Wenn der „Islamische Staat“ dank eines beherzten Eingreifens des Westens im Irak geschlagen ist, macht er sich wieder mit ganzer Kraft über die Syrer her. Das Assad-Regime muss das nicht kümmern: Die arabische Welt wird sich dann womöglich schon mit einem ganz anderen Konflikt befassen.

 

Zweierlei Maß?

Es wird nicht einfach, den Syrern zu erklären, warum Hilfe und ein entschlossenes Eingreifen der „internationalen Gemeinschaft“ manchmal doch möglich sind. Warum sich selbst die Bundesrepublik innerhalb von Tagen zu der Entscheidung durchringen kann, militärisches Gerät in ein Krisengebiet zu liefern, um den Vormarsch eines ruchlosen Aggressors zu stoppen. Natürlich liegt das nicht nur am Völkerrecht, sondern an der geopolitischen Großwetterlage. Der „Islamische Staat“ hat keine UN-Mission und ist – auch wenn er anderes von sich behauptet – überhaupt kein „Staat“. Diesmal verhindert Russland nicht, dass man gegen ihn vorgeht. Die Russen waren – im Übrigen lange vor den Amerikanern – sogar bedingungslos bereit, der irakischen Regierung in Bagdad Waffen und Flugzeuge gegen IS zu geben, sofern die dafür bezahlt.

Die Syrer werden sich dennoch fragen, warum die Kavallerie der Lüfte den irakischen Yeziden im Sindschar-Gebirge beisteht, während auf das eingeschlossene, sturmreife Aleppo täglich Fassbomben der Regime-Luftwaffe niedergehen. Und während IS in Deir ez-Zor im Osten Syriens eine exemplarische Strafexpedition gegen die aufbegehrende Bevölkerung durchführt und Jugendliche kreuzigt, erschießt und erdrosselt.

Selbstverständlich verdienen die bedrängten Christen und Yeziden ebenso die Unterstützung des Westens wie alle anderen, die sich IS aufrichtig in den Weg stellen und dabei kein doppeltes Spiel treiben. Bei der Strategieplanung sollte man eines allerdings beachten: IS militärisch im Nordirak zu schlagen ist angesichts der Tatsache, dass in der Region einige hochgerüstete Armeen stehen, eine realistische Zielsetzung. Aber wird IS dann wieder nach Syrien abgeschoben und zu einem syrischen „Bürgerkriegsproblem“?

Niemand kann sich angesichts der Aufmerksamkeit für die Irak-Krise und den ebenso dummen wie überflüssigen Konflikt in Gaza so entspannt zurücklehnen wie jenes dunkle Direktorium, dessen Gesicht Baschar al-Assad in Damaskus ist.

Niemand kann sich angesichts der Aufmerksamkeit für die Irak-Krise und den ebenso dummen wie überflüssigen Konflikt in Gaza so entspannt zurücklehnen wie jenes dunkle Direktorium, dessen Gesicht Baschar al-Assad in Damaskus ist. Das syrische Regime fürchtet sich vor IS jedenfalls nicht. Es hat wieder einmal Zeit gewonnen – und wenn der Spuk vom „Kalifat“ im Nordirak vorbei ist, wird sich womöglich eine andere Eskalation zutragen, die die internationale Gemeinschaft von der Katastrophe in Syrien ablenkt.

 

Neuer Konfliktherd: Libyen

Im Osten Libyens haben dschihadistische Milizen – unterstützt von internationalen Kämpfern und Veteranen des Syrienkriegs – ein „Islamisches Emirat“ ausgerufen. Währenddessen toben im Westen um die Hauptstadt Tripolis Kämpfe, die zwar indirekt auch mit dem Dschihadisten-Problem zusammenhängen, aber doch andere Ursachen haben. Da Libyen de facto keine staatlichen Streitkräfte besitzt, um dagegen vorzugehen, denken die Nachbarstaaten Algerien und Ägypten nun über eine militärische Intervention nach.

Auch wenn das niemand offen zugibt, könnten die USA und die Europäer mit einem solchen Szenario wohl leben. Sie wollen sicher keine Truppen in die Cyrenaika schicken. Und viele Libyer würden die Intervention mangels Alternativen wohl sogar begrüßen – schließlich forderte Libyens Parlament ja vor wenigen Tagen internationale Hilfe zur Stabilisierung des Landes und einige libysche Politiker verhandeln seit Monaten in Algier und Kairo über ein gemeinsames Vorgehen gegen Islamisten jeglicher Couleur.

