Berlin -- Die deutsche Außenpolitik mag zuletzt auf der Stelle getreten sein, die Welt tat dies nicht. Die Umbrüche in der arabischen Welt, Rüstungswettläufe und Gebietsstreitigkeiten in Asien, die iranische Atomkrise, die Eurokrise und nicht zuletzt der Bürgerkrieg in Syrien und die Krise in der Ukraine bestimmen gegenwärtig eine Welt, aus der sich die USA mancherorts außenpolitisch zurückziehen, in der China immer häufiger und selbstbewusster auftritt (ohne direkte Verantwortung für die internationale Sicherheit zu übernehmen) und in der Russland in längst überwunden geglaubte Positionen zurückfällt.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz haben Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen eine Debatte über Deutschlands Rolle in der Welt angestoßen. Dabei blieben naturgemäß Fragen offen. Denn was ist konkret gemeint, wenn der Außenminister von "tätiger Außenpolitik" spricht und der Bundespräsident die Deutschen auffordert, "sich der Welt zuzuwenden"? Werden damit die Koordinaten der deutschen Außenpolitik verschoben?

Es ist jedoch ein fataler Kurzschluss, mehr internationales Engagement sofort mit mehr Militäreinsätzen der Bundeswehr gleichzusetzen.

Die entsprechenden Reaktionen und ideologischen Reflexe ließen nicht lange auf sich warten. Einige Kommentatoren wie Jakob Augstein sehen bereits eine neue Kanonenbootpolitik am Horizont dräuen. Für sie ist die Sache klar: Deutschland will wieder in den Krieg ziehen. Das ist natürlich barer Unsinn. Im Tunnelblick dieser Lehnstuhlstrategen ist Zurückhaltung gleichbedeutend mit Frieden und Verantwortung mit Krieg. Es ist jedoch ein fataler Kurzschluss, mehr internationales Engagement sofort mit mehr Militäreinsätzen der Bundeswehr gleichzusetzen. Es bringt auch für die außenpolitische Debatte nur wenig Erkenntnisgewinn, in alte Reiz-Reaktions-Muster zu verfallen.

Eine "Kultur des Heraushaltens"?

Seit Frank-Walter Steinmeier ins Auswärtige Amt zurückgekehrt ist, hat Deutschland plötzlich wieder erkennbar eine Außenpolitik, die es nicht dabei belässt, pflichtschuldig die Formel von der Kontinuität in zentralen Fragen deutscher Diplomatie zu bemühen, sondern eine grundsätzliche Debatte über eine außenpolitische Strategie in drei Leitfragen ankündigte: Welche Verantwortung will Deutschland schultern? Wo sind die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit? Und in welchem institutionellen Rahmen soll sich deutsche Außenpolitik bewegen?

Als ersten Schritt erklärte sich die Bundesrepublik bereit, bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu helfen. Ein solches Ansinnen hatte Steinmeiers Vorgänger Guido Westerwelle noch kategorisch abgelehnt, obwohl die Bundeswehr in Münster nicht nur über eine geeignete, sondern auch international anerkannte Einrichtung verfügt. Der „neue“ Außenminister machte zudem deutlich, dass er die "Kultur der Zurückhaltung", die Westerwelle propagierte, zwar nicht für falsch halte, sie aber nicht zu einer "Kultur des Heraushaltens" werden dürfe und merkte zu Recht an, dass „die Übernahme außenpolitischer Verantwortung  immer konkret“ sein müsse. Sie dürfe sich nicht „in Empörungsrhetorik oder der bloßen Benotung von Bemühungen und Aktivitäten anderer erschöpfen.“

Es sei demnach an der Zeit, nicht nur über Deutschlands Verantwortung zu reden, sondern stattdessen konkret Verantwortung zu übernehmen. Dies kann man durchaus als Spitze gegen Westerwelle interpretieren. Auf der anderen Seite hat Deutschland trotz seiner vermeintlichen „Kultur der Zurückhaltung“ seit 1990 unter anderem Truppen nach Kambodscha, Somalia, Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, ans Horn von Afrika, nach Kongo, in den Libanon, nach Mali und in die Türkei entsendet.

Mehr Engagement hat einen Preis

Das neue außenpolitische Selbst- und Sendungsbewusstsein der Deutschen wurde vom amerikanischen Außenminister Kerry auch sogleich geerdet: „Führung bedeutet nicht nur, gute Diskussionen in München zu haben. Es heißt auch, die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen.“ Hier legt Kerry zu Recht den Finger in die Wunde. Es reicht sicher nicht, wenn man in Sonntagsreden mehr Verantwortung für Deutschland reklamiert. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie ein verstärktes (auch militärisches) Engagement – wenn auch als Ultima Ratio – ausgerechnet in dem Augenblick in Aussicht zu stellen, in dem der Wehrbeauftragte beklagt, dass die Bundeswehr seit Jahren am Limit ächzt und es hinten und vorne an Ausrüstung fehlt.

