Berichte über den Tod des Führers der afghanischen Taliban hat es seit seinem Abtauchen nach der militärischen Niederlage seines Regimes Ende 2001 immer wieder gegeben. Bestätigen ließen sich die Berichte nie. Doch die Meldungen von Ende Juli über den Tod Mullah Mohammad Omars haben eine neue Qualität. So widersprüchlich oder unklar sie in Detailfragen je nach Quelle sind, so einig sind sie sich darin, dass der Gründer und spirituelle Führer der afghanischen Taliban schon seit 2013 tot ist.

Verstarb der einäugige Mullah in Afghanistan an einer Krankheit und hat das Land nie verlassen, wie es einige Taliban behaupten? Starb er in einem Krankenhaus im pakistanischen Karatschi, wie Afghanistans Geheimdienst NDS erklärte? Oder wurde er gar von Widersachern in der Taliban-Führung ermordet, wie die Taliban-Abspaltung Fidai Mahaz zu wissen glaubt? Die Aussagen lassen sich nicht überprüfen und gelten als mit den Interessen derjenigen verbunden, die sie in Welt gesetzt haben.

Doch was bedeutet es, wenn Mullah Omar offenbar seit mindestens zwei Jahren tot ist? Es unterstreicht, dass er kaum Einfluss auf den täglichen Krieg seiner Milizen hatte. Diese operieren unter der Führung autonomer Kommandeure und haben in den letzten zwei Jahren auch ohne Mullah Omar weitere Geländegewinne erzielt. Er war vor allem ihr spiritueller Führer, eine Chiffre für das islamistische Weltbild der Taliban oder auch ihr „mächtigster Talisman“, wie es der irische Afghanistan-Experte Michael Semple ausdrückt.

Seit 2001 hat Mullah Omar nur selten öffentlich Stellung genommen und, anders als der frühere al-Qaida-Chef Osama bin Laden, nie Video- oder Audiobotschaften verschickt. Obskur war er schon gewesen, als er zwischen 1996 und 2001 de-facto der Machthaber Afghanistans war. Seit Ende 2001 hat er sich fast nur noch zu den islamischen Feiertagen Id al-fitr (Fest des Fastenbrechens nach dem Ramadan) und Idu l-Adha (Opferfest) geäußert und so seine Rolle als Amir al-Mu'minin (Anführer der Gläubigen) unterstrichen.

 

 

Gespräche mit dem Segen eines Toten?

In der ihm zuletzt im Juli zugeschriebenen Erklärung hatte Mullah Omar „Gespräche mit dem Feind“ als „legitim“ bezeichnet. Damit waren die Verhandlungen gemeint, die eine Delegation der Taliban am 7. Juli im pakistanischen Murree mit Vertretern der Regierung in Kabul führte. Es waren die ersten substantiellen Gespräche, die Anlass zur Hoffnung gaben und Ende Juli fortgesetzt werden sollten. Doch wenn Mullah Omar da schon längst tot war, muss jemand ihn dafür instrumentalisiert haben.

So wurde nicht nur Afghanistans Präsident Ashraf Ghani hinters Licht geführt, der Mullah Omar ausdrücklich für dieses Statement dankte, sondern zuvor auch schon al-Qaida Chef Ayman al-Zawahiri, der in Konkurrenz zum sogenannten Islamischen Staat (IS) Mullah Omar seine Gefolgschaft aussprach wie auch die allermeisten Taliban-Kämpfer selbst. Sie sollen immer wieder durch Gerüchte über den Tod ihres Emirs verunsichert worden sein und sich nach Lebenszeichen von ihm gesehnt haben.

Als Urheber der Mullah Omar zugeschriebenen Äußerungen der letzten zwei Jahre gilt Mullah Akhtar Mohammad Mansour. Er soll als dessen Stellvertreter als einer der wenigen überhaupt Kontakt zu ihm gehabt haben. Mansour stand der sogenannten Quetta Shura vor, dem obersten Rat der Taliban. Inzwischen ist Mansour, der in Pakistan vermutet wird, zum Nachfolger Mullah Omars ernannt worden – und das auch in dessen religiöser Funktion als Amir al-Mu'minin. Letzteres offenbar, um seine Autorität zu erhöhen. Es ist damit der erste Machtwechsel an der obersten Spitze der Taliban überhaupt.

