Der Fall brachte das Jugendstrafrecht buchstäblich an seine Grenzen: 2011 verurteilte ein Gericht im mexikanischen Bundesstaat Morelos den damals 14-jährigen Edgar Jiménez Lugo zur Höchststrafe von drei Jahren Haft. Mehr konnte es nicht geben, obwohl Lugo gestanden hatte, im Auftrag des Beltrán-Drogenkartells vier Menschen bestialisch getötet und enthauptet zu haben. Die Leichen hängte er, der angab, unter Zwang und Einfluss von Rauschmitteln gestanden zu haben, mit Hilfe seiner Komplizen an eine Brücke in der Stadt Cuernavaca. Im Sommer 2014 wurde er wieder aus der Haft entlassen und in sein Geburtsland überführt: die USA.
Um es vorwegzunehmen: Sie, liebe Leser, haben sich hier nicht im Kontinent geirrt! An dieser Stelle schreibe ich sonst über den Nahen Osten, mit dem ich mich schwerpunktmäßig auseinandersetze. Für Lateinamerika ist bei der „IPG“ derzeit eigentlich der Kollege Sebastian Schoepp zuständig, der von diesem Teil der Welt etwas versteht. Ich habe mich zwar einige Male in Mittelamerika aufgehalten, zuletzt 2011 in einem Ort namens Ocotlán in Zentralmexiko, wo man kurz vor meiner Ankunft ein Dutzend enthaupteter Leichen ausgegraben hatte. Aber ich bin weder Fachmann für Drogenkartelle noch für lateinamerikanische Politik.
Dennoch, meine ich, lohnt es sich, die obszönen Grausamkeiten und deren Inszenierung einmal durch andere Prismen zu betrachten: im Nahen Osten mit seinem sogenannten Islamischen Staat und dessen Enthauptungsindustrie ebenso wie in den Drogen- und Guerillakriegen der beiden Amerikas.
Für die Zunft der „vergleichenden Konfliktforscher“ mag das kein origineller Ansatz sein. Aber es liegt wohl in der Natur unserer Medienökonomie, dass wir unser Augenmerk vor allem auf das Einzigartige, Nie-Dagewesene, Monströse richten, das jener „Islamische Staat“ heute für uns repräsentiert: eine reaktive Mischung aus religiösem Fanatismus, maßloser Gewaltanwendung und Endzeit-Euphorie. Eine Verhöhnung der Zivilisation.
Ohne den Islam, ohne die pseudo-historischen Referenzen und das Gewürz einer obskuren Kalifatsidee wäre die Verfallszeit der Nachrichten zu „IS“ sicher kürzer. Das liegt womöglich nicht nur an der mittelbaren Bedrohung, die von den Dschihadisten für Europa ausgeht, sondern auch daran, dass dieses ganze Treiben bar jeder Rationalität erscheint.
Mexikos „IS“-Gewalt
Mit der Gewalt in Mexiko, Honduras oder Kolumbien scheint das anders: Zunächst ist sie weit entfernt und zumindest scheinbar nicht unser Problem. Doch seit 2006 starben allein in Mexiko weit über 100.000 Menschen im Drogenkrieg, davon allein rund 24.000 im Jahr 2011. Hunderte wurden enthauptet – allein 49 an jenem 13. Mai 2012 beim sogenannten Cadereyta-Massaker im Bundesstaat Nuevo León. Das Kartell „Los Zetas“ führte das Enthauptungsvideo als Markenzeichen ein – es ist heute beinahe gang und gäbe unter den Banden und wird auch an völlig unschuldigen Zivilisten exerziert.
Ein anderes Phänomen liegt schon weiter zurück in der Geschichte, soll aber dennoch Erwähnung finden: Das berüchtigte Kartell von Medellín zündete Ende der 1980er Jahre Autobomben in den Straßen Bogotás und sprengte dabei Dutzende von Passanten in die Luft. Und bei den sogenannten „Volksprozessen“ der maoistischen Guerillagruppe „Leuchtender Pfad“ in Peru wurden laut Berichten der zuständigen Wahrheitskommission „Verräter“ gesteinigt. Rechte paramilitärische Milizen, die gegen die FARC in Kolumbien kämpften, machten indes von ihren Taten reden, weil sie bei lebendigem Leib kastrierte Männer auf Marktplätzen aufhängten.
Wir kommen aber nicht umhin, uns zu fragen, wie es bis heute zu solch einer Verrohung und Entgrenzung von Gewalt kommen kann.
