Es ist dieser Tage viel von der Zukunft junger Menschen in anderen Regionen als Europa die Rede. Wie deren Perspektive aussieht, lässt sich beispielhaft am Fall des Südsudan diskutieren. Der Blick dorthin ist aus zwei Gründen reizvoll: Der Südsudan wurde nach einem drei Jahrzehnte dauernden Unabhängigkeitskrieg erst 2011 gegründet. Er ist damit der jüngste Staat der Welt. Jung ist das Land auch mit Blick auf seine rund zwölf Millionen Bewohnerinnen und Bewohner: Die Hälfte von ihnen ist jünger als 16 Jahre. Bei einem Wachstum von vier Prozent hält dieser Trend an, der Anteil der jungen Menschen wird weiter steigen.

Ein junger Staat also, mit vielversprechender Zukunft? Leider nein. Kaum gegründet, ist der Südsudan schon wieder am Ende, und seiner Bevölkerung droht dasselbe Schicksal. Das liegt vor allem an den Folgen mehrerer Kriege, von denen der jüngste im Dezember 2013 begann. Ein Friedensabkommen, das die beiden Konfliktparteien der Dinka und der Nuer Ende August durch massiven internationalen Druck unterzeichneten, wurde schon wieder gebrochen, genauso wie die mindestens sieben Waffenstillstandsabkommen der vergangenen Monate. Vor diesem aktuellen Krieg kämpften die Südsudanesinnen und Südsudanesen drei Jahrzehnte lang für ihre Unabhängigkeit vom Sudan, und auch damals schon gegeneinander. Die damals verübten Kriegsverbrechen und die in diesen Kriegsjahren erlittenen Traumata führten zu dem Furor, mit dem die Volksgruppen während des jüngsten Krieges aufeinander losgingen. Sie verstümmelten und massakrierten einander, versuchten, sich gegenseitig zu vernichten.

Der Blick auf die südsudanesische Statistik beginnt mit dem Staunen darüber, dass es überhaupt sechs Millionen Kinder geschafft haben, 16 Jahre alt zu werden.

Zahlen sind ein trockenes Brot, in diesem Fall fassen sie das Elend und die Kriegsfolgen aber nüchtern und trotzdem anschaulich zusammen. Der Blick auf die südsudanesische Statistik beginnt mit dem Staunen darüber, dass es überhaupt sechs Millionen Kinder geschafft haben, 16 Jahre alt zu werden. Neugeborene sterben im Südsudan zwanzig Mal so häufig wie in Deutschland: 66 von 1000 Babys überleben im Südsudan nicht die Geburt. In Deutschland sind es nur 3,4. Die wichtigste Ursache für die extrem hohe Kindersterblichkeit ist Mangelernährung. Haben sie die Geburt überlebt, hungern die Kleinkinder weiter. Ein Drittel der Jungen und Mädchen unter fünf Jahren ist untergewichtig.

Wenden wir den Blick vom nackten Überleben ab und gucken auf die Bildungschancen, den Schlüssel für die Zukunft der jungen Südsudanesinnen und Südsudanesen. Nicht einmal ein Drittel (27 Prozent) der Erwachsenen (über 15 Jahre) können lesen und schreiben. Mehr als zwei Drittel sind also Analphabeten. Laut UNESCO ist das die höchste Rate der Welt. Über das Schreiben-Lernen hinaus kommt sowieso nicht mehr viel: Weniger als zwei Prozent der Erwachsenen haben auch nur die Primarschule abgeschlossen. Die so genannten Lehrer sind ihnen kaum überlegen: Die meisten von ihnen haben selbst nur die Primarschule abgeschlossen und somit schon inhaltlich wenig Ahnung von ihren Fächern. Was pädagogische Kenntnisse angeht, sind sie völlig blank. Am schlimmsten ist aber vielleicht das Problem mit der Sprache. Während des langjährigen Unabhängigkeitskrieges flohen viele Südsudanesinnen und Südsudanesen in den Sudan, praktisch also in die Arme des Feindes. Denn die sudanesische Regierung in Khartum hielt den Süden mit Absicht unterentwickelt, ließ weder Schulen noch Krankenhäuser bauen. An Universitäten war gar nicht zu denken, es gab ja noch nicht einmal Städte, die diesen Namen verdienten. Wer also etwas lernen wollte, ging notgedrungen nach Norden – und lernte dort auf Arabisch.

Mit der Unabhängigkeit des Südens kehrten viele dieser Kriegsflüchtlinge „nach Hause“ zurück, in ein kriegszerstörtes Land ohne Infrastruktur. Diese Rückkehrer waren hoch motiviert und wollten die im doppelten Sinne zurückgebliebenen Südsudanesen an ihrer eigenen Bildung teilhaben lassen. Sie zimmerten Äste zusammen und machten daraus Schulbänke, bestimmten den Schatten unter größeren Bäumen zu Klassenzimmern und fingen mit dem Unterricht an, jedenfalls in der Trockenzeit. In den ausgiebigen Regenzeiten fiel die Schule für Monate aus. An vielen Orten ist das bis heute nicht anders.

