Die Lage im Nahen und Mittleren Osten wird immer unübersichtlicher. Ob der Vormarsch des „Islamischen Staates“ gestoppt oder zurückgedrängt werden kann, steht in den Sternen. Der Irak und Syrien versinken im Bürgerkrieg aller gegen aller, und auch die gesamtstaatliche Existenz von Libyen und dem Jemen stehen auf dem Spiel. Die Konfliktparteien, die jeweiligen Gegner und wechselnden Bündnispartner lassen sich kaum noch auseinanderhalten. Entsprechend wächst die Neigung, über jeden dieser Konflikte die Folie des sunnitisch-schiitischen Gegensatzes zu legen. Doch damit macht man es sich zu einfach. Dieser erklärt zwar einiges, aber bei weitem nicht alles. Denn nur auf den ersten Blick tobt im Nahen Osten ein „Krieg der Religionen“. Darüber hinaus geht es auch hier um politische, ökonomische, ethnische und konfessionelle Machtfragen.

 

Kein neuer Dreißigjähriger Krieg

Es ist inzwischen en Vogue geworden, in Bezug auf die Kriege im Nahen und Mittleren Osten die Analogie zum katholisch-protestantischen Gemetzel des 17. Jahrhunderts, dem Dreißigjährigen Krieg, zu ziehen. Es gibt in der Tat einige Parallelen. So ist beiden Kriegen gemeinsam, dass nicht nur Staaten, sondern auch „Warlords“ (wie Wallenstein), verfeindete Stämme und freiflottierende Milizen als Akteure auftreten. Auch die Kriege im Irak und in Syrien sind weitgehend “privatisiert“. Religiöse, tribale und ethnische Milizen bestimmen das Kriegsgeschehen. In Syrien ist Präsident Assad in den letzten beiden Jahren de facto zu einem „Warlord“ geschrumpft, der ohne die Verstärkung durch schiitische Truppen aus dem Libanon und dem Iran vermutlich schon längst nicht mehr in Damaskus säße.

Hinzu kommen wechselnde Allianzen, die sich aber eben nicht durch den religiösen Gegensatz erklären lassen. Bereits im Dreißigjährigen Krieg ging es nicht nur um Religion, sondern um die Hegemonie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und damit in Europa. Auch in den sunnitisch-schiitischen Kriegen unserer Tage geht es nur scheinbar um Religion – tatsächlich aber – wie so oft in der Geschichte der Menschheit – um Macht und Vormacht einzelner Staaten.

 

Der sunnitisch-schiitische Gegensatz

Die muslimische Gemeinschaft spaltete sich bekanntlich bereits im siebten Jahrhundert im Streit über die Nachfolge des Propheten Mohammed. Auch wenn der Konflikt somit historisch tief verwurzelt und jederzeit instrumentalisierbar ist, spricht dennoch einiges dagegen, den sunnitisch-schiitischen Gegensatz als unüberwindbare Konstante zu sehen. Denn keine der historischen und gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen Sunna und Schia lässt sich allein auf den religiösen Gegensatz reduzieren. Immer spielen auch politische Faktoren, soziale Unterschiede, das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, außenpolitische Bündnisse, regionale Rivalitäten und ethnische Differenzen eine wichtige Rolle. Die sunnitisch-schiitische Konfliktkonstellation im Nahen Osten hat somit eine national-politische, eine religiöse und eine außenpolitische Dimension, die auch mit dem Hegemoniestreben der beiden jeweiligen Vormächte Saudi-Arabien und Iran zusammenhängt.

Der jordanische König Abdallah II. prägte in einem Interview mit der Washington Post im Dezember 2004 erstmalig den Begriff des „Schiitischen Halbmondes“, der von Iran ausgehend die Schiiten im Irak, das (alawitisch-)schiitisch dominierte syrische Regime und die libanesische Hisbollah, aber auch die (eigentlich sunnitische) Hamas umfasse und das sunnitisch arabische Kernland bedrohe. Diesem „schiitischen Halbmond“ setzen einige Experten wiederum das "sunnitische Dreieck" mit der Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten entgegen, die, trotz vieler unterschiedlicher Interessen, das gemeinsame Ziel verfolgen, den Einfluss des Iran in der Region zurückzudrängen. Angefacht wird der sunnitisch-schiitische Gegensatz durch religiöse Monopolansprüche. Der Anspruch, den „wahren Islam“ zu vertreten, schließt einen toleranten Umgang mit abweichenden Interpretationen und Riten aus.

 

Die Kriegsschauplätze Irak, Syrien und Libyen

Es lohnt sich deshalb in Erinnerung zu rufen, dass in Syrien und Libyen die Kriege aufgrund von zivilen Protesten gegen die Diktaturen von Gaddafi und Assad begannen. Religiöse oder konfessionelle Faktoren spielten dabei ursprünglich keine oder nur eine geringe Rolle. Mittlerweile haben sich jedoch die Bürgerkriege in einen Flächenbrand verwandelt, in dem die Grenzen zwischen den beiden Ländern durch den Aufstieg des sunnitischen IS-Kalifats faktisch beseitigt sind. Salafistische und dschihadistische Milizen wie der „Islamische Staat“ stellen in ihrem globalen Anspruch eine ernsthafte Gefahr für den Nahen Osten, aber auch für „den Westen“ dar. Und sie bedrohen mittlerweile auch jene Staaten, die sie aus ideologischen, konfessionellen oder machttaktischen Überlegungen gefördert haben. Dies gilt vor allem für die saudische Monarchie, die der „IS“ unmittelbar herausfordert, indem er die „Befreiung“ der Heiligen Stätten in Mekka und Medina propagiert. In einigen privaten Zirkeln der Golfmonarchien genießt der „Islamische Staat“ bereits viele Sympathien, ebenso wie in anderen sunnitischen Ländern wie Jordanien, der Türkei, Ägypten und Tunesien.

Assad ist inzwischen fast völlig abhängig von der militärischen Unterstützung durch den Iran und die libanesische Hisbollah.

Auch der syrische Präsident ließ den „Islamischen Staat“ gewähren, solange die Dschihadisten im Kampf gegen die anderen Bürgerkriegsgruppen den militärisch-politischen Widerstand gegen Damaskus schwächten. Bis heute deutet wenig auf eine direkte Konfrontation hin. Denn Assad ist inzwischen fast völlig abhängig von der militärischen Unterstützung durch den Iran und die libanesische Hisbollah. Er räumt seine letzten Stellungen im Osten des Landes ohne größeren Widerstand und konzentriert sich offenbar auf die Absicherung eines alawitisch dominierten Rumpfstaates im Westen des Landes.

Die Türkei wiederum, der radikalste Assad-Gegner in der Region, fürchtet die Kurden, die sich mit Erfolg gegen die Dschihadisten wehren und ihre Einflussgebiete ausdehnen. Nicht zuletzt aufgrund der gewaltigen Flüchtlingsströme werden die übrigen Staaten der Region unweigerlich in diesen schiitisch-sunnitischen Kampf hineingezogen. Allein aus Syrien sind an die vier Millionen Menschen geflohen: 1,8 Millionen davon in die Türkei, die anderen in den Libanon, nach Jordanien, in den Irak und nach Ägypten.

Auch „der Westen“ trägt eine Mitverantwortung. So veränderten der im Zuge des Irakkrieges von 2003 erfolgte Sturz Saddam Husseins und die radikale Entfernung der politischen und Verwaltungseliten des alten Regimes (Baath-Partei) sowie die Bildung einer rein schiitischen, pro-iranischen Regierung im Irak unter Nuri Al-Maliki die Kräftekonstellation im Nahen Osten grundlegend. Darüber hinaus haben der US-Verwalter Paul Bremer und die Regierung Maliki im Umgang mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen kapitale Fehler begangen, einen erheblichen Teil der Sunniten gegen sich aufgebracht und damit dem „Islamischen Staat“ das Geschäft erheblich erleichtert. Im Irak scheinen nur wenige politisch Verantwortliche dies mittlerweile einzusehen. Die neue Regierung unter Haidar al-Abadi setzt sich immerhin für eine stärkere politische und ökonomische Partizipation der Kurden und sunnitischen Araber ein. Dies sind positive Signale, die aber mit politischem Inhalt gefüllt werden müssen.