Es mag mühselig sein. Wir kommen aber nicht umhin, uns zu fragen, wie es bis heute zu solch einer Verrohung und Entgrenzung von Gewalt kommen kann. Mit der Deutung, dass die IS-Dschihadisten nur alte orientalische Praktiken aufleben lassen – etwa die zu Zeiten Muhammads unter arabischen Stämmen üblichen Verstümmelungsrituale – werden wir nicht weit gelangen.
Vor allem aber glauben wir zu wissen, was der „Narco-Terrorismus“ will: Macht und Geld. Dieser Zielerreichung dient das Verbreiten größtmöglichen Schreckens. Im Vergleich zur angeblichen Welteroberung durch „den Islam“ erscheint das geradezu als vernünftige Zielmarke: Die Gesellschaft soll sich den Narcos beugen, Rivalen ihre Waffen strecken, Staaten sich mit ihnen arrangieren.
Der Narco-Terrorismus baut seinen „Staat“ im Vergleich zu „IS“ unsichtbar. Ohne schwarze Fahnen, ohne Scharia-Gerichte und religiös verbrämte Ideologie. Wobei auch das nicht ganz richtig ist: In Lateinamerika gab und gibt es ganze Provinzen, in denen Narcos herrschen. Mit eigenen Panzern, Schiedsgerichten, Geheimdiensten und ungeschriebenen, aber ehern geltenden Gesetzen.
Sie terrorisieren die Bevölkerung, verschaffen ihr aber auch Jobs und so etwas wie Sicherheit, die freilich eher einer Grabesruhe gleicht. Und sie praktizieren bisweilen eigene religiöse Kulte und huldigen eigenen spirituellen Führern. Manche Mafia-Bonzen, gleich ob lebendig oder tot, werden wie Götzen besungen und verehrt.
„Islamischer Staat“ als Superkartell
Ich habe dazu noch kein abschließendes Urteil finden können, frage mich aber, ob dieses unvergleichliche Monster, das sich „IS“ nennt, inzwischen nicht viel stärker einem verbrecherischen Superkartell gleicht, als wir das durch den Schleier des dschihadistischen Propagandanebels wahrnehmen können.
Das hat weniger mit dem Umstand zu tun, dass einige dschihadistische Gruppen in Afrika auch mit Drogenhandel Geld verdienen, als vielmehr mit den etablierten Machtstrukturen.
Dieses IS-Kartell steht nicht allein. Es muss neben anderen bestehen und seine Spitzenposition behaupten. Es muss geschmuggelte Rohstoffe zu Bestpreisen auf den Markt werfen. Schutz- und Lösegelder werden erpresst, um den täglichen Bedarf an Personalkosten zu decken. Es braucht einen erheblichen Durchlauf an Abschreckung und brutalen Selbstdarstellungen, um für potenzielle Anwärter attraktiv zu bleiben und gleichzeitig zu verhindern, dass Führungskräfte von anderen abgeworben werden.
Überlebenswichtig für ein erfolgreiches Kartell ist allerdings, dass man mit der „Staatlichkeit“ im Reinen ist: Einerseits darf es dort, wo ein Kartell herrscht, gar keinen Staat im positiven Sinne geben. Der gesellschaftliche Boden ist erst dann fruchtbar, wenn die dortige Bevölkerung beim Wort „Staat“ nur noch Angst, Misstrauen oder Abscheu empfindet. Staatliche Repressionen gegen das Kartell, so sie denn vorgesehen sind, können sogar nützlich sein. Sie müssen nur zuvorderst die Zivilbevölkerung treffen – sei es durch Bombenangriffe oder chemische Unkrautvernichter, die aus der Luft auf Koka-Pflanzen gesprüht werden, dabei aber auch die Ernte regulärer Landwirtschaft vernichten. Andererseits braucht ein erfolgreiches Kartell auch Staatsmächte, die mit ihm eine solide Schnittmenge an Interessen teilen und es deshalb direkt oder mittelbar unterstützen.
Es wäre wohl mehr als eine intellektuelle Übung, die Eigenschaften der Drogenkartelle und dschihadistischen Gebilde wie „IS“ durchzudeklinieren.
Es wäre wohl mehr als eine intellektuelle Übung, die Eigenschaften der Drogenkartelle und dschihadistischen Gebilde wie „IS“ durchzudeklinieren: Nahost- und Lateinamerika-Experten, Konfliktforscher, Kriminologen und Finanzforensiker sollten sich zusammentun. Sie dürften zu beachtlichen Erkenntnissen gelangen.
