„Ich hab‘ nichts gegen Fremde, aber diese Fremden da sind nicht von hier.“ (Methusalix in: Asterix: Das Geschenk Cäsars)

Ein neues Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Populismus. Rechtsextreme und Rechtspopulisten haben bei den Wahlen zum EU-Parlament von einem weit verbreiteten Unbehagen der Bevölkerung profitiert und so viele Mandate bekommen wie nie zuvor.

Fast zehn Prozent der Mandate aus einem Dutzend EU-Staaten entfallen auf Parteien, die sich offen gegen Freizügigkeit und Minderheitenrechte aussprechen und die europäische Integration ablehnen. In Frankreich konnte der Front National gar mit 25 Prozent als stärkste Partei des Landes ins Europaparlament einziehen. In Großbritannien siegte die anti-europäische, rechtspopulistische UKIP mit 28 Prozent. In Ungarn wurde die rechtsextreme Jobbik zweitstärkste Kraft mit fast 15 Prozent. Mit anderen Worten: Im Europäischen Parlament werden künftig knapp ein Fünftel der Sitze mit Abgeordneten rechts- oder linksradikalen Parteien besetzt sein.

Das bedeutet aber auch, dass demokratische Parteien, deren Geschichte und Programmatik sich unterscheiden, und die im Interesse eines lebendigen und identitätsstiftenden Parlamentarismus eigentlich nur in Ausnahmesituationen enger kooperieren sollten, noch stärker zusammen rücken werden. Ihre Unterscheidbarkeit wird dadurch noch geringer und die Frustration angesichts einer breiten Mitte dürfte steigen.

Während man an einen eurokritischen Grundtenor in Großbritannien mittlerweile gewöhnt ist, schockiert insbesondere der Rechtsruck im Nachbarland Frankreich, EU-Gründungsmitglied und tragender Pfeiler der Gemeinschaft. Dass sich ein Viertel der Franzosen von der EU abwendet, ist ein Fanal für ganz Europa. Die rechtsextremen Parteien um den französischen Front National versuchen bereits den Schulterschluss im Europaparlament. Noch fehlen für die Bildung einer Fraktion allerdings Bündnispartner aus zwei weiteren EU-Staaten. Ein Problem, vor dem die Rechtsaußenparteien auch im kommenden EU-Parlament stehen werden, ist ihre notorische Uneinigkeit. Denn auch wenn Abneigung oder gar Hass auf die EU und auf (vor allem muslimische) Migranten sie einen – darüber hinaus gibt es nur wenig Gemeinsamkeiten und eine Menge Abneigungen. Zumindest das ist ein kleiner Trost.

 

Die EU als Feindbild und Sündenbock

Auch wenn Europaskepsis kein neues Phänomen ist, sind die jüngsten Erfolge der Europagegner und die Breite der Bewegung doch bemerkenswert. Europa ist als neues Feindbild neben die Elitenkritik und die Islam- und Fremdenfeindlichkeit getreten. Der Siegeszug der Populisten kommt jedoch nicht überraschend. In ganz Europa haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten rechtspopulistische und europakritische Parteien in den nationalen Parteiensystemen etabliert und wurden teilweise sogar an Regierungen beteiligt. Nur um Deutschland machte diese europäische „Normalität“ glücklicherweise bislang einen Bogen. Doch auch dies hat sich mit dem Beinnaheeinzug der AfD in den Deutschen Bundestag und ihrem de facto Einzug ins Europäische Parlament geändert.

Die Gründe für diese Wahlerfolge unterscheiden sich von Land zu Land. Zunächst einmal profitieren Populisten wie Kleinstparteien von dem geringen Interesse und der niedrigen Beteiligungsbereitschaft an Europawahlen. Zudem kommt ihnen zugute, dass europaweite Abstimmungen als unbedeutende Zwischenwahlen gelten, die sich deshalb ideal zur Abstrafung nationaler Regierungen eignen. Eine große Rolle spielt ohne Zweifel die tiefgreifende Finanz- und Wirtschaftskrise, die die Solidarität und den notwendigen Ausgleich zwischen dem Norden und dem Süden in Europa gestört und zu einem dramatischen Verteilungskonflikt geführt hat.