 

Kein zufälliges Timing

Doch warum wurde gerade jetzt bekannt, dass Mansour den Tod Mullar Omars zwei Jahre geheim gehalten und in dessen Namen Politik gemacht hatte? Ende Juli sollte es die zweite Gesprächsrunde der Taliban mit afghanischen Regierungsvertretern geben. Nach anfänglichen Berichten, China würde der Gastgeber sein, setzte sich wieder Pakistan durch. Damit bekam Islamabad erneut großen Einfluss darauf, wer die Taliban überhaupt bei den Gesprächen vertreten kann. Mansour hatte die von ihm dafür bevorzugte politische Kommission der Taliban in das Vertretungsbüro der Miliz nach Katar verlegt und damit unabhängiger von Pakistans Einfluss gemacht. Doch bei Verhandlungen in Pakistan könnte Islamabad die Einreise von Taliban-Vertretern aus Katar verhindern.

Eine Analyse besagt deshalb, Mansour sollte möglicherweise mit Berichten über den Tod Mullah Omars unter Druck gesetzt werden in der Hoffnung, er würde nachgeben. Doch stattdessen sei er in die Offensive gegangen und habe dann nicht nur erstmals Mullah Omars Tod eingeräumt, sondern sich zugleich auch als dessen Nachfolger durchsetzen können.

 

Islamabad schweigt

Ob diese Version eines pakistanischen Erpressungsversuches zutrifft ist nicht zu verifizieren. Afghanen neigen dazu, Pakistan immer wieder für Unheil im eigenen Land verantwortlich zu machen. Auffällig ist allerdings, dass es von pakistanischen Offiziellen überhaupt keine Statements zum Tod Mullah Omars gibt, nicht einmal Dementis zu Berichten über dessen Tod in Pakistan. Pakistan tut damit so, als seien die Taliban eine rein innerafghanische Angelegenheit. Das sind sie natürlich für Islamabad noch nie gewesen angesichts der massiven Unterstützung, welche die Taliban seit ihrer Gründung aus Pakistan erhalten. Islamabads Schweigen ist deshalb verdächtig, zumal die Nachricht vom Tod Mullah Omars dazu führte, dass Islamabad die geplanten Gespräche kurzfristig absagen musste.

Schon früher hatte es starke Indizien dafür gegeben, dass Islamabad mitentscheiden will, wer im Namen der Taliban verhandelt. 2006 waren Mullah Abdul Ghani Baradar und Mullah Obaidullah Akhund zu Stellvertretern Mullah Omars ernannt worden. Doch dann wurden sie von pakistanischen Sicherheitskräften festgenommen, und das sicher nicht zufällig. Denn Baradar hatte damals gerade ohne Beteiligung Pakistans erste Gespräche mit der afghanischen Karsai-Regierung geführt. Obaidullah starb bald in pakistanischer Haft, Baradar wurde 2013 offiziell freigelassen, ist aber weiter unter pakistanischer Kontrolle, weshalb er seine Führungsposition bei den Taliban verlor.

Nachfolger der beiden wurden dann Mullah Mansour und Mullah Abdul Qayum Zakir. Letzterer saß bis 2007 im US-Lager Guantánamo und wurde nach seiner Überstellung nach Afghanistan von Kabul überraschend freigelassen. Er stieg darauf in den Rängen der Taliban bis zum obersten Militärkommandeur auf und zählt zu den Gegnern von Friedensgesprächen. 2014 wurde er von Mullah Mansour abgesetzt. Die beiden sollen unter anderem uneinig gewesen sein, wie sie mit Mullah Omars Tod umgehen sollten.

Damit hatte Mansour einen hochrangigen internen Widersacher. Doch solange Mansour den Eindruck erwecken konnte, im Namen Mullah Omars zu handeln, konnte er die Oberhand behalten. Diese Legitimation fehlt ihm jetzt. Schon gibt es Berichte, seine Ernennung werde nicht von allen Talibanführern anerkannt. Insbesondere der Sohn und der Bruder Mullah Omars sollen sich Mansurs Ernennung wiedersetzt haben.