Manche Kritiker mögen diesen Vorschlag schon für apologetisch, für eine Verharmlosung des Dschihadismus halten. Um deren Pointe gleich vorwegzunehmen: Ich denke nicht, dass der Islam bei dem Problem „IS“ ein Äquivalent zu dem darstellt, was die Drogen bei den Narco-Terroristen sind. Aber in der Auseinandersetzung sollte auch dieses Argument gestattet sein, wenn es denn der Erkenntnis dient.
Womöglich sind die Schaltzentralen der Geheimdienste ja auch schon dabei und studieren Fälle, Muster und Gemeinsamkeiten. Die einen werden dann wohl zu dem Schluss kommen, dass man „ganzheitliche“ politische und ökonomische Konzepte zum Interessenausgleich finden muss.
Andere werden sich daran erinnern, dass nicht die Spezialkräfte der US Delta Force, sondern eine ruchlose, geheime Paramilitärtruppe namens „Los Pepes“ dem Medellín-Kartell in Kolumbien das Handwerk legte. Indem es nämlich mit den gleichen Methoden vorging: Anschläge, Erpressungen und Terror, einschließlich der Zurschaustellung verstümmelter Leichen. Dabei schien es historisch unbedeutend, dass die Pepes offenbar nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit einem konkurrierenden Kartell im Bunde standen.
Könnte man – so wird sich wohl schon mancher Sicherheitsexperte fragen – den „IS“ und seine weltweilten Unterstützer nicht am effizientesten dadurch eindämmen, dass man deren Bereitschaft, Schmerzen zu erleiden und ihr Leben im Dschihad zu opfern, einmal auf Herz und Nieren prüft?
8 Leserbriefe
Ähnlich steht es mit dem Verkauf von antiken Kunstwerken, da diese – sofern sie bildliche Darstellungen von beseelten Wesen enthalten – nach der vom IS vertretenen Glaubenslehre zerstört werden müßten und nicht verkauft werden dürfen.
Die Schari´a ist das umfassende Gebäude des islamischen Rechts, und in einem islamischen Staat sind „Schari´a-Gerichte“ die Gerichte schlechthin. In den meisten arabischen Staate ist der Zuständigkeitsbereich der Schari´a-Gerichte jedoch auf Ehe-, Familien- und Erbrecht beschränkt, weshalb man sie zur Unterscheidung der Gerichte, die nicht nach islamischem Recht vorgehen, „Schari´a-Gerichte“ nennt. In einem wirklich islamischen Staat ist es nach dem Konsens der Gelehrten jedoch unverzichtbar, in allen Bereichen nach dem islamischen Recht vorzugehen, da es im Koran heißt: „Wer nicht nach dem waltet (richtet und regiert), was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, das sind die Wahrheitsverdecker (Ungläubigen).“ [Sure 5, 44] Es ist somit nur die Frage, ob die Schari´a-Richter rechtsstaatliche Methoden anwenden oder willkürliche Urteile fällen.
Seien wir ehrlich: Auch die Steuern, die an einen demokratischen Staat, wie die BRD, gezahlt werden, sind im Grunde erpreßte Zahlungen, da andernfalls die Beschlagnahme des Vermögens und eine Geld- oder Freiheitsstrafe droht. Der IS ist nicht einfach ein Kartell in einem bestehenden Staat, sondern zumindest im Ansatz ein Staat, der die Herrschaft und staatliche Aufgaben auf einem Gebiet übernommen, das er durch militärische Aktionen zwei anderen bestehenden Staaten abgenommen hat. Steuerzahlungen an ihn stellen somit Zahlungen an einen Staat und nicht an ein Kartell dar, gleich ob sie freiwillig oder unter Zwang geleistet werden.
Wenn nicht endlich begriffen wird das eigentlich jeder sich an der eigenen Nase packen muss und nicht immer die Regierung verantwortlich machen kann, wenn nicht jeder begreift das er sich nicht illegal bereichern darf nur weil er meint die Regierung macht es ja auch, solange bleibt es beim alten. Mexiko wird aus eigener Kraft leider in naher Zukunft nicht die Füße auf den Boden bekommen. Aber bitte auch nicht von dem großen Nachbar. Schaut man sich die letzten Ereignisse in Guerrero an, Studenten gegen den Staat. Oder eine politische Richtung unter dem Deckmantel der Uni gegen den Staat. Eine unendliche Geschichte, leider zu unglaubwürdig um es zu erzählen.