Viele junge Menschen im Süden verbinden mit Europa nicht mehr ein Friedensprojekt sondern die hässliche Fratze des globalen Finanzkapitalismus.

Nicht mehr gleichberechtigte Mitglieder stehen sich gegenüber, sondern Schuldner und Gläubiger, deren Beziehung zunehmend durch gegenseitiges Misstrauen bestimmt wird. Viele junge Menschen im Süden verbinden mit Europa nicht mehr ein Friedensprojekt sondern die hässliche Fratze des globalen Finanzkapitalismus. Zudem hat der Süden der EU in den letzten Jahren zum Teil dramatisch an wirtschaftlicher Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit verloren. Es ist ein gefährlicher Cocktail aus Enttäuschung und Angst, sich als Globalisierungsverlierer zu entpuppen, der in weiten Teilen Europas grassiert.

Doch nicht nur für Populisten eignet sich Europa als Sündenbock. Auch den nationalen Regierungen kommt es nur zu gelegen, wenn sie die Verantwortung für unbeliebte Entscheidungen auf Brüssel abwälzen können – selbst wenn diese vom Europäischen Rat unter direkter Einflussnahme eben dieser Nationalregierungen ausgearbeitet und verabschiedet wurden. In Deutschland bedient Henryk M. Broder seit langem die Europaverachtung in seinen Kolumnen. Wie immer weiß Broder ganz genau Bescheid. Seine „luzide“ Analyse der Europawahl: „In Wirklichkeit aber ging es um etwas ganz Banales – um Posten und Pfründen, um die Fortsetzung der Karrieren zweier Eurokraten, die für den Zustand, in dem Europa sich befindet, mitverantwortlich und deswegen besonders qualifiziert sind, weiter den Ton und die Richtung anzugeben. Es ist vollkommen wurscht, ob Schulz Präsident des Parlaments wird und Juncker Präsident der Kommission oder umgekehrt. Oder ob sie beide die Leitung einer Brüsseler Brasserie übernehmen, Schulz an geraden, Juncker an ungeraden Tagen. Die ‚Wahlen‘ waren ein Hokuspokus, das Nachspiel ist es auch. Deswegen will ich meine Stimme wiederhaben. Die EU wird ohne mich auskommen müssen.“

Bei aller Liebe: Was ist die Steigerung von Unsinn? Nur auf europäischer Ebene können die Herausforderungen der Zukunft gelöst werden. Kein europäisches Land wird sich allein behaupten können, weder wirtschaftlich noch in dem Bemühen, die internationale Ordnung zu gestalten und zu stärken. Prioritär muss es nun darum gehen, Arbeitsplätze zu schaffen, den Menschen Perspektiven aufzuzeigen und die grassierende und skandalöse Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas wirksam zu bekämpfen. Nur dann kann es gelingen, extremistischen und populistischen Parteien, linken wie rechten, den Boden zu entziehen. Denn eines ist auch wahr: Obwohl die Wirtschaftskrise in Rumänien, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal die schlimmsten Auswüchse zeitigt, schicken diese Länder erheblich weniger Antieuropäer ins Parlament als etwa Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Finnland oder die Niederlande. Selbst die in Griechenland so erfolgreiche linksradikale Syriza führt keinen Kampf gegen die Mitgliedschaft in der Union. Und auch Beppe Grillos 5-Sterne-Bewegung in Italien, die 21 Prozent der Stimmen erhielt, fordert zwar den Ausstieg aus dem Euro, nicht aber aus der EU. Ohnehin könnte Italien diejenigen bestärken, die notwendige Strukturreformen und eine gerechtere Ordnung im Innern als das beste Rezept gegen den Populismus begreifen.

 

Populismus und Demokratie

Populismus ist eine Bezeichnung, die oft schwammig, unreflektiert und vielfach willkürlich oder zur bloßen Diskreditierung des politischen Gegners verwendet wird. Ralf Dahrendorf hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Grenze zwischen Demokratie und Populismus, Wahlkampf und Demagogie nicht immer leicht zu ziehen ist und man bei der Verwendung der Begriffe vorsichtig sein müsse. „Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente“. Populisten verstehen sich als „Sprachrohr des Volkes“. „Volk“ wird dabei als homogene Einheit gedacht, die sich gegen „die da oben“, also die abgehobene und korrupte Elite, ebenso wie gegen „die da draußen“, d.h. Ausländer oder Andersdenkende aller Art, abgrenzt. Deshalb taugt die EU auch als ideales Feindbild. Denn sie verkörpert doch sowohl „die da oben“ wie „die da draußen“.

Populismus ist einfach, Demokratie kompliziert.

Populismus ist einfach, Demokratie kompliziert. Deshalb haben Populisten auf der Linken wie der Rechten Erfolg, ohne jemals realitätsbezogene Lösungsansätze zu präsentieren. Dabei legen Populisten durchaus auch den Finger auf die Wunde und machen auf Probleme und thematische Leerstellen aufmerksam. Sie können deshalb in gewisser Weise als Seismographen dienen, die Eliten auf gesellschaftliche Veränderungen und Defizite hinweisen. Hinzu kommt: Auch demokratische Parteien sind vor populistischen Parolen nicht gefeit. Jürgen Rüttgers nordrheinwestfälische CDU machte offen Wahlkampf mit ausländerfeindlichen Parolen („Kinder statt Inder“) und auch die bayrische CSU bedient oft und gern entsprechende Ressentiments („Wer betrügt, fliegt“). Es sollen sogar schon Sozialdemokraten gesichtet worden sein, die populistische Thesen vertreten. „Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden“ stand auf einem Wahlplakat der SPD.

All dies waren und sind populistische Parolen. Populismus liegt zudem immer im Auge des Betrachters. So war Schröders „Nein“ zum Irakkrieg 2003 für die meisten (nicht nur sozialdemokratischen) Wähler eine mutige Entscheidung, für die Mehrheit der Unionspolitiker jedoch blanker antiamerikanischer Populismus. Auch die aktuellen Beschlüsse der Großen Koalition zur Mütterrente oder zur abschlagsfreien Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren sind für die einen gerechte, für die anderen populistische Entscheidungen zu Lasten nachfolgender Generationen.

Derzeit sind jedoch zwei besorgniserregende Entwicklungen zu beobachten, die sich teilweise bedingen. Links- wie Rechtspopulisten werden immer antiliberaler und intoleranter, während sich innerhalb der politischen Eliten zunehmend antidemokratische Ressentiments breitmachen. Die Front verläuft nicht mehr nur zwischen links und rechts, sondern zwischen politischen Eliten, die die Demokratie mit wachsendem Argwohn betrachten, und einer zornigen Bevölkerung aus Nicht- und Protestwählern. Das Churchill-Zitat „Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem Wähler“ illustriert dies sehr schön.

 

Einfache Patentrezepte

Populismus beruht auf dem bewussten Versuch der Vereinfachung. Darin liegt sein Reiz und sein Erfolgsrezept. Populisten bieten simple Lösungen für komplexe Probleme. Ihr größter Trugschluss besteht jedoch in der Vorstellung, „das Volk“ ließe sich klar bestimmen und eindeutig repräsentieren. Populistische Parteien ob linker oder rechter Provenienz sind nicht nur antiliberal, sondern letztlich apolitisch. Dies zeigt sich schon daran, dass Populisten in der Regel regierungsunfähig sind und sich relativ schnell selbst entzaubern. Sobald sie in Amt und Würden sind, scheitern sie an ihrer eigenen Unfähigkeit. Die Bossi-Liga in Italien, die österreichische FPÖ, die niederländische Fortuyn-Partei, Richter Schill in Hamburg – die Liste ließe sich fortsetzen. Die ungarische FIDESZ-Partei unter Viktor Orbán und Silvio Berlusconi in Italien bilde(te)n hier die beiden Ausnahmen. Weder Berlusconi noch Orbán ging bzw. geht es um das Land oder um ein Programm, sondern um die Zementierung ihrer Macht und der damit verbundenen Privilegien. Während Silvio Berlusconi seine Regierungszeit vor allem dazu nutzte, das Rechtssystem zum eigenen Vorteil auszuhebeln, hat Viktor Orbán in Ungarn mit dem radikalen Austausch der Eliten und der Zentralisierung von Macht theoretisch die Grundlagen für eine dauerhafte Einparteien-Regierung geschaffen. Wer nicht für ihn ist, der ist gegen ihn und damit gegen Ungarn.
 