Die geringfügige personelle Aufstockung in Mali und die in Aussicht gestellten Transportflugzeuge für die Zentralafrikanische Republik sind jedenfalls überschaubare deutsche Beiträge und gewiss kein Zeichen für einen neuen Militarismus. Die politische Ehrlichkeit gebietet es deshalb darauf hinzuweisen, dass eine größere deutsche Rolle auf globaler Ebene mit einem höheren Aufwand an Ressourcen verbunden sein wird. Deutschland sollte sich deshalb hüten, Erwartungen zu schüren, die es dann nicht einlösen kann oder will. Denn am Ende kommt es nicht darauf an, was deutsche Politiker sagen, sondern was sie tun – und ob sie hierfür eine politische Mehrheit gewinnen können.

"Never alone" bleibt die Devise

Auch wenn der Außenminister und die Verteidigungsministerin zusammen gewillt sind, neue Akzente zu setzen, sind die Leitlinien der deutschen Nachkriegsaußenpolitik – Westbindung, Aussöhnung, europäische Integration und effektiver Multilateralismus – nach wie vor gültig. Das Hauptmerkmal deutscher Außenpolitik ist und bleibt ein ausgeprägter Multilateralismus. Immer gemeinsam mit Partnern, niemals alleine, lautet nach wie vor die Devise. Der Libyen-Fall war hier tatsächlich die Ausnahme von der Regel. Man kann geradezu von einer „Never alone-Doktrin“ sprechen. Aus diesem Grunde ist deutsche Außenpolitik in hohem Maße immer auch Institutionen-Politik. Das Problem ist nur, dass sich nahezu alle diese Institutionen, die EU ebenso wie die NATO und die Vereinten Nationen, in einer unterschiedlich begründeten Schwächephase befinden. Mit dieser Krise des Multilateralismus drohen auch die Grundpfeiler deutscher Außenpolitik zu erodieren. Und dies zu einer Zeit, in der die USA unter Obama sich zunehmend international zurückziehen. Deutschland braucht jedoch nach wie vor Partner und leistungsfähige internationale Institutionen: Das bedeutet, die Reform der UNO und die Stärkung der EU sind das Gebot der Stunde.

 Außenminister Steinmeier hat angekündigt, dass Deutschland „Impulsgeber für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ sein werde

Außenminister Steinmeier hat dies klar erkannt und angekündigt, dass Deutschland „Impulsgeber für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ sein werde. Die damit verbundenen Probleme dürften ihm ebenfalls bekannt sein: Das Widerstreben, nationale Souveränität zu opfern, die wohl strukturell schwierige Frage der Finanzierbarkeit und auch die Frage, wer sich wie engagiert. Eine zunehmende Europäisierung und eine stärkere Führungsrolle deutscher Außenpolitik wirft zudem die Frage nach einer angemessene Begleitung und Kontrolle durch die Legislative auf. Hierzu solle eine parlamentarische Kommission binnen Jahresfrist erste Handlungsempfehlungen erarbeiten.

Deutsch-Französischer Neustart

Dennoch gibt es vielversprechende Signale. So wollen die Außenminister Frankreichs und Deutschlands die deutsch-französische Zusammenarbeit auf zahlreichen Feldern substanziell politisch ausbauen und so den Stillstand der vergangenen Jahre aufbrechen. Beide Seiten sprechen von einem "Neustart" der Zusammenarbeit in der Europa- und Außenpolitik. So wollen beide Außenminister künftig auch bei der Unterstützung pro-europäischer Kräfte in Osteuropa, bei der Begleitung gesellschaftlicher Umbrüche in der arabisch-muslimischen Welt und bei der künftigen Gestaltung der transatlantischen Beziehungen eng zusammenarbeiten. Es geht also nicht nur um eine mögliche Beteiligung bei den bislang weitgehend allein von Frankreich getragenen Einsätzen in Mali und Zentralafrika.

