Ob Sultan Suood al-Qassemi aus dem Emirat Sharjah ein bedeutender arabischer Intellektueller ist oder nicht, sei dahingestellt – immerhin folgen ihm 250.000 Menschen auf Twitter. Anfang Oktober präsentierte er auf der Webseite Al-Monitor die steile – wenn auch nicht neue – These, dass die glitzernden Golf-Metropolen Doha, Dubai und Abu Dhabi längst zu den neuen „Nervenzentren“ der arabischen Welt aufgestiegen seien. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell gesehen, also in fast allen Disziplinen. Die traditionellen Metropolen Kairo, Beirut, Damaskus oder Bagdad hätten, so Qassemi, ihre Führungsrolle verspielt.
In vielen arabischen Ländern sind die Golfstaaten –nicht ganz unverdient – zu Projektionsflächen des Hasses und des Verschwörungsdenkens geworden.
Eine Kränkung für Syrer, Iraker und Ägypter, die schon in blühenden Städten lebten, als es am Golf nicht viel mehr gab als Sand und ein paar gottverlassene Ziegenherden? Qassemi erntete Protest im Internet: Schließlich, so schimpften seine Kritiker, verdankten die Golfstaaten ihren Aufstieg nicht zuletzt der Misere der großen arabischen Nationen: Sie lockten Kapital aus den instabilen Staaten an, gewährten Diktatoren-Banden Zuflucht und unterstützten schädliche islamistische Parteien und Rebellengruppen.
In vielen arabischen Ländern sind die Golfstaaten –nicht ganz unverdient – zu Projektionsflächen des Hasses und des Verschwörungsdenkens geworden. Sie rangieren darin inzwischen gleich hinter Israel, den USA und Großbritannien. Die Motive dafür sind unterschiedlich und die Gemütslage beinahe schizophren: Viele Menschen beschimpfen die Golfaraber als kulturlose, zu schnellem Geld gekommene Beduinen und ruchlose Wahhabiten, die Terroristen finanzieren. Wer aber kann, sucht dort Arbeit, investiert in den volatilen, aber wieder vergleichsweise stabilen Immobilienmarkt.
Misstrauen, Neid, Gleichgültig, Bewunderung und Pragmatismus – aus diesen Widersprüchen speist sich auch die Haltung vieler Europäer gegenüber den Golf-Arabern – sie sind zwar gern gesehene Investoren, Sponsoren und Konsumenten unserer Produkte.
Aber sobald sich eine ungedeckte Flanke öffnet, sobald den „Scheichs“ trotz ihrer Gas- und Öl-Milliarden etwas misslingt, bestimmen Wut und Häme den Diskurs. Führende europäische Medien verkündeten in Dubais Immobilienkrise 2009 mit Genugtuung die baldige Versandung. Diese Reflexe treten auch bei der Diskussion rund um das WM-Theater Katar 2022 zutage. Die Nachricht über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und Todesfälle auf Baustellen in Katar kam da gerade recht. Was dort geschah und möglicherweise geschieht, ist zweifelsohne ein Skandal – aber keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der Golfstaaten, sondern Alltag in den aufstrebenden Schwellenländern.
Dass der Golf-Kooperationsrat (GCC) zu allem Überfluss noch angekündigt hat, fortan die Einwanderung Homosexueller durch „medizinische Tests“ unterbinden zu wollen, ist nicht nur menschenverachtend und blödsinnig, sondern leider trendgemäß, wenn wir auf die Entwicklungen in Russland oder auf dem afrikanischen Kontinent schauen: Diese Kampagne der Golfstaaten scheint diesmal nichts als eine an die einheimische, um den Verfall der Sitten besorgte Bevölkerung gerichtete PR zu sein –die Golf-Araber sind selbst nämlich genauso schwul oder auch nichtschwul wie andere Erdbewohner.
Der britische Politologe Christopher Davidson erntet einigen Applaus für sein 2012 erschienenes Buch „After the Sheikhs“: Davidson hält das Gesellschaftsmodell und die Politik der Golf-Monarchien für nicht nachhaltig.
