Der mexikanische Bundesstaat Michoacán hat zwei verschiedene, sehr gegensätzliche Gesichter: Einerseits ist Michoacán Frontstaat im Drogenkrieg, wo sich die Mörderbanden der Kartelle und eine Bürgerwehr erbittert bekämpft haben und der Staat längst nicht mehr die Kontrolle über Teile des öffentlichen Lebens hat. Andererseits steht Michoacán mit seinen großen Naturgebieten und seiner Artenvielfalt für die Schönheit Mexikos. Es wird vor allem von einheimischen Touristen für Ausflüge und Urlaube genutzt und spielt mit seinen riesigen Bergwäldern auch eine wichtige Rolle für die Wasserversorgung des Molochs Mexiko-Stadt. Ja, ein Waldschutzprojekt in der Sierra Chincua, etwa hundert Kilometer westlich von Mexiko-Stadt, kann sogar stellvertretend für die wachsende Rolle des Naturschutzes im Schwellenland Mexiko stehen, das zunehmend bestrebt ist, seiner rasanten, mitunter rabiaten Entwicklung eine ökologische Komponente beizumengen.
Die Sierra Chincua, Teil des mexikanischen Vulkangürtels, ist in mehr als 3000 Metern Höhe Heimat eines seltenen Schmetterlings, der Mariposa Monarca. Tausende Mexikaner reisen jedes Jahr zwischen November und Februar in die dichten Fichten-, Kiefern- und Eichenwälder der Region, um das Spektakel der Falter zu erleben. Diese legen tausende Kilometer von Kanada bis hierher zurück, um sich zu paaren. Ihre Präsenz ist für die mexikanische Naturparkverwaltung von doppelter Bedeutung: Die Aufmerksamkeit der Touristen für den Schmetterling ist gleichzeitig ein Ansatz, um die gemeinhin wenig mit Ökologie vertrauten Besucher pädagogisch von der Wichtigkeit des Naturschutzes zu überzeugen, wie Parkdirektorin Gloria Tavera sagt. „Die Leute lernen hier, dass es wichtig ist, den Wald zu schützen.“ Die örtlichen Waldbauern sind in ein Projekt eingebunden, das von der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des Bundesumweltministeriums unterstützt wird. Deutsche Experten helfen den mexikanischen Partnern beim Management des Schutzgebietes, informieren Gemeinden, Unternehmer und Bauern über die Wichtigkeit des Waldschutzes und empfehlen neue Finanzierungen, etwa über den Tourismus, damit die Bauern die Bäume stehen lassen.
Episches Ringen
Mancher mag sich da fragen: Baumschutz und Ausgleichszahlungen? Schön und gut, aber hat Mexiko nicht wesentlich drängendere Probleme, die es zuerst anzugehen gilt? Überschattet der Drogenkrieg nicht alles? Das tut er zweifellos. Doch in der Tat befindet sich das Land gerade in einem epischen Ringen, das zwischen dem alten und dem neuen Mexiko ausgetragen wird: Das neue Mexiko hat ehrgeizige Klimaziele, die meisten Freihandelsabkommen der Welt, ist ein beliebter Industriestandort und hat eine durch Sozialprogramme wachsende Mittelschicht, die zunehmend Lebensqualität, saubere Luft und sauberes Wasser einfordert. Das alte Mexiko, das sind die finsteren Clans, die vom Drogenhandel leben und weite Teile des Landes terrorisieren. Ein Gegensatz, den man auch in anderen Ländern Lateinamerikas findet, etwa in Kolumbien, das ebenfalls eine stürmische wirtschaftliche Entwicklung mitmacht, aber gleichzeitig seinen anachronistischen Guerillakrieg nicht beenden kann.
Das alte Mexiko, das sind die finsteren Clans, die vom Drogenhandel leben und weite Teile des Landes terrorisieren.
