der Ungerechtigkeit – Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert“ gehen Sie und Ihr Co-Autor Emmanuel Saez der wachsenden Ungleichheit auf den Grund. Was sind Ihre wichtigsten Kernaussagen?

Es gibt den Triumph der Steuerungerechtigkeit, wie wir es nennen. Dabei kommen zwei Phänomene zusammen: Das eine ist die wachsende Ungleichheit und das andere die abnehmende Steuerprogressivität. Das ist so ziemlich überall auf der Welt geschehen, aber in den USA, wo die Ungleichheit besonders stark gestiegen ist, hat das extreme Ausmaße angenommen. Dort hat das oberste Prozent seinen Einkommensanteil von 1980 bis heute verdoppelt – von zehn auf 20 Prozent des Volkseinkommens.

Gleichzeitig erleben wir eine dramatische Abnahme der Steuerprogressivität. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war das US-amerikanische Steuersystem noch sehr progressiv. Berücksichtigt man sämtliche Steuern, die auf allen staatlichen Ebenen gezahlt werden, wirkt das US-Steuersystem heute wie eine riesige Flat Tax, bei der alle Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger den gleichen effektiven Steuersatz zahlen – mit einer einzigen Ausnahme: den Milliardären. Sie zahlen einen niedrigeren effektiven Steuersatz als die Mittelschicht in den USA. Diese Entwicklungen waren in den USA besonders gravierend, aber wir stoßen auf dieselben Muster in Frankreich, Deutschland und überall auf der Welt.

Seit Jahren vertreten Sie die Meinung, dass es tatsächlich machbar sei, die Steuervermeidungspraktiken der multinationalen Unternehmen zu stoppen. Die neue US-Regierung hat kürzlich einen Steuerplan angekündigt, der einen globalen Mindeststeuersatz für Unternehmen von 21 Prozent vorsieht. Falls er umgesetzt wird, mit welchen Konsequenzen wäre dann für das internationale Steuersystem zu rechnen?

Das wäre ein echter Game Changer. In den letzten zehn Jahren waren Politiker von links und rechts mehr oder weniger überzeugt, dass der Steuerwettbewerb ein Naturgesetz ist. Und da er nun einmal gegeben sei, könne man sich nur so darauf einstellen, dass man versucht, durch Senkung der Unternehmenssteuersätze wettbewerbsfähiger zu werden. Aber das ist ein Irrtum. Der Steuerwettbewerb ist eine Entscheidungsfrage. Wir können uns für Steuerwettbewerb entscheiden oder aber für Koordination und Angleichung. Das wird jetzt zum ersten Mal immer mehr Menschen klar, auch denen auf höchster politischer Führungsebene in den USA und Europa.

Inzwischen erkennen wir einen echten politischen Willen, die Spielregeln zu ändern.

Inzwischen erkennen wir einen echten politischen Willen, die Spielregeln zu ändern. Anstatt den Steuerwettbewerb zu akzeptieren, können wir multinationale Unternehmen so kontrollieren, dass sie einen hohen Mindeststeuersatz zahlen – ganz gleich, wo sie tätig sind und wo sie ihre Gewinne verbuchen.

Wir können das Gesicht der Globalisierung tatsächlich nachhaltig verändern. Bisher ist die Globalisierung bei Unternehmenssteuern von einem Unterbietungswettbewerb gekennzeichnet, der multinationale Unternehmen und ihre Aktionäre reicher macht. Die Hauptgewinner der Globalisierung zahlen immer weniger Steuern. Das geht zu Lasten der übrigen Bevölkerung, die entsprechend stärker zur Kasse gebeten wird.

Diese Spielart des internationalen Wettbewerbs ist nicht zukunftsfähig und verschärft die Kluft zwischen Arbeiterklasse und Mittelschicht auf der einen Seite und der internationalen und europäischen Wirtschaftsintegration auf der anderen Seite. Mit hohen Mindeststeuersätzen lässt sich diese Dynamik ändern. Der Unterbietungswettbewerb kann durch einen Überbietungswettbewerb ersetzt werden – statt „race to the bottom“ also „race to the top“.

Natürlich würden die Länder auch weiterhin miteinander konkurrieren, um Unternehmen anzuziehen, aber die Konkurrenz wäre eine andere. Statt sich mit niedrigen Steuersätzen zu unterbieten, würden sie um die beste Infrastruktur, die produktivsten Arbeitskräfte, die besten Universitäten, die größten Märkte und eine hohe Verbraucherkaufkraft konkurrieren. Von einem solchen internationalen Wettbewerb würde die große Mehrheit der Bevölkerung profitieren. Auf einen Schlag hätten wir eine viel nachhaltigere Globalisierung.