 

Die Instrumentalisierung des sunnitisch-schiitischen Gegensatzes durch Saudi-Arabien und Iran

Das wahhabitische saudische Königshaus und der Iran stehen sich seit der Islamischen Revolution in einem bis heute andauernden Machtkampf gegenüber, der auch konfessionelle Züge trägt. Während Saudi-Arabien den Status Quo der ölreichen Monarchien verteidigt und sich politisch und militärisch im Lager des Westens verortet, versteht sich Iran als Speerspitze des Widerstands gegen die US-Dominanz im Nahen Osten und den Staat Israel und unterstützt deshalb ebenso die schiitisch-libanesische Hisbollah wie die sunnitische palästinensische Hamas.

Die Herrscherfamilie al-Saud folgt den puristischen Lehren der wahhabitischen Geistlichkeit, ist also selbst ein religiöser Staat – allerdings einer mit viel Geld. Das Land hat weltweit die islamische Mission unterstützt und dabei oft genug islamistische Gruppen und Banden aufgebaut, u. a. die Attentäter von 9/11. Es fürchtet den Dschihadismus und fördert ihn gleichzeitig, verbunden mit dem frommen Wunsch, dass er sich nicht gegen die eigene Herrschaftsdynastie richten möge. Riad begnügte sich in der Vergangenheit weitgehend damit, befreundete Staaten und Gruppen finanziell zu unterstützen und sah für die Sicherheit der Region die USA als zuständig an. Seit einigen Jahren jedoch wird es selbst militärisch aktiv und geht an mehreren Fronten in die Offensive. Bereits 2011 halfen saudische Truppen, den schiitischen Protest in Bahrein niederzuschlagen. Im Süden führt das Königreich gegen die schiitischen Huthi-Rebellen im Jemen-Krieg und beschleunigt damit den Zerfall des ohnehin ärmsten Landes der arabischen Welt und dessen Abgleiten in die Anarchie. Im Norden betreibt es den Sturz des syrischen Regimes. Vor allem der neue König Salman scheint mit seiner neuen Regierung im Inneren wie im Äußeren die Politik der Vorgängerregierung nicht nur fortführen, sondern sogar weiter radikalisieren zu wollen.

Vor allem König Salman scheint mit seiner neuen Regierung im Inneren wie im Äußeren die Politik der Vorgänger nicht nur fortführen, sondern weiter radikalisieren zu wollen.

Damit will man dem Umstand Rechnung tragen, dass der Gegenspieler im Kampf um die Hegemonie in der Region, die schiitische Mullah-Herrschaft in Teheran, in den zurückliegenden Jahren stark an Einfluss gewonnen hat. So hat die amerikanische Intervention im Irak 2003 vom Iran unterstützte Repräsentanten der schiitischen Mehrheitsbevölkerung an die Macht gebracht. Für den Iran ist die Unterstützung der schiitischen Glaubensbrüder in Bagdad nicht nur eine politische Selbstverständlichkeit, sondern Teil ihrer Strategie zu Ausbau und Festigung ihres regionalen Einflusses.

Die USA wiederum haben sich aus der Region zurückgezogen und sind in erster Linie auf ein prinzipiell lobenswertes Nuklearabkommen mit dem Iran fixiert. Dies hat in Riad zu tiefem Misstrauen gegenüber der amerikanischen Position geführt. Saudi-Arabien droht jedoch weiter in die Defensive zu geraten und die politische Kontrolle über seine „Stellvertreterkriege“ zu verlieren. Der von ihm mitfinanzierte Bürgerkrieg in Syrien ist ihm ebenso entglitten wie seine Versuche, die sunnitischen Stämme im Irak gegen den „Islamischen Staat“ zu einen. Und auch im Jemen haben die mit den Iranern alliierten Huthi-Milizen den Machtkampf vorerst für sich entschieden.

