Unter den Ländern, die von der Finanzkrise 2008 besonders hart getroffen wurden, ist das kleine Island in der eisigen Nordsee mit seinen nur 330 000 unbeugsamen Seelen das wohl unversöhnlichste. Erst diesen Monat sprach das Oberste Gericht des Landes wieder neun Banker schuldig, die für die Finanzmarktmanipulationen des Jahres 2008 verantwortlich waren. Damit stieg die Zahl der verurteilten Bankmanager auf 35; sie verbringen insgesamt womöglich mehr als 100 Jahre hinter Gittern.

Kurz vor den Parlamentswahlen am 29. Oktober sieht es außerdem so aus, als seien die Isländer ganz versessen darauf, die Konservativen noch einmal abzustrafen. Nach dem Desaster des Jahres 2008, das Island hohe Schulden bescherte, gingen die Isländer auf die Straße und erzwangen Neuwahlen, in denen die Konservativen ihre Macht einbüßten. Zwar kehrten sie 2013 an die Regierung zurück, doch als im Frühjahr 2016 die Panama Papers an die Öffentlichkeit gelangten, wurde bekannt, dass der Ministerpräsident und andere isländische Spitzenpolitiker geheime Bankkonten im Ausland besaßen. Wieder demonstrierten die Isländer auf dem Austurvöllur-Platz hinter dem Althing, ihrem Parlament, bis der Ministerpräsident zurücktrat. Die Demonstrationen und der Rücktritt des Staatschefs zeigten deutlich, dass Island sich zwar erstaunlich schnell erholt hat – Wirtschaftswachstum seit 2011, sinkende Arbeitslosigkeit (die heute unter drei Prozent liegt) und ein vertretbarer Schuldenstand –, dass die Isländer jedoch die ungezügelten verantwortungslosen und illegalen Spekulationen, die ihre Wirtschaft 2008 bis 2010 so schwer erschütterten, nicht vergessen haben und auch nicht vergessen werden.

Die Zahl der verurteilten Bankmanager stieg auf 35; sie verbringen insgesamt womöglich mehr als 100 Jahre hinter Gittern.

Am deutlichsten drückt sich der Zorn der Isländer im spektakulären Aufstieg der Piratenpartei aus, einer der anarchischen, von Hackern geführten Parteien in Europa und darüber hinaus. Die isländischen Piraten sind die erfolgreichsten ihrer Art und errangen als erste Piratenpartei Sitze in einem nationalen Parlament. Im krassen Gegensatz zu ihrem Pendant in Deutschland entwickelte sich die Gruppierung zu einer Partei, die über die Internetfreiheit und die digitalen Rechte hinaus auch andere Probleme anpackt. Die Piraten in Island fordern die Legalisierung von Drogen, ein Grundeinkommen und eine Steuererhöhung für die Reichen. Selbst als winzige Oppositionspartei, die im Althing nur drei von 63 Sitzen innehatte, aktivierte sie Formen der direkten Demokratie, unter anderem mit einem Verfassungsentwurf, der im Crowdsourcing-Verfahren erstellt wurde. Das wichtigste Ziel der Partei ist die Verabschiedung einer neuen zeitgemäßen Verfassung, die jedoch die amtierende Regierung verweigert, obwohl der Entwurf in einer Volksabstimmung angenommen wurde.

Dass die Partei, zumindest bei ihren Anhängern, so populär ist, liegt vor allem an ihrer Frontfrau Birgitta Jónsdóttir. Die 49 Jahre alte Dichterin und ehemalige Wikileaks-Aktivistin ist seit 2008 das Gesicht der Bürger-Opposition. Sie war 2012 Mitbegründerin der isländischen Piratenpartei, nachdem sie schon 2009 zunächst für die Partei Bürgerbewegung als Parlamentarierin ins Althing eingezogen war.

Die Piraten lassen sich weder als rechts noch als links etikettieren. „Wir kämpfen für einen grundlegenden demokratischen Wandel“, sagt Jónsdóttir in ihrem würfelförmigen Büro des Althing. An den Wänden hängen ein Poster „Free Bradley Manning“ (Chelseas Haare sind filzstiftbunt), ein Porträt des Dalai Lama und eine übergroße schwarze Flagge mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Im Regal steht ein rotes Megaphon.

Den Umfragen zufolge liegen zwei progressive Parteien, die Piratenpartei und die Links-Grüne Bewegung, derzeit Kopf an Kopf mit der Unabhängigkeitspartei, einem Grundpfeiler des Konservatismus in Island und Teil der noch regierenden Koalition. Die linken Parteien scheinen mehr als genug Anhänger zu haben, um eine Minderheitsregierung zu bilden, und sie haben bereits ihre Bereitschaft signalisiert, gemeinsam die Macht zu übernehmen. Die sozialdemokratische Allianz, die traditionelle linke Partei Islands, hinkt mit unter zehn Prozent weit hinterher.