Es gibt viele Wege, Einfluss zu nehmen und Not abzubauen – zumal die Erfahrungen mit militärischen Einsätzen der letzten Jahre eher ernüchternd waren

Auch wenn die öffentliche Debatte um die neue deutsche Außenpolitik zu begrüßen ist, krankt sie zugleich an schlagwortartigen und undeutlichen Begriffen sowie einer unzulässigen Zuspitzung auf militärische Optionen. Mehr Verantwortung zu übernehmen, bedeutet eben nicht zwangsläufig mehr Truppen in die Welt zu senden. Es gibt viele Wege, Einfluss zu nehmen und Not abzubauen – zumal die Erfahrungen mit militärischen Einsätzen der letzten Jahre eher ernüchternd waren und die Grenzen des militärischen Engagements deutlich gemacht haben.

Ziel einer aktiveren Außenpolitik muss es sein, Krisen vorzubeugen – mit Ideen, Finanzmitteln, Personal und politischen Initiativen. Dabei müssen die konkreten Instrumente benannt werden. Wie können die Vereinten Nationen, die EU, die NATO und die OSZE in die Lage versetzt werden, Krisen effektiver vorzubeugen? Sicherheitspolitik umfasst ein breites Spektrum von staatlichen Instrumenten, von der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe über die klassische Diplomatie und die Nachrichtendienste bis hin zum Katastrophenschutz und den Einsatz von Streitkräften. Im Koalitionsvertrag sind diese Herausforderungen auch benannt: Stärkung der Vereinten Nationen und der friedenserhaltenden Maßnahmen nach Kapitel VI, Ausbau der zivilen Krisenprävention, Aufbau einer effektiveren internationalen Polizei sowie die Weiterentwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit gehören ebenso dazu wie Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Schutzverantwortung bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Deutschland will sich deshalb für die Reform der Institutionen der internationalen Ordnung einsetzen. Insbesondere die Vereinten Nationen müssen effektiver werden. Wer ein militärisches Engagement für notwendig hält, muss zudem seine Gründe, Ziele, Einsatz- und Exit-Optionen genau definieren. Gleichzeitig wollen wir den zivilen Friedensdienst und die deutsche Friedensforschung fördern, präventive Rüstungskontrolle ermöglichen und den Rüstungshandel einschränken und besser kontrollieren.

Außenpolitik ist in erster Linie zivile Krisenprävention, Ursachenbekämpfung und Konfliktbewältigung unter Einschluss der Entwicklungszusammenarbeit.

Eine effektive Außen- und Sicherheitspolitik muss darüber hinaus nicht nur ressortübergreifend vernetzt werden, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert und eingebunden sein. Außenpolitik ist in erster Linie zivile Krisenprävention, Ursachenbekämpfung und Konfliktbewältigung unter Einschluss der Entwicklungszusammenarbeit. Zudem gilt auch, dass gegen die Interessen und Ziele der eigenen Gesellschaft  Außenpolitik nicht durchführbar ist. Zumindest in Demokratien muss Außenpolitik nicht nur die Öffentlichkeit beachten sondern auch die Mitsprache- und Mitwirkungsrechte der Parlamente.    

Eine Debatte muss her

Die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen erfordern nicht zwangsläufig  mehr militärische Mittel, sondern vielmehr politische Konzepte und kluge politische Initiativen. Die neuen Risiken sind oft benannt und beschrieben worden: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, failed states, Migration, Umweltzerstörung und Ausbreitung des organisierten Verbrechens.  Daraus ergeben eine ganze Reihe von Fragen: Wie gehen wir mit ethnisch und religiös motivierter Gewalt um? Wie begegnen wir den Bedrohungen des internationalen Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen? Wie können Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder auf die internationale Agenda gesetzt werden? Wie verhindern wir das Zerfallen von Staaten? Unter welchen Bedingungen ist der Einsatz militärischer Mittel erlaubt oder gar geboten? Und: Wie können die multilateralen Institutionen, die im vitalen deutschen Interesse sind, gestärkt werden?

Diese Debatte muss dringend geführt werden und zwar unter Einschluss der Öffentlichkeit und nicht nur auf einer der unzähligen sicherheitspolitischen Tagungen, bei denen sich quer durch die Republik die immer gleichen Leute treffen und sich darüber beklagen, dass es in diesem Land keine sicherheitspolitische Debatte gebe. Denn die dort beklagte Passivität der vergangenen Jahre und der Wunsch, sich möglichst aus allem herauszuhalten, werden von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen. Das weiß auch die Linke, die diese pazifistische Grundeinstellung gerne bedient , sich als die wahre „Friedenspartei“ geriert und dabei antieuropäische Ressentiments in Kauf nimmt. Dabei bleibt die größte Herausforderung, die vor uns liegt, Europa als außenpolitischen Akteur handlungs- und gestaltungsfähig zu machen. Dazu braucht die Europäische Union eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die tatsächlich gemeinsam ist und nicht nur gemeinsame Erklärungen abgibt.