Die Mexikaner leiden unter dem Drogenkrieg – auch wenn abgeschnittene Köpfe im Alltag der meisten eine weit weniger große Rolle spielen als es deutsche Agenturmeldungen mitunter vermuten lassen. Noch unmittelbarer als unter den Kämpfen der Kartelle leiden viele Menschen unter den Folgen des sprunghaften und häufig ungeregelten Fortschritts, unter dem Verkehrskollaps, dem schlechten Trinkwasser, dem Müll und der fehlenden Kanalisation – gerade in der 20-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt. Seit der wirtschaftlichen Öffnung des lange abgeschotteten Landes in den 1990er Jahren hat Mexiko sich zu einem Tigerstaat entwickelt, den viele schon als das China Lateinamerikas sehen. Kein Land hat mehr Freihandelsabkommen als Mexiko. Gerade die sich neoliberal gebende Regierung des Präsidenten Enrique Peña Nieto bewirbt Mexiko gezielt als Standort für ausländische Firmen, die dort für den US-Markt produzieren. Kritiker sagen, Mexiko verkaufe sich als Billiglohnland, Peña Nieto verrate die Ideale seiner eigenen Partei, der Revolutionspartei (PRI).
Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren der Mittelstand durch das Binnenwachstum stark vergrößert. Die unteren Schichten wiederum erleben einen Kapitalzuwachs durch die „remesas familiares“, das Geld, das ausgewanderte Familienmitglieder aus den USA schicken. Das kurbelt auch in Mexiko den Wirtschaftskreislauf an. Die Supermarktkette Elektra, eine Art mexikanischer Media-Markt, eröffnet eine Filiale nach der anderen in sehr einfachen Vierteln. In Massen tragen dort Menschen Flachbildschirme, Computer, Handys und modernste Küchengeräte nach Hause. Wer nicht genug Barschaft hat, bekommt über die hauseigene Banco Azteca umstandslos einen Ratenkredit.
Mangelhafte Infrastruktur
Die Infrastruktur kommt mit Entwicklung und Konsum kaum noch mit. Die Ölförderanlagen sind veraltet, weshalb Präsident Enrique Peña Nieto nun sogar ausländische Investitionen in dem bis dato abgeschotteten Ölmarkt Mexikos erlaubt, was erbitterte Proteste zur Folge hatte – auch dies vornehmlich eine Äußerung des „alten Mexiko“. Gerade mal zwölf Prozent der Abwässer des Landes werden geklärt, was Flüsse wie den Rio Lerma, der von den Bergen Michoacáns abwärts fließt, zu einer Kloake gemacht hat. In Mexiko-Stadt kann das Abwasser kaum noch abfließen, weil die auf einem Seegrund erbaute Millionenstadt Jahr für Jahr um Zentimeter absinkt, was enorme Pumpanlagen nötig macht. Der meiste Müll muss nach Schließung der größten Deponie in den Nachbarstaat transportiert werden.
Mexikos Regierung hat neben der wirtschaftlichen auch eine ökologische Erneuerung zu einer ihrer Prioritäten erklärt. Gerade die deutsche Wirtschaft hat die Chancen erkannt, die in dem großen Nachholbedarf an Infrastruktur liegen und ist mit Anlagen und Ingenieursverstand präsent wie kaum in einem anderen Schwellenland. 1400 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung gibt es in Mexiko, mehr als im brasilianischen São Paulo – sonst der größte deutsche Industriestandort außerhalb Deutschlands. VW unterhält in Puebla das größte Werk außerhalb Wolfsburgs, neu kommen Audi und BMW hinzu, denn der neue Mittelstand schielt auch auf das Luxussegment. Mexiko ist zwar ein Industrieland, hat aber keinen Maschinenbau und ein sehr schlechtes Ausbildungsniveau, was derzeit ebenfalls mit GIZ-Hilfe verbessert werden soll.
Und die Sicherheit? Die sei ein „reales Problem“, sagt Johannes Hauser, Geschäftsführer der deutschen Außenhandelskammer AHK in Mexiko-Stadt. Doch 90 Prozent der Firmen sagten, dass sie das Sicherheitsproblem in ihrer täglichen Arbeit nicht tangiere. Das hat damit zu tun, dass sich viele ausländische Unternehmen in sicheren Orten wie Querétaro, Aguascalientes, Puebla oder der Hauptstadt ansiedeln. Warum Mexiko dort weniger gefährlich ist, dafür gibt es zwei Theorien. Die einen sagen, dass durch die starke Industrialisierung die Werbearbeit der Drogengangster unter Jugendlichen weniger verfange, die Leute hätten schlicht ein anderes, besseres Auskommen. Da jedoch auch die nördlichen Bundesstaaten wirtschaftlich grundsätzlich stark sind und trotzdem extrem unter dem Drogenkrieg leiden, spricht viel für eine andere Theorie: Das zentralmexikanische Bajío ist eine Art neutrales Territorium, in dem Drogenclans gerne ihre Familien ansiedeln und ihr Geld anlegen. Auch Drogenmilliarden sind ein Wirtschaftsmotor.