 

Islamischer Staat (IS) als Konkurrenz

Für Mansour dürfte die Konsolidierung seiner Position jetzt wichtiger sein als die Fortsetzung der  Verhandlungen – erst recht, wenn dort nicht seine, sondern die Vertrauten Pakistans sitzen sollten. Entsprechend sprach er sich für eine Fortsetzung des Dschihad aus. Bemerkenswert ist außerdem, dass Sirajuddin Haqqani, der womöglich neue Führer des für seine Brutalität berüchtigten und für seine große Nähe zum pakistanischen Geheimdienst bekannten Haqqani-Netzwerks, einer der zwei Stellvertreter Mansours wurde. Damit dürfte Pakistan indirekt in der Taliban-Führung vertreten sein.

Mit dem Verlust Mullah Omars als einigender spiritueller Führungsfigur, einem nicht von allen anerkannten Nachfolger und der Konkurrenz durch den Islamischen Staat (IS) droht den afghanischen Taliban die Schwächung durch Abspaltungen. Mansour rief denn auch als erstes zur Einheit auf: „Der Feind kann uns nicht besiegen, wenn wir einig sind“, soll er laut einer Audiobotschaft gesagt haben.

Der IS gilt als größter potentieller Nutznießer der jetzigen Situation. Schon bisher besteht die Organisation, die am Hindukusch mehr propagandistisch als real aktiv ist, hauptsächlich aus ehemaligen Taliban.

Doch was bedeutet der Tod Mullah Omars jetzt für den zaghaften Friedensprozess? Manche Regierungsvertreter frohlocken angesichts des jetzt erhöhten Spaltungsrisikos der Taliban und sehen größere Chancen für Friedensgespräche. Sicher schwächen Spaltungen zunächst Aufstandsbewegungen. Doch für die Hoffnung, dass dies auch die Chancen für Verhandlungslösungen vergrößert, ist es zu früh. Bisher standen die Gespräche ganz am Anfang. Dass sie jetzt erst einmal wieder ausgesetzt wurden, verwundert nicht, solange unklar ist, wer eigentlich mit welchem Mandat für die Taliban spricht.

Auch ist offen, ob es Pakistan gelingt, seinen bisherigen Einfluss auf die Taliban-Vertreter bei den Verhandlungen zu behalten. Unklar ist jetzt zudem, welche Legitimation das Büro der politischen Kommission der Taliban in Katar überhaupt noch hat, wenn es gar nicht wirklich von Mullah Omar legitimiert war.

Damit gibt es laut Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN) jetzt drei Taliban-Positionen zu Verhandlungen: 1. Gegner von Verhandlungen unter pakistanischer Kontrolle, aber Befürworter von Verhandlungen unter eigener Kontrolle. Dazu zählt Mansour. 2. Befürworter von Verhandlungen unter Kontrolle Pakistans und Gegner von Verhandlungen unter Kontrolle Mansurs. 3. Gegner jeglicher Art von Verhandlungen, wozu Zakir gehören soll.

 

Schwächung der Taliban oder „Wettbewerb des Schreckens“?

Die sich abzeichnenden Spaltungstendenzen können zu blutigen internen Machtkämpfen führen, aber auch dazu, dass sich die rivalisierenden Fraktionen und Gruppen nach außen in einer Art Wettbewerb des Schreckens darin überbieten, möglichst Aufsehen erregende Anschläge und Angriffe auf Staat und Zivilgesellschaft durchzuführen und so mit ihren Fähigkeiten zu prahlen. Das Ausmaß der Gewalt könnte als Folge der Spaltung also zumindest kurzfristig weiter zu- statt abnehmen und muss auch nicht zwangsläufig zu einer Schwächung der bewaffneten Regierungsgegner führen, wenn sie damit propagandistisch erfolgreich sein sollte.

Die Spaltung könnte zu einer Pluralisierung des Widerstandes führen, was Verhandlungslösungen erschweren dürfte. Es mögen mit einzelnen Gruppen mühsam Einigungen gelingen, die dann von anderen bekämpft werden. Die Chance der Regierungsseite, mögliche Spaltungen der Taliban für sich auszunutzen, wäre zudem sicher besser, würde wenigstens auf Regierungsseite Einigkeit bestehen. Das ist bekanntlich nicht der Fall. So drohen die Unübersichtlichkeit des afghanischen Konfliktes und seine potentielle Unlösbarkeit weiter zuzunehmen.