Bei den Steuerverhandlungen innerhalb der OECD ging es bislang um eine viel niedrigere Zahl: um 14 Prozent. Das sind nur 1,5 Prozentpunkte mehr als der heutige irische Unternehmenssteuersatz. Das Biden-Team hat sich also ziemlich große Ziele gesteckt. Was können die USA jedoch ausrichten, wenn die anderen Länder und vor allem die Europäer nicht mitziehen? Ihr Kollege Alan Auerbach von der Universität Berkeley hat schon gesagt: „Es ist schwer vorstellbar, dass die OECD sich dem Vorschlag der USA anschließt.“ Wie realistisch ist die Annahme, dass der Plan umgesetzt wird?

Ich halte diese Annahme für sehr realistisch, weil es für die Länder relativ einfach ist, unilaterale Maßnahmen zu ergreifen, die in etwa der Einführung von Mindeststeuern entsprechen würden. Erstens könnte Deutschland seine eigenen multinationalen Unternehmen an die Kandare nehmen. Die Regierung könnte all das, was deutsche Unternehmen gemessen an dem, was sie an Steuern zahlen sollten – wenn sie in jedem Land, in dem sie tätig sind, eine höhere Mindeststeuer zahlten –, zu 100 Prozent eintreiben.

Zweitens könnte Deutschland einen Teil dessen eintreiben, was die ausländischen multinationalen Unternehmen an Steuern zu wenig zahlen. Nehmen wir an, Apple hat ein weltweites Steuerdefizit von zehn Milliarden Euro und macht zehn Prozent seines Umsatzes in Deutschland. Das wäre dann eine Milliarde Euro an zusätzlichen Steuern, die Apple zu zahlen hätte, um Zugang zum deutschen Markt zu erhalten.

Wenn ein Land sich weigert, seine Unternehmen mit einem Mindeststeuersatz zu besteuern, werden es andere Länder tun.

Das kann jedes Land einseitig umsetzen. Für andere Länder ist das ein starker Anreiz, ihre eigenen multinationalen Unternehmen ebenfalls an die Leine zu legen. Wenn ein Land sich weigert, seine Unternehmen mit einem Mindeststeuersatz zu besteuern, werden es andere Länder tun. Die Botschaft ist: Wenn ihr Geld liegen lasst, übernehmen wir die Rolle des „tax collector of last resort“ – des Steuereintreibers der letzten Instanz. Und wenn die Länder so vorgehen, werden wir erleben, dass die Staaten sich international sehr schnell einigen. Deshalb bin ich sehr optimistisch.

Wie wird sich das auf Länder wie Irland und die Niederlande auswirken? Viele EU-Staaten müssten mit Einnahmeverlusten in Milliardenhöhe rechnen und würden Firmensitze und wahrscheinlich auch Tausende von Arbeitsplätzen verlieren.

Es würde Übergangskosten geben, das stimmt. Aber daran wird eben deutlich, dass das Entwicklungsmodell der Steueroasen nicht nachhaltig ist. Dieses Modell geht davon aus, dass es für alle Zeiten Steuerwettbewerb geben wird. Das ist kein nachhaltiges Entwicklungsmodell. Je früher es aufgegeben wird, desto besser für diese Länder.

Joe Biden will mit Steuererhöhungen – vor allem für die Reichen – sein riesiges Infrastrukturprogramm finanzieren. Könnten Sie sich das auch als ein Modell für Deutschland oder andere europäische Länder vorstellen?

Natürlich ist es wichtig, in Infrastruktur, Hochschulbildung, Forschung und Gesundheitswesen zu investieren – also in all das, was für Wohlstand und Produktivität in einem Land sorgt. Vor allem jetzt in der Erholungsphase nach der Corona-Pandemie müssen wir die Fallstricke der letzten Rezession vermeiden. Damals wurden sehr schnell Sparmaßnahmen ergriffen, und die Regierungen haben aus Angst vor Schulden und Defiziten zu wenig in wichtige öffentliche Güter und Dienstleistungen investiert. Jetzt ist es nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und Europa an der Zeit, mit großzügigen Staatsausgaben die Voraussetzungen für mehr Wachstum in den kommenden Jahrzehnten zu schaffen.

Wie lässt sich Ungleichheit Ihrer Meinung nach am besten bekämpfen? Welches sind die richtigen Instrumente, um mehr Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen?