Verwaltung unterwandert
Johannes Hauser sagt, die Sicherheit sei durchaus ein Kostenfaktor, allerdings weniger wegen der Narco-Kartelle als aufgrund der Vulgärkriminalität. Überfälle auf Transporte häufen sich, weshalb viele Spediteure ihre Wagen durch GPS und andere Sicherheitssysteme schützen – oder Wachdienste mitfahren lassen. Unter dem Strich fühlten sich die meisten deutschen Unternehmer in Mexiko aber wohl. Korruption gebe es natürlich, doch äußere sich diese vor allem über Nepotismus. „Das ist hier keine Bananenrepublik“, stellt Johannes Hauser klar, trotz nach wie vor vorhandenen Defiziten in Verwaltung und Justiz.
Doch immer stärker dringt die Mafia in zivile Bereiche vor. Das Schicksal der 43 entführten Studenten, die im Frontstaat Guerrero für soziale Verbesserungen demonstrierten, hat Mexiko mehr bewegt als alle anderen Verbrechen im Umfeld des Drogenhandels, die sich in den allermeisten Fällen auf eben dieses Umfeld beschränken. Dass der Bürgermeister der Stadt Iguala und seine Frau Drahtzieher der Entführung sein sollen, und dass die Polizei tatkräftig mithalf, belegt für viele Mexikaner ein weiteres Mal die enge Verflechtung von Gemeinden, Polizei und Gangstern in vielen Bundesstaaten. Fachleute vermuten, dass die Regierung bereits auf 20 Prozent des Territoriums keinen Zugriff mehr hat. Die Banden sind bestens organisiert und teils besser bewaffnet als die Armee. Fast täglich werden Massengräber entdeckt. Die Maßnahmen des Präsidenten Peña Nieto, etwa die Einführung einer neuen Polizeieinheit, haben daran nichts ändern können. Nach dem Fall Iguala musste auch der Präsident zugeben, dass die Gangsterkartelle die Verwaltungen viel stärker unterwandert haben als bisher gedacht.
Nach dem Fall Iguala musste auch der Präsident zugeben, dass die Gangsterkartelle die Verwaltungen viel stärker unterwandert haben als bisher gedacht.
Dafür wacht die Zivilgesellschaft auf. Vor allem seit Iguala gibt es immer wieder landesweite Proteste gegen die organisierte Kriminalität. Bei einer Massendemonstration auf dem zentralen Platz Zócalo in Mexiko-Stadt sagte der Vater eines der Studenten: „Wären die Entführten Kinder von Politikern gewesen, hätte man sie längst gefunden“. Die Proteste würden weitergehen, kündigt ein anderer Vater an: „Die Zivilgesellschaft wird explodieren.“ In der Tat hat der Kampf durch die Ereignisse von Iguala eine neue Dimension bekommen. Längst ist jeder bedroht, der Kritik übt an der Verflechtung zwischen Kapital, Politik und Kriminalität. Ein Sprecher der Protestbewegung ist der Dichter Javier Sicilia, dessen Sohn 2011 von Drogengangstern getötet wurde. Er sieht Mexiko in eine Art Diktatur schlittern, allerdings keine Diktatur alter Prägung, sondern ein Totalitarismus des Geschäfts, in dem Gangster straflos davonkämen und der Präsident nur versuche, das Image des Landes aufzupäppeln. Sicilia kann sich vorstellen, dass wirtschaftlicher Druck von außen Politik, Justiz und Behörden dazu bewegen könnte, endlich zusammen mit der Zivilgesellschaft gegen die Drogenkartelle vorzugehen, wie er in einem Interview mit der Deutschen Welle sagte. Im Kampf des neuen Mexiko, der aufgeklärten und zukunftshungrigen Zivilgesellschaft, gegen die blutrünstigen Zombies des alten Mexