Die indigene muslimische Minderheitsbevölkerung der Uiguren in Chinas westlicher Region Xinjiang hat möglicherweise mit Xi Jinping einen neuen Fürsprecher in Peking. Der Präsident sprach sich nämlich kürzlich während seines Besuchs in der Unruheregion für politische Maßnahmen zur besseren Integration des Turkvolkes in die chinesische Gesellschaft aus. Gleichzeitig bekräftigte er nochmals, dass Peking keine weitere separatistische Gewalt dulden würde.

Seit seinem Amtsantritt im November 2012 ist Xi als Regierungschef aufgetreten, der sich einerseits für die unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen seines Landes einsetzt, andererseits aber auch immer wieder die Bedeutung und Stärke des Einparteiensystems betont. Diese Zweigleisigkeit war auch während seines Besuchs in Xinjiang herauszuhören.

Xis Besuch in Xinjiang könnte sich durchaus als Wendepunkt für die wirtschaftlich aufstrebende Region erweisen. Wenn Xi jedoch wie seine Vorgänger die Gewalt in der Region weiterhin der uigurischen Minderheit und ihrem vermeintlichen religiösen Separatismus – statt ihrer wirtschaftlichen Benachteiligung – zuschreibt, wird er zwangsläufig die in der Vergangenheit gemachten Fehler wiederholen.

 

Uiguren werden ausgegrenzt

Die – im wahrsten Sinne des Wortes – die Mehrheitsbevölkerung der Han-Chinesen überragenden Uiguren sehen nicht wie typische Chinesen aus. Mit ihren dicken Augenbrauen, den dunklen Bärten und ihrer allgemein etwas dunkleren und leicht olivfarbenen Haut unterscheiden sie sich schon rein äußerlich von ihren chinesischen Nachbarn. Und auch die Tatsache, dass sie mit Uigur eine eigene in arabischer Schrift geschriebene Turksprache sprechen, perpetuiert ihr Image des „Andersseins“ in Chinas Nationalnarrativ.

Als gemäßigte sunnitische Muslime folgen sie einer Form des Islam, die stark von Sufi-Bruderschaften, vom Buddhismus und von ostasiatischen Weltanschauungen beeinflusst ist. Ihre Präsenz in Xinjiang ist bis auf das achte Jahrhundert zurückzuverfolgen, wobei ihre Erfahrungen wie die vieler zentralasiatischer Völker von Krieg und Eroberungen geprägt sind. Obwohl Xinjiang schon mehr als ein halbes Jahrhundert offiziell zu China gehört, werden die Uiguren, die knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung Xinjiangs ausmachen, immer noch wie Fremde behandelt und unterdrückt.

In China gelten im ganzen Land strenge religiöse Vorschriften; der Islam ist davon nicht ausgenommen. Beispielsweise ist Kindern unter 18 Jahren die Ausübung einer Religion untersagt. Dem Leiter der uigurischen Menschenrechtsorganisation (Uyghur Human Rights Project, UHRP) Greg Fay zufolge wird diese Religionspolitik in anderen Regionen weniger streng verfolgt, gegen die Uiguren in Xinjiang aber mit eiserner Hand durchgesetzt.

Die Uiguren klagen über religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Verfolgung durch die von Han-Chinesen dominierte Regierung in Peking und kämpfen ähnlich wie die Tibeter um den Erhalt ihrer Kultur.

Obwohl der Islam in China seit einigen Jahren wieder sehr an Bedeutung gewinnt, werden die Uiguren immer stärker gegängelt. In Xinjiang werden mehr Menschen als je zuvor verhaftet, weil sie sich im Internet religiös betätigten, indem sie beispielsweise an Religionsunterricht teilnahmen oder nach religiösen Schriften suchten. „Die Politik in Xingjiang wird immer rigider“, sagt Fay.

Die Uiguren klagen über religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Verfolgung durch die von Han-Chinesen dominierte Regierung in Peking und kämpfen ähnlich wie die Tibeter um den Erhalt ihrer Kultur. Unter dem Vorwand, damit die Ausbreitung eines islamischen Extremismus zu verhindern, schränkt die chinesische Regierung die Uiguren auch in ihrer Reisefreiheit ein.

 

Existiert Terrorgruppe ETIM?

Das rigorose Vorgehen der Regierung gegen islamistische Gewalt begann 1998 mit der „Kampagne des harten Durchgreifens“. Es handelte sich um eine landesweite Kampagne, die sich in Xinjiang allerdings ausschließlich gegen die Uiguren richtete. Nach wie vor werden aufgrund der im Rahmen der Kampagne eingeführten Sicherheitsmaßregeln jährlich Hunderte von Uiguren verhaftet.

Später nutzte Peking die sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 weltweit ausbreitende Angst vor Muslimen, um die Islamische Partei Ostturkistans (ETIM) als uigurische terroristische Gruppierung zu brandmarken. Einige Experten bezweifeln allerdings die Existenz dieser Gruppierung. In der Phase einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen den USA und China im August 2002 nahm das US-Außenministerium diese nahezu unbekannte Organisation sogar in ihre Liste terroristischer Vereinigungen auf, strich sie aber bald wieder – vermutlich aufgrund fehlender Beweise, dass sie wirklich noch existiert.

Yitzhak Shichor, emeritierter Professor an der Hebräischen Universität von Jerusalem, gehört zur Gruppe der sich „Xinjiang 13“ nennenden Wissenschaftler, denen die Einreise nach China noch immer verwehrt wird. Auch er zweifelt an der Existenz der ETIM. „Die meisten Uiguren in Xinjiang wollen gar keine Loslösung von China. Nicht einmal die ins Ausland emigrierte uigurische Gemeinschaft verfolgt dieses Ziel.“ Vielmehr bestünde das Anliegen der Uiguren darin, gerecht behandelt zu werden und die gleichen Chancen zu bekommen. Somit kann also auch die vermeintliche Zielsetzung der von der chinesischen Regierung als ETIM bezeichneten Gruppierung angezweifelt werden. Shichor fügt hinzu: „Ich bin nicht sicher, ob es diese Organisation heute noch gibt, auf jeden Fall aber nicht in China.“ Wenn überhaupt, dann existiere sie irgendwo im Internet.

China stellt einen Zusammenhang zwischen uigurischer Gewalt und Religion her, weil die Uiguren religiös sind.

Die ETIM trat offenbar im Jahr 2000 erstmals in Erscheinung. Allerdings ist die Auffassung weit verbreitet, dass sie seit dem Tod ihres uigurischen Anführers Hasan Mahsum im Jahr 2003 nicht mehr bestehe. Trotz einer ganzen Reihe angeblich von der Gruppe gedrehter Videos hält ihre Existenz nach Meinung von Gardner Bovingdon, einem Professor für zentral-eurasische Studien an der Universität von Indiana und einem weiterem „Mitglied“ der Xinjiang 13, keiner Überprüfung stand.

„Die Videos sind amateurhaft und kleinformatig“, sagt Bovingdon. Auch wenn die Menschen in den Videos uigurisch sprächen, „gibt es keinen zwingenden Beweis dafür, dass dies eine militärisch wirklich gefährliche Bewegung ist.“

In Xinjiang gibt es zweifellos islamischen Radikalismus, aber seine Verbreitung und sein Einfluss sind unklar. China stellt einen Zusammenhang zwischen uigurischer Gewalt und Religion her, weil die Uiguren religiös sind. Aber vielleicht ist Religion überhaupt nicht die Ursache für die Unruhen.