Sind solche sich selbst disqualifizierende Maßnahmen nicht ein Hinweis auf den politischen und moralischen Bankrott und den bevorstehenden Untergang? Der britische Politologe Christopher Davidson erntet einigen Applaus für sein 2012 erschienenes Buch „After the Sheikhs“: Davidson hält das Gesellschaftsmodell und die Politik der Golf-Monarchien für nicht nachhaltig und attestiert ihnen eine Lebensdauer von maximal fünf Jahren. In den letzten Monaten wächst das Interesse an dieser These merklich, was natürlich mit der politischen Großwetterlage in Nahost zu tun hat.
Nun sind die GCC-Staaten verschieden – nicht nur in ihrem Glück, wie es bei Tolstoi heißt, sondern auch in ihren Unzulänglichkeiten und Problemen.
Das reiche Katar, Weltmarktführer beim Export von Flüssigerdgas (LNG) und Sitz des Fernsehsenders Aljazeera wirkte bis vor einem Jahr noch als Champion der Arabischen Welt: Die Kataris flankierten den Aufstieg der Muslimbrüder in Ägypten und der an-Nahda in Tunesien nach dem Arabischen Frühling, vermittelten in zahlreichen innerarabischen Konflikten und setzten sich an die Spitze der Front gegen das Assad-Regime in Syrien. Unaufhaltsam schien Katars Triumph. Heute liegt vieles von dem, was die Kataris aufbauten und bezahlten, in Trümmern.
Kuwait, ebenso reich wie glanzlos, dabei aber das mit Abstand demokratischste Land am Golf, ist blockiert in internen Machtkämpfen zwischen Clans und Parteien. Das Herrscherhaus versucht verzweifelt, sich etwas von der Macht, die es einst preisgab, zurückzuholen. Diskreter als andere Golfstaaten sponsern reiche Kuwaitis islamistische Milizen in Syrien. Kuwaits Außenpolitik kann als disparat bezeichnet werden.
Das Königshaus Bahrains ist bis heute damit beschäftigt ist, Unruhen zu unterdrücken und angesichts der Forderungen eines Großteils der schiitischen Bevölkerung den Tag zu überstehen. Dabei war Bahrain einst auf dem Weg zu einer konstitutionellen Monarchie und ein hoffnungsvoller Markt- und Bankenplatz.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten stehen indes wieder einmal Dutzende Männer vor Gericht, weil sie angeblich einen Ableger der Muslimbrüder gründeten. Die Regierung in Abu Dhabi kann sich dafür auch bei den Brüdern in Katar bedanken, die den Muslimbrüdern durch den Frühling halfen – allerdings sind nicht alle Delinquenten Ausländer, einige davon stammen vielmehr aus angesehenen Familien. Die VAE halten sich außenpolitisch meistens zurück, traten nach dem Militärputsch gegen die Muslimbrüder in Ägypten aber als Kreditgeber hervor und stellten sich offen an die Seite der Sisi-Junta.
Die saudische Bündnis- und Scheckbuchpolitik ist nicht mehr ganz leicht zu berechnen...
Saudi-Arabien ist der mit Abstand größte Golfstaat – mit den größten hauseigenen Problemen, aber auch dem größten Schadenspotenzial für die Region. Und die saudische Bündnis- und Scheckbuchpolitik ist nicht mehr ganz leicht zu berechnen: Unlängst weigerte sich Riad, die notorisch klammen und im Inland unter Druck geratene Regierung Jordaniens mit einer Finanzspritze zu stützen. In Ägypten aber sprangen die Saudis schnell auf den fahrenden Zug auf, stützten die Militärregierung und präsentierten sich als Freunde der Stabilität.
Die gängige Verschwörungstheorie im Nahen Osten lautet, Saudi-Arabiens strategische Ziele seien mit Chaos ausreichend beschrieben: Solange die traditionellen Hegemonialrivalen Ägypten, Irak und Iran durch internen Stress schwach seien, genüge das. Aber Saudi-Arabien verfolgt schon lange keine Strategien mehr, sondern versucht angesichts der vielfältigen Malheure und Zerrissenheit im Inneren den Kopf oben zu halten.
Zynisch, aber mutig merkte in der vergangenen Woche ein saudischer Kolumnist in der Zeitung Okaz an, die gefürchteten al-Qaida-Milizen in Syrien müssten „verglichen mit der vorherrschenden Haltung in unserem Land als liberal bezeichnet werden“.