In einem optimalen Steuersystem gibt es vor allem drei Instrumente. Das ist zum einen eine progressive Einkommenssteuer, zu der auch die Körperschaftssteuer gehört. Die zweite Komponente ist eine progressive Vermögenssteuer. Sie ist das geeignete Instrument für die Besteuerung von Milliardären, die sich durch die Einkommenssteuer nur schlecht besteuern lassen. Das liegt daran, dass Superreiche leicht ein enormes Vermögen besitzen und gleichzeitig nur ein geringes steuerpflichtiges Einkommen haben können. Allerdings wird die Vermögenssteuer immer nur eine begrenzte Rolle spielen. Sie deckt nur einen winzigen Anteil der Verteilungsspitze ab, ist aber trotzdem enorm wichtig. Denn die Besteuerung von Milliardären oder Leuten mit Hunderten von Millionen Euro funktioniert am besten über die Vermögenssteuer.

Eine progressive Vermögenssteuer ist das geeignete Instrument für die Besteuerung von Milliardären, die sich durch die Einkommenssteuer nur schlecht besteuern lassen.

Und dann gibt es da noch die progressive Erbschaftssteuer, um die generationsübergreifende Fortschreibung der Ungleichheit zu begrenzen. Das sind die drei wichtigsten Säulen. Woran es heute am meisten hapert, ist die Vermögenssteuer. Mein wichtigster Vorschlag wäre, eine neue Vermögenssteuer zu schaffen, die auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zugeschnitten ist: eine progressive Vermögenssteuer, die ganz oben in der Vermögensverteilung ansetzt und bei der Altvermögen zu seinem Marktwert besteuert werden.

In den meisten europäischen Ländern gibt es derzeit keine Vermögenssteuer. Frankreich hat sie unter Emmanuel Macron erst kürzlich abgeschafft. Kritiker sagen, Vermögen sei kaum messbar und die Vermögenssteuer sei leicht zu umgehen, indem man einfach umzieht, und deshalb funktioniere sie schlicht und einfach nicht.

Diese Probleme sind nicht neu. Schauen Sie: Die Länder können – wie es heute üblich ist – sich dafür entscheiden, ihre im Ausland lebenden Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nicht zu besteuern. Sie können sich aber auch dafür entscheiden, dies zu tun. Deutschland könnte sagen: „Wenn Sie in Deutschland Milliardär werden und sich entscheiden, in die Schweiz zu ziehen, werden wir Sie über einen bestimmten Zeitraum hinweg weiter besteuern. Dieser Zeitraum könnte sich danach richten, wie viele Jahre Sie in Deutschland steuerlich ansässig waren. Wenn Sie zum Beispiel seit 40 Jahren in Deutschland steuerlich ansässig waren, müssen Sie noch zehn oder 15 Jahre lang weiter Steuern in Deutschland zahlen.“ Steuerwettbewerb wird politisch entschieden. Es liegt in der Hand der Regierung, ob sie reiche Leute, die das Land verlassen, besteuert oder nicht.

Für die Vermögensberechnung gilt dasselbe: So kompliziert ist das nicht. Ein Großteil der Spitzenvermögen steckt in Vermögenswerten, die einen Marktwert haben, wie zum Beispiel in börsennotierten Aktien. Und den Geschäftsinhabern von Privatunternehmen könnte der Staat die Möglichkeit geben, mit Sachwerten zu bezahlen. Das würde zum Beispiel bedeuten: Bei einer Vermögenssteuer von drei Prozent würden die Unternehmerinnen und Unternehmer drei Prozent der Aktien ihres Unternehmens dem Staat überlassen, der die Aktien dann verkaufen und damit den Markt schaffen könnte, der derzeit nicht vorhanden ist. Es gibt kreative Methoden, mit denen sich Vermögen messen und Marktwerte, wenn sie denn fehlen, schaffen lassen.

Als die Einkommenssteuer eingeführt wurde, wurde das Einkommen auch nicht gut erfasst. Damals sagten die Leute: „Wenn wir die Einkommen besteuern, wird es Steuervermeidung in großem Stil geben.“ Aber wenn man eine Steuer einführt, entwickelt man auch die administrative Infrastruktur, die Informationen, Buchhaltungsstandards und Konzepte, mit denen der Besteuerungsgegenstand sich bemessen und besteuern lässt. So war es bei der Einkommenssteuer, und genauso wird es auch bei der Vermögenssteuer sein.

Aus dem Englischen von Christine Hardung