Anders als die übrigen Betroffenen in Nordamerika und Europa half Island nach der Krise 2008 seinen Banken nicht aus der Patsche, sondern ließ sie bankrottgehen und verstaatlichte sie anschließend. Die Steuergelder wanderten stattdessen in die Bewahrung des sozialen Sicherungsnetzes. Außerdem wurde die Isländische Krone um 60 Prozent abgewertet, eine Möglichkeit, die die Südeuropäer wegen des Euros nicht hatten. Das isländische Rezept wird von Wirtschaftsfachleuten wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz gelobt. Neben dem Bankenkollaps gehören zu diesem Rezept die Abwertung der Währung, Kapitalkontrollen sowie ein Schuldenschnitt.

Anders als die übrigen Betroffenen in Nordamerika und Europa half Island nach der Krise 2008 seinen Banken nicht aus der Patsche, sondern ließ sie bankrottgehen und verstaatlichte sie anschließend.

Diese Maßnahmen, die das Fundament für die derzeitige Erholung legten, waren 2009 bis 2013 das Werk der Regierung aus Sozialdemokraten und Links-Grünen, die die Konservativen ablöste. Doch die erste rot-grüne Koalition in Island hatte mit ihrer mangelnden Erfahrung ebenso zu kämpfen wie mit der Umsetzung der vom Internationalen Währungsfonds vorgeschriebenen Sparmaßnahmen, die sogar nach südeuropäischem Maßstab drastisch waren und die isländischen Bürger schmerzlich trafen. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf über acht Prozent hoch.

In der Parlamentswahl 2009 hatten die Sozialdemokraten noch mehr Stimmen als jede andere Partei. Doch ungeachtet der Errungenschaften dieser Wahlperiode müssen vor allem die Sozialdemokraten einen hohen Preis für den Icesave-Skandal zahlen, der sich um Schulden Islands gegenüber den Niederlanden und Großbritannien drehte.

„Das größte Problem war, dass die [rot-grüne] Koalition private Schulden sozialisieren wollte, indem sie Ansprüche der Niederlande und Großbritanniens gegen [die Online-Bank] Icesave dem Staat aufbürdete, hochverzinsliche Darlehen, die der Landsbanki angeboten wurden, als sie knapp an Bargeld war“, erklärt Karl Blöndal, stellvertretender Herausgeber der Mitte-rechts ausgerichteten Zeitung Morgunbladid. Der unabhängige isländische Präsident Ólafur Ragnar Grímsson legte gegen die Maßnahmen der Regierung zweimal sein Veto ein, und zweimal wurden sie in Referenden abgelehnt. (Am Ende brachte der Verkauf der Landsbanki-Vermögenswerte fast genug ein, um den Briten und den Niederländern ihr Geld zurückzuzahlen.)

Zusätzlich führte die linke Regierung „eine Fülle unpopulärer Steuern ein, die Wirtschaft lag am Boden, und die Erholung ging langsam voran. Der schnelle Eintritt in die EU erwies sich als mühsam und quälend, und gegen Ende der Amtsperiode stand die Regierung auf dem Abstellgleis, weil sich die öffentliche Meinung gegen sie gewendet hatte“, so Blöndal.

Die Links-Grüne Bewegung hat offenbar geschafft, was den Sozialdemokraten nicht gelang: Sie haben das Vertrauen, das sie in ihrer Amtszeit eingebüßt haben, zurückgewonnen. Darüber hinaus haben die Links-Grünen in Katrín Jakobsdóttir eine Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt, die Beobachtern zufolge eine Übernahme dieses Amtes durch die Piraten  – wogegen viele Isländer Vorbehalte haben – verhindern könnte.

Das Programm der Links-Grünen ist geprägt von Sozialdemokratie, Feminismus und Pazifismus, und die Partei lehnt eine EU-Mitgliedschaft ab.

„Jakobsdóttir genießt auch in meinen Augen breite Unterstützung“, so Jon Alton, Übersetzer und Touristenführer, der meint, Jakobsdóttir werde eine bessere Ministerpräsidentin abgeben als Jónsdóttir. Das Programm der Links-Grünen ist geprägt von Sozialdemokratie, Feminismus und Pazifismus, und die Partei lehnt eine EU-Mitgliedschaft ab.

Die Aussicht auf eine Regierung aus Grünen und Piraten ist verlockend, da sie in der europäischen Parteienlandschaft eine neue Option darstellt. Jónsdóttir sagt, sie werde auf keinen Fall zulassen, dass die Piraten dem Vorbild Syrizas in Griechenland folgen, die ihre Grundsätze verriet, als sie sich einer Rettungsaktion zuliebe den Bedingungen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union unterwarf. „Wir erreichen in der nächsten Wahlperiode, was wir uns vorgenommen haben, oder ich ziehe mich aus der Politik zurück. Sie werden mich dann in vier Jahren hier nicht mehr sehen“, sagt Jónsdóttir .