Früher war alles so einfach. Die Welt war übersichtlich in Gut und Böse, in West und Ost geteilt. „To keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down ", war das Motto des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay. All diese Aufgaben erfüllt das Bündnis bis heute.

Allerdings konnte sich die NATO Russland gegenüber oft nicht zwischen Abschreckung und Kooperation entscheiden. Deshalb verfolgte sie eine Strategie, die man als „to keep the Russians in, out, and down“ bezeichnen könnte. Seit der Ukraine-Krise steht das Militärbündnis einmal mehr vor der Frage, wie es mit Russland verfahren soll. Eindämmen oder „Gesprächskanäle offen halten“ sind dabei keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Wir brauchen beides. Dabei kann man an eine alte erfolgreiche Strategie anknüpfen.

Harmel-Bericht als Blaupause für zukünftige NATO-Strategie?

Am 14. Dezember 1967 verabschiedete der NATO-Rat den „Harmel-Bericht“. Er war das Ergebnis einer intensiv geführten Debatte über die Zukunft des westlichen Bündnisses unter dem Vorsitz des belgischen Außenministers Pierre Harmel. Statt eines kompromisslosen „Entweder-Oder“ zwischen Abschreckung und Entspannung definierte der Harmel-Bericht eine „Doppelstrategie“ von militärischer Stärke und einer „Politik der ausgestreckten Hand“, die sich historisch als visionär erwies. Damit unterstützte die NATO nicht nur die sich abzeichnende Ostpolitik der Bundesregierungen dieser Jahre, sondern auch die Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über die Begrenzung ihrer strategischen Nuklearwaffen. Eine erste Phase der Entspannung zwischen Ost und West wurde eingeleitet.

Es macht keinen Sinn, die NATO auf ein reines Verteidigungsbündnis zu reduzieren.

Daran gilt es jetzt anzuknüpfen. Es macht keinen Sinn, die NATO auf ein reines Verteidigungsbündnis zu reduzieren. Immerhin hat das Bündnis seit dem Ende des Ost-West-Konflikts drei Erweiterungsrunden hinter sich gebracht. Mit dem NATO-Russland-Rat, der NATO-Ukraine-Charta, dem Euroatlantischen Partnerschaftsrat sowie den Partnerschaften für den Frieden und dem Mittelmeerdialog wurden zusätzlich eine ganze Palette von Kooperationsgremien institutionalisiert.

Auf dem Balkan und in Afghanistan betätigte sich die NATO mehr oder weniger erfolgreich als Subunternehmer der Vereinten Nationen – im Kosovo führte sie 1999 gar einen Krieg ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates. Zu ihren Hochzeiten verstand sich die NATO sowohl als kollektives Verteidigungsbündnis als auch als kooperatives Sicherheitssystem, bewaffneter Arm der UN und gesamteuropäische Alternative zur OSZE – eine Art institutionelle Allzweckwaffe.

Dies hat sich mit dem 11. September 2001 – wie so vieles – grundlegend geändert. Zwar rief die NATO unmittelbar nach den Anschlägen den Bündnisfall aus, zugleich geriet sie jedoch in eine tiefe Identitätskrise. Die durch das Ende der Sowjetunion und den „Erfolg“ im Kosovo ausgelöste Euphorie über eine NATO, die fast alles kann, ist der Ernüchterung über die Beschränktheit ihrer Kräfte gewichen.

Bündnispolitik als Beitrag zur kooperativen Sicherheit in Europa

Mit der Annexion der Krim hat Putin der NATO neues Leben eingehaucht. Plötzlich scheinen alle Zweifel wie weggewischt und die neue Mission die alte zu sein. Die NATO erinnert sich wieder ihrer scheinbar obsolet gewordenen Kernaufgabe, den Westen gegen ein aggressives Russland zu verteidigen. Ob Putin dies absichtlich provoziert, sei dahingestellt. An dem Grundproblem, dass fast jeder der 28 Mitgliedsstaaten unter der NATO etwas anderes versteht, hat sich allerdings auch durch die Ukraine-Krise nicht viel geändert.