Schutzschild Parlament

Im Idealfall ist das Parlament das Schutzschild der Demokratie gegen den Populismus. Dieser ist im Kern antiparlamentarisch, auch wenn er sich der Parlamentswahlen bedient, um an die Macht zu kommen. Der Erfolg populistischer Bewegungen ist daher immer auch ein Zeugnis für die Schwäche von Parlamenten. Das Parlament übersetzt Augenblicksstimmungen in dauerhafte Entscheidungen – eine an sich schon antipopulistische Funktion. Insofern steht das Parlament qua Definition auf der Seite der Demokratie.

Noch bedenklicher als das starke Abschneiden der Rechtspopulisten sind die populistischen Schnittmengen zwischen rechts- und linksradikalen Parteien.

Für deutsche Politiker wird es daher in den kommenden Jahren umso wichtiger sein, den Bürgern die Europäische Idee zu vermitteln und zu erklären, weshalb Deutschland für andere europäische Staaten einsteht. Es gilt, den EU-Gegnern argumentativ entgegenzutreten und europäische Geschlossenheit zu demonstrieren. Dass Volksparteien nicht davon profitieren, wenn sie gegen Europa reden, hat die Europawahl eindrücklich gezeigt: Sowohl die etablierten Parteien in England und Frankreich als auch die CSU in Bayern hatten vor der Wahl EU-kritisch argumentiert. Sie alle mussten Stimmverluste verzeichnen. Die euroskeptischen Wähler wussten sehr wohl, was Original und was Fälschung ist, und wählten UKIP, Front National und AfD statt Tories, UMP und CSU.

 

Gegen die „Internationale der Populisten“

Noch bedenklicher als das starke Abschneiden der Rechtspopulisten sind die populistischen Schnittmengen zwischen rechts- und linksradikalen Parteien. Die „Internationale der Populisten“ reicht schon jetzt von Paris bis Moskau und von Budapest bis Minsk, nicht zu vergessen Erdogan in der Türkei. Einig sind die untereinander zerstrittenen Führer sich nur in ihrem Hass auf Europa und dessen politische Kultur. Viele dieser Anti-EU-Populisten sehen sich als Verbündete Wladimir Putins. Sie teilen in der Regel seinen Antiamerikanismus und seine Verachtung für ein angeblich verweichlichtes, multilaterales Europa, das jenem Hurra-Patriotismus abgeschworen hat, der derzeit wieder in Russland herrscht – wobei auch hier eine gewisse Ernüchterung zu beobachten ist. Wie Moskau glauben auch sie, dass Europa zu viel Toleranz und sexuelle Permissivität lebt und sich im moralischen Niedergang befindet.

Die EU steht vor einem riesigen Aufgabenberg. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Migration erfordern entschlossenes und gemeinsames Handeln – ebenso wie der Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antiziganismus. Es geht um die Verteidigung unserer europäischen Grundwerte: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Demokratie und der Schutz von Minderheiten und Bürgerrechten. Das wir diese offenbar nicht nur gegen das autoritäre Russland, sondern auch gegen unseren engen Bündnispartner USA verteidigen müssen, ist eine bedrückende und desillusionierende Erkenntnis der letzten Tage.