Die gängige Verschwörungstheorie im Nahen Osten lautet, Saudi-Arabiens strategische Ziele seien mit Chaos ausreichend beschrieben...
Dass sich der Westen und der große schiitische Rivale Iran im Atomstreit annähern, ist für die saudische Außenpolitik alles andere als glücklich – ähnlich wie in Israel glaubt man dort, der Westen habe wieder einmal den Verstand verloren.
Das ist allerdings längst nicht die Haltung aller Golfstaaten – Katar, die VAE oder das Sultanat Oman haben nämlich keinerlei Interesse daran, dass es in der Region zu Schießereien kommt. Sie fürchten sich vor einem Umsturz in Riad weit mehr als vor dem lauten, aber berechenbaren Riesen am anderen Ufer des Golfs.
Die Vermutung, dass die Golfstaaten erst in der Bedeutungslosigkeit verschwinden und dann gesellschaftlich implodieren würden – oder umgekehrt – stützt sich im Wesentlichen auf drei Annahmen: 1. Die fossilen Ressourcen sind endlich und können wirtschaftliche Entwicklung auf lange Zeit nicht garantieren. 2. Den autoritären Clan-Regimen gelingt es nicht, politische Partizipation zu ermöglichen und ihre Bevölkerung zu beschäftigen. 3. Wird der Kalte Krieg mit Iran beigelegt, verlieren die Golfstaaten an strategischer Bedeutung.
Wenn der Westen die Wahl hätte, mit welchem Land er lieber befreundet wäre, ist das zweifellos nicht Saudi-Arabien, sondern Iran, ein Land mit diversen Rohstoffen, großer Bevölkerung und einem hohen Bildungsgrad.
Wenn der Westen die Wahl hätte, mit welchem Land er lieber befreundet wäre, ist das zweifellos nicht Saudi-Arabien, sondern Iran
Die Vision einer demokratischen, prowestlichen Landachse von der Türkei über den Irak und Iran bis an den Indischen Ozean ließe die Herzen höher schlagen – sie knüpft an den Bagdad-Pakt aus der Zeit des Kalten Krieges an, der einst den sowjetischen Kommunismus in der Region eindämmen sollte. Irak und Iran könnten mit ihren nachgewiesenen Ressourcen die Golf-Staaten zwar nicht überflüssig, aber doch entbehrlicher machen.
Es wäre allerdings sinnvoll, die Bedeutung der Region nicht nur aus westlicher Sicht zu betrachten: Einige Zigmillionen Menschen in Süd- und Zentralasien, Ostafrika und der Arabischen Welt haben in den vergangenen Jahren Beziehungen an den Golf gespannt. Sie beziehen von dort Investitionskapital, arbeiten dort und finanzieren ihre Familien in der Heimat, treiben erfolgreich Handel über Dubai oder Doha, besitzen Immobilien und können dort – verglichen mit ihren Heimatländern – ein eher freies Leben führen. Sie haben kein Interesse an einem Versanden der prosperierenden Region. Die Häme und der klammheimliche Wunsch, dass die Scheichs untergehen mögen, dürfte in Nepal, Indien oder Tansania weit weniger verbreitet sein als bei uns.
Kritische Maßstäbe sind bei den Golf-Arabern angebracht, aber Ressentiments bringen uns nicht weiter. Niemand hat uns schließlich gezwungen, dass wir uns von Öl-Milliarden blenden lassen – außer der eigenen Gier.
Wer hofft, dass die Länder des Arabischen Frühlings eines Tages zu Freiheit und Menschenwürde gelangen, sollte diesen Wunsch auch auf die Golfstaaten erweitern
Wer hofft, dass die Länder des Arabischen Frühlings eines Tages zu Freiheit und Menschenwürde gelangen, sollte diesen Wunsch auch auf die Golfstaaten erweitern. Reichtum ist kein Garant für Gerechtigkeit, aber auch kein Gegenargument. Trotz vieler Fehler und Irrtümer haben einige Golfstaaten schon gezeigt, dass sie zum Teil dramatische gesellschaftliche Veränderungen überstehen. Wobei sie freilich Federn lassen. Niemand sagt, dass sie nur so weiter machen sollten wie bisher. Fast niemand jedenfalls.
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