Polen und die baltischen Staaten sehen sich durch das russische Verhalten in ihrer Sichtweise bestätigt, dass die NATO in erster Linie ein klassisches Verteidigungsbündnis zum Schutz ihrer Mitglieder nach Artikel 5 ist. Zudem vertreten sie zu Recht die Ansicht, dass die NATO unsere Werte nicht nur am Hindukusch sondern durchaus auch an den europäischen Grenzen verteidigen sollte. Artikel 5 des NATO-Vertrages ist jedoch recht allgemein formuliert. Dort heißt es: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet (Hervorhebung R.M.), um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ Auf die Frage, was diese Beistandspflicht denn nun konkret bedeute, gab der US-Senator John McCain die legendäre Antwort: „Alles, von der nuklearen Antwort bis zum Beileidstelegramm.“

An dem Grundproblem, dass fast jeder der 28 Mitgliedsstaaten unter der NATO etwas anderes versteht, hat sich auch durch die Ukraine-Krise nicht viel geändert.

Polen und Balten definieren aus nachvollziehbaren historischen Gründen ihre Sicherheit in erster Linie gegen Russland, während Westeuropa dem Imperativ folgte, dass es Sicherheit in und für Europa nur mit Russland gibt. Sie sehen die NATO auch als kooperatives Sicherheitssystem und pochen darauf, im NATO-Russland-Rat weiter zu konsultieren und Russland weiterhin einzubinden. Und auch die Amerikaner, die noch zu Beginn der 2000er Jahre die NATO höchstens als nützlichen Baukasten für „Koalitionen der Willigen“ unter amerikanischer Führung betrachteten, sind noch unschlüssig, inwieweit sie die NATO als klassisches Verteidigungsbündnis gegen Putins Russland reaktivieren wollen.

Zusammenarbeit statt Aufrüstung

In dieser Situation muss sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik klar positionieren: Wir brauchen keine Denkmuster des Kalten Krieges. Ein russischer Angriff auf das Bündnisgebiet kann immer noch als die am wenigsten wahrscheinliche Bedrohung gelten. Dennoch fordert NATO Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen von den Bündnispartnern, mehr Geld in die Verteidigung zu investieren.

Nun ist es nicht so, als hätte die NATO auf die Annexion der Krim und die darauf folgende Destabilisierung der Ostukraine nicht reagiert. Bereits zu Beginn der Krise wurden NATO-Truppen in die östlichen Mitgliedsstaaten verlegt. Der Einsatz ist bis Jahresende befristet. Doch eine dauerhafte Stationierung von Truppen und schwerem Material im Baltikum und in Polen ist kein Tabuthema mehr. Allerdings steht kaum zu erwarten, dass die Verteidigungsausgaben signifikant steigen werden. Ob eine dauerhafte Präsenz der NATO in Osteuropa tatsächlich erfolgt, wird von der weiteren Entwicklung abhängen – zumal es Anzeichen dafür gibt, dass Russland den neu gewählten ukrainischen Präsidenten Poroschenko als Verhandlungspartner akzeptiert.

Ob eine dauerhafte Präsenz der NATO in Osteuropa tatsächlich erfolgt, wird von der weiteren Entwicklung abhängen.

Auch Meldungen, wonach die NATO bei einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten nur „bedingt abwehrbereit“ sei, sind mit Skepsis zu betrachten. Dies auch und gerade, wenn sie von interessierten Kreisen um den scheidenden NATO-Generalsekretär Rasmussen und der europäischen Rüstungsindustrie lanciert werden – der seinem Nachfolger Thorvald Stoltenberg das Leben damit unnötig schwer macht.

Konventionell wären diese Staaten im Falle eines russischen Angriffs militärisch nicht zu verteidigen – ebenso wenig wie Westdeutschland zu Zeiten des Kalten Krieges. Auch eine Stationierung von NATO-Truppen oder Stützpunkten in Polen und im Baltikum würde daran nichts ändern. Kein Mensch kann ernsthaft fordern, dass wir angesichts der Ukraine-Krise wieder neue Panzerarmeen aufbauen sollten – zumal Moskau mit einem Angriff auf ein NATO-Mitglied nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hätte.