So viel Respekt das Engagement der Rückkehrer auch verdient, so dürftig ist trotzdem die Qualität ihres Unterrichts. Im Südsudan ist Englisch die Unterrichtssprache, aber die meisten Rückkehrer haben auf Arabisch gelernt und beherrschen Englisch kaum. Bei einem Besuch in einer dieser „Baumschulen“ habe ich mit dem Direktor gesprochen, der zugleich der Englischlehrer war. Schon nach wenigen Minuten stellten wir fest, dass wir einander buchstäblich nicht verstehen, wir brauchten einen Dolmetscher zwischen Arabisch und Englisch. Den Schülerinnen und Schülern war die Trostlosigkeit ihrer Lage durchaus bewusst. Wegen des Krieges hatten die meisten ohnehin schon viele Jahre verloren, 14-Jährige saßen in der ersten Klasse und ähnliches. Alle wussten, dass sie weitere wertvolle Jahre vergeuden, dass ihnen ihre Zukunft durch die Finger rinnt.

Und was macht die politische und militärische Elite dieses Landes? Führt seit Dezember 2013 wieder Krieg. Immerhin haben Präsident Salva Kiir und Rebellenführer Riek Machar im August ein Friedensabkommen unterzeichnet. Dem Vernehmen nach haben vor allem die USA dem wiederstrebenden Präsidenten Kiir deutlich gemacht, dass er gar keine andere Chance habe, als seine Unterschrift unter das Vertragswerk zu setzen. Was die Konfliktparteien von dem solcherart oktroyierten Abkommen umsetzen, wird sich zeigen. Immerhin sind die Kämpfe seit der Unterzeichnung im August deutlich weniger intensiv als zuvor, aber ein landesweiter Friede ist das noch nicht.

Dass Bashir ein Kriegsverbrecher und Diktator ist, steht außer Frage. Aber die „Christen“ im Süden stehen ihm in Grausamkeit nicht nach.

Hat also die internationale Gemeinschaft endlich das Richtige getan, hat sie durch massiven Druck einen Frieden im Südsudan erzwungen? Eher nicht. Obwohl der Wunsch, aus früheren Fehlern zu lernen und diesmal das Richtige zu tun, in westlichen Hauptstädten ausgeprägt war. Denn die Fehler nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges haben sich bitter gerächt. Dazu gehörte in erster Linie eine viel zu nachsichtige Haltung gegenüber der Elite im Südsudan, ein viel zu forsches Drängen zur Gründung dieses Staates. Der christlich-konservativen, oft auch evangelikalen Lobby vor allem in den USA schien der angeblich christliche Süden als Hort des Guten gegen das angeblich im Norden personifizierte Böse, nämlich den muslimischen Staat unter Omar al-Bashir. Dass Bashir ein Kriegsverbrecher und Diktator ist, steht außer Frage. Aber die „Christen“ im Süden stehen ihm in Grausamkeit nicht nach. Doch die Verbrechen, die Dinka und Nuer einander schon während der früheren Kriege antaten, wurden in der internationalen Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet.

Nicht nur die christliche Lobby setzte sich noch für die Staatsgründung ein, als massive Probleme bereits absehbar wurden. Auch westlichen Diplomaten schien ein „christlicher“ Süden als Gegengewicht zu Omar al-Bashir und seinem islamistischen Staat so wichtig, dass sie bereitwillig über Korruption, ein militaristisches Staatsverständnis der südsudanesischen Elite und die Kriegsverbrechen zentraler Akteure hinwegsahen. Denn unter Bashir konnte sich Osama bin Laden bis 1996 problemlos im Sudan aufhalten, und die USA setzen das Land in den 1990er Jahren auf die Liste der „Schurkenstaaten“. Nach den Attentaten am 7. August 1998 auf die US-Botschaften in der kenianischen Hauptstadt Nairobi und in der tansanischen Metropole Daressalam führten die Vereinigten Staaten Militäraktionen auch gegen Khartum durch, weil im Sudan Unterstützer der Terroristen vermutet wurden. Der Raketenangriff zerstörte eine Arzneimittelfabrik, und al-Bashir brach daraufhin mit der westlichen Weltmacht.

Das ist der ideologische Kontext, in dem der Westen die Gründung des Staates Südsudan betrieb und die dortige Elite politisch und finanziell massiv unterstützte. Ab 2011 übernahm die einstige Rebellenarmee SPLA („Befreiungsarmee des Südsudanesischen Volkes“) in der neuen Hauptstadt Juba die Macht, notdürftig zur Partei gewandelt. Dass sie die geforderte Demobilisierung der Rebellenarmee hintertrieb – man sah darüber hinweg. Dass der Umbau der Armee zu einer Partei im Kern nie stattfand – man tolerierte das als Übergangsproblem. Dass im jungen Staat nur die Korruption zu blühen begann – man nahm das mit einem Achselzucken hin.

Nur wenn sich diese Fehler nicht wiederholen, wird das jüngste Friedensabkommen nachhaltig sein. Die Zeichen dafür stehen nicht gut. Viele Beobachter weisen darauf hin, dass Salva Kiir und Riek Machar das Abkommen nur durch Druck unterzeichneten und selbst kaum daran glauben. Dass die Anhänger der beiden Kriegsgegner schon gar nicht um ihre Meinung gefragt worden sind. Dass also im Südsudan kaum jemand wirklich hinter dem Abkommen steht. Da ist kaum anzunehmen, dass dieser Friede hält. Vermutlich wird der Südsudan auch dieses Mal scheitern, an Ideen, die andere für ihn ersonnen haben.