Ägypten unterstützt allem Anschein nach den Ex-Generalmajor und Warlord Khalifa Haftar im Kampf gegen die islamistischen Ansar al-Scharia – zumal das rigorose Vorgehen der ägyptischen Armee gegen Islamisten im eigenen Land auch einen massiven Zustrom oppositioneller Muslimbrüder und gewaltbereiter Dschihadisten nach Libyen auslöste und den Konflikt dort zusätzlich befeuerte.

Im Osten Libyens haben dschihadistische Milizen – unterstützt von internationalen Kämpfern und Veteranen des Syrienkriegs – ein „Islamisches Emirat“ ausgerufen.

Die Algerier hielten sich bislang auffällig zurück, nicht zuletzt wegen interner, machtpolitischer Querelen zwischen dem Präsidenten und dem Sicherheitsapparat. Dieser ließ aber inzwischen durchsickern, dass hochrangige Militärs und Geheimdienstler einen ständigen Krisenrat mit ihren Counterparts in Kairo etabliert haben. Algier lehnt laut offiziellen Verlautbarungen ein militärisches Eingreifen des Westens in Libyen ab, setzt aber auf eine »regionale Lösung«, in die die Nachbarstaaten eingebunden sind. Was das im Detail bedeuten könnte, zeichnet sich immer klarer ab. Ägypten und Algerien sind die einzigen Nachbarn Libyens, die dort etwas ausrichten könnten. Oder hofft jemand auf die Macht Tunesiens, des Nigers oder des Tschad?

Algerien und Ägypten haben starke, gut gerüstete Armeen. Und laut Informationen aus algerischen Zeitungen, die freilich mit Vorsicht zu genießen sind, hat die algerische Armee bereits im Januar begonnen, sich Kampfdrohnen zu beschaffen – im Gespräch waren damals russische Modelle. Damit will Algier seine rund 6500 Kilometer Wüstengrenzen überwachen, was durchaus nachvollziehbar ist. Nicht auszuschließen, dass Algerien damit in Libyen ebenso aktiv werden könnte wie im Nachbarland Tunesien, das ebenfalls vor einer wachsenden Gefahr durch dschihadistische Kämpfer steht.

Die beiden militärischen Regimes in Algier und Kairo müssen sich entscheiden, ob sie die Dschihadisten im Maghreb permanent und über Grenzen hinaus bekämpfen wollen oder einfach versuchen, sie in den Nachbarstaaten einzudämmen und dort zu halten – „Containment“ lautet dafür der Fachbegriff.

 

Gesteigerte Reputation

Fest steht, dass beide Regierungen in der Wahl der Mittel nicht als nachsichtig gelten, schon gar nicht, wenn es um Islamismus geht. Letztendlich ist dieser Kampf auch die Raison d’être, die selbstverliehene Existenzberechtigung dieser autoritären, militaristischen Systeme. Eine Intervention in Libyen wäre mit Risiken verbunden, denn dass die libysche Bevölkerung sie als Retter in die Arme schließt, ist alles andere als sicher. Libyer ändern hin und wieder ihre Meinung. Die beiden Armeemächte in Nordafrika könnten damit aber große Reputation gewinnen, indem sie zeigen, dass arabische Staaten ein arabisches Problem angehen. Und zwar mit arabischen Methoden.

Eine erfolgreiche Mission würde sie womöglich sogar zu neuen Führungsmächten in der arabischen Welt machen – eine Rolle, die sie nach Jahrzehnten außenpolitischen Siechtums schon lange nicht mehr spielten.

Dem Regime in Damaskus käme das gelegen – nicht nur, weil für die nächsten Monate die Aufmerksamkeit der Weltpolitik vom Irak nach Libyen wanderte, und zwar an Syrien vorbei. Assad hat in Algier und Kairo nämlich zwei stille, zuverlässige Verbündete. Beide pflegen eher altmodische Vorstellungen von Stabilität und Staatsraison. Aufstände, Revolutionen, Islamismus und Angriffe auf den Zentralstaat sind ihnen ein Graus – Menschenrechte eine seltsame Marotte westlicher Diplomaten. Auch deshalb arbeiten sie seit Monaten an Assads Rehabilitation und daran, dass in der arabischen Welt möglichst bald alles wieder so werde, wie es einmal war.