Werfen wir einen Blick auf drei der größeren Anschläge der letzten Jahre, die angeblich uigurischen Separatisten zuzuschreiben sind: die Unruhen von 2009 in Ürümqi, der Anschlag auf dem Tiananmen-Platz im Oktober 2013 und die Messer-Attacken in Kunming im März diesen Jahres. Die ersten beiden waren wirtschaftlich motivierte Proteste, die in Gewalt umschlugen, ursprünglich aber nur bedingt radikalislamische Elemente aufwiesen. In erster Linie waren sie Bekundungen der Unzufriedenheit mit der Regierung. Die Messer-Attacken hatten weder islamistische Untertöne noch fanden sie in Xinjiang statt. Kunming liegt mehr als 4.000 Kilometer von Xinjiangs Hauptstadt Ürümqi entfernt.

Alle drei Ereignisse waren gewaltsam und tragisch, „aber außer [Chinas] Anschuldigungen gibt es keine Hinweise, dass hier eine uigurische Separatistenbewegung dahintersteckt“, erklärt Bovingdon. Zudem sei von einer gewaltbereiten Separatistengruppe normalerweise mehr Aktivismus zu erwarten. Um eine Parallele zu einem anderen frustrierten staatenlosen Volk zu ziehen, verwies er auf den im weitesten Sinne ähnlichen Konflikt zwischen Palästina und Israel: „Die Anzahl und die Wirkung der eindeutig der Intifada zuzuschreibenden Anschläge sind im Verhältnis [zu den angeblichen ETIM-Anschlägen] unvergleichlich viel höher.“

Xinjiang hat viele unerschlossene Rohstoffvorkommen wie Gas und Baumwolle. Im Jahr 2000 begannen die Chinesen mit einer energischen Kampagne, den Westen des Landes zu entwickeln und zu modernisieren, wobei der Schwerpunkt auf Xinjiang lag. Ziel war sowohl die Vergrößerung des Nationalvermögens als auch die Förderung von Rohstoffen. Im Rahmen dieses Vorhabens hat die Regierung Millionen in die Region gepumpt.

Obwohl Xinjiang dank dieses Entwicklungsprogramms im letzten Jahrzehnt wesentlich wohlhabender und moderner geworden ist, hat sich die Kluft zwischen Han-Chinesen und Uiguren weiter vergrößert. Die durch den wirtschaftlichen Aufschwung entstandenen neuen Arbeitsplätze wurden mit Han-Chinesen besetzt, die auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten aus dem Osten zuwanderten. Diese Neuankömmlinge haben einen Großteil der wirtschaftlichen Gewinne aus der Entwicklung eingeheimst, was den Unmut der Uiguren gegen den Staat noch verstärkte.

Xis Vorhaben, ein einheitliches China mit gleichen wirtschaftlichen Chancen für alle zu schaffen, könnte das Gewaltproblem in Xinjiang lösen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Unruhen von 2009 in Ürümqi nicht auf islamistischen Separatismus zurückzuführen sind. Auslöser für die uigurischen Proteste in der Regionshauptstadt war vielmehr die unzureichende Reaktion der Behörden auf Attacken von Han-Chinesen gegen uigurische Fabrikarbeiter. Diese Proteste entwickelten sich schnell zu Demonstrationen für gleiche wirtschaftliche Chancen. Die Aufstände waren also nicht Ausdruck eines islamischen Extremismus, sondern der Aufschrei eines unterdrückten und verarmten Volkes.

Xis Vorhaben, ein einheitliches China mit gleichen wirtschaftlichen Chancen für alle zu schaffen, könnte das Gewaltproblem in Xinjiang lösen. Wenn es ihm gelingt, in der Region eine Politik der Inklusion zu fördern, die dazu beiträgt, dass die Uiguren ihre gegenwärtige wirtschaftliche Misere überwinden, könnte er mit diesem Kurs sehr wohl auch eine neue Ära chinesischer Staatsführung einläuten.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in The Diplomat

Rachel Delia Benaim arbeitet als freie Journalistin in New York.