Ja es stimmt: Russland hat in den letzten zehn Jahren seine Verteidigungsausgaben auf 88 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt und liegt nun weltweit auf Platz drei. Man sollte der russischen Bedrohung jedoch einfach mal die Verteidigungsausgaben der NATO gegenüberstellen. Alleine die USA gaben 2013 mit 735 Milliarden US-Dollar mehr für Militär aus als die nachfolgenden neun Staaten zusammen. Addiert man die Verteidigungshaushalte der 28 NATO-Staaten, so kommt man auf die unglaubliche Summe von 1,32 Billionen US-Dollar. Statt neuer Aufrüstungsrunden braucht die NATO ein glaubwürdiges politisches Konzept, das auf Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle setzt.

Russland – schwieriger Partner oder strategischer Gegner?

Welche Rolle dabei Russland zukommen soll, ist innerhalb des Bündnisses umstritten. Soll es als schwieriger Partner oder als strategischer Gegner behandelt werden? Schon während des kurzen Kriegs von Russland gegen Georgien 2008, fand der Westen darauf keine schlüssige Antwort. Folgt man den meisten Osteuropäern, Großbritannien und den USA, so heißt die Antwort: "strategischer Gegner". Die meisten Westeuropäer hingegen bevorzugen die Alternative "schwieriger Partner". Man darf dabei nicht vergessen, dass noch im Jahre 2000 Putin eine NATO-Mitgliedschaft Russlands nicht ausschloss. 

Im September dieses Jahres wird sich die NATO in Wales zu einem Gipfel treffen. Neben einer Analyse des Ukraine-Konflikts wird auch eine Entscheidung über die zukünftige Rolle der NATO getroffen werden. Dabei geht es auch um eine realistische Einschätzung dessen, was die NATO leisten soll und vor allem, was sie leisten kann. Unter den Stichworten „smart defence“, „pooling“ und „sharing“ wollen die europäischen NATO-Staaten einmal mehr ihre Mittel bündeln und Synergieeffekte erreichen.

Es kann als sicher gelten, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens auch auf dem Gipfel in Wales ausgeschlossen bleibt – zumal beide auf absehbare Zeit die dafür notwendigen Kriterien nicht erfüllen werden. Gleiches gilt im Übrigen auch für die EU. Es ist deshalb alles andere als hilfreich – wenn nicht gar grob fahrlässig –, wenn EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle sich für einen EU-Beitritt der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens ausspricht. Dadurch wird nur unnötig Öl ins Feuer geschüttet.

Die Krise um die Ukraine wird, wie immer sie ausgeht, grundlegende und auch sehr praktische Fragen zu den Beziehungen zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn aufwerfen. Wird das Verhältnis auf lange Sicht von einer Nullsummenlogik geprägt sein? Oder gelingt es, die in den letzten Jahren aufgebauten Kooperationsformen wieder mit Leben zu füllen?

Für Russland gelten – im Übrigen ebenso wie für die USA – dieselben Regeln (territoriale Integrität und Unverletzlichkeit von Grenzen), die in der Schlussakte von Helsinki 1975 und der Charta von Paris 1990 gemeinsam erarbeitet wurden. Die NATO darf sich nicht aus Furcht oder Verunsicherung vor Russland in eine neue Konfrontation treiben lassen. Wir brauchen deshalb eine überzeugende Antwort gegenüber Russlands neuen territorialen Ambitionen und Angebote an Russland, um gemeinsam über bestehende und neue Regeln für die europäische Sicherheitsarchitektur Vereinbarungen zu treffen. Warum greifen wir beispielsweise nicht den sehr im Uneigentlichen gebliebenen Medwedjew-Vorschlag eines Europäischen Sicherheitsvertrages auf und füllen ihn mit Leben? Wir brauchen beides: Sicherheit vor und Sicherheit mit Russland. Ziel muss dabei sein, perspektivisch wieder ein Verständnis von gemeinsamer Sicherheit zu entwickeln.