Umringt von Kriegen und Krisenherden fühlen sich die Herrscher in Riad existenziell bedroht. Keiner weiß, wie viele Saudis tatsächlich mit dem „Islamischen Staat“ und dessen radikaler Ideologie sympathisieren, die sich im Übrigen nur unwesentlich von der saudischen Staatsdoktrin des Wahhabismus unterscheidet. Nun rächt sich, dass das saudische Königshaus jeden Konflikt in der Region primär unter dem iranisch-saudischen Machtkampf betrachtet. Die damit verbundene Sorge, dass sich der „schiitische Halbmond“ in einen Vollmond verwandeln könnte, führt dazu, dass der Aufschwung radikaler islamistischer Gruppen in Stellvertreterkriegen aller Art billigend in Kauf genommen wird. Die Hoffnung, dass die gemeinsame Bedrohung des außer Kontrolle geratenen „Islamischen Staats“ zu einer Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran und zu einer Entschärfung des Sunna-Schia-Gegensatzes und damit der meisten regionalen Konflikte führen könnte, hat sich leider bisher nicht erfüllt.

 

Schnelle Lösungen sind nicht in Sicht

Die Implosion des Nahen und Mittleren Ostens geht unvermindert weiter. In einer Region, in der der instrumentalisierte sunnitisch-schiitische Großkonflikt seit vielen Jahren von allen Seiten als Rechtfertigung für Terror und Gewalt instrumentalisiert wird, sind schnelle Lösungen nicht in Sicht – ebenso wenig wie lokale Partner, die diese Länder stabilisieren könnten. Besonders hoffnungslos stellt sich die Lage im Jemen und in Syrien dar. In Syrien kann ein politischer Prozess erst in Gang kommen, wenn sich Assad nicht länger an die Macht klammert.

Der „Arabische Frühling“ von Tunesien bis Bahrain begann 2010 als Rebellion gegen machthungrige Despoten und ihre räuberischen Clans. Tatsache ist, dass sowohl Sunniten wie Schiiten bei der Schaffung moderner Staaten versagt haben. Und dies ist nur teilweise die Schuld des kolonialen Erbes oder des sogenannten großen amerikanischen und des kleinen israelischen „Satans“. Zusammen mit den enormen wirtschaftlichen Problemen, der extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit verbunden mit einer exorbitanten Geburtenrate und den humanitären Flüchtlingskatastrophen ist daraus ein gefährlicher Cocktail entstanden, der die gesamte Region immer tiefer ins Chaos zu ziehen droht.

Die gesamte Region benötigt dringend eine neue Vision. Doch gerade die sunnitischen Machthaber am Golf versagen vor dieser Herausforderung, ja sie schüren die interkonfessionellen Spannungen zugunsten des eigenen Machterhalts sogar selbst noch kräftig an. Sie sind, wie das sprichwörtliche Kaninchen, auf ihren großen schiitischen Rivalen Iran fixiert und fürchten sich zugleich vor dem Unruhepotenzial ihrer eigenen Bevölkerungen.

Der „Islamische Staat“ ist auch deshalb so erfolgreich, weil er gekonnt auf der Klaviatur der interkonfessionellen Gegensätze spielt und sich die Schwäche legitimer und funktionierender Staatlichkeit in der Region zunutze macht. Seine wichtigste Lebensversicherung bleibt der eskalierende Machtkampf zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Syrien, Irak, Libyen, Jemen: Ein arabischer Staat nach dem anderen scheitert an religiös, ethnisch oder tribal aufgeladenen Machtkonflikten. In solchen sich auflösenden Staaten haben wiederum der „Islamische Staat“ und andere Terrorgruppen leichtes Spiel.

Ziel des Westens muss es deshalb sein, im Nahen und Mittleren Osten den Aufbau legitimer und funktionierender staatlicher Strukturen zu unterstützen, auch unter Inkaufnahme einer Verschiebung der fast hundert Jahre alten Sykes-Picot-Grenzlinien. Und er sollte sich von der „Peter Scholl-Latour-Vorstellung“ verabschieden, die religiös und ethnisch heterogenen Staaten des Nahen Ostens ließen sich nur mit der harten Hand eines Diktators oder eines korrupten Herrscherhauses führen. Wohin dies führt, haben wir an den Regimen von Saddam Hussein, Assad und den arabischen Monarchien gesehen. Diese Aufgabe wird voraussichtlich Jahrzehnte in Anspruch nehmen und immer wieder durch Rückschläge gekennzeichnet und bedroht sein. Denn die Alternative des Nahen und Mittleren Ostens heißt nicht sunnitischer oder schiitischer Islam, sondern Unterdrückung oder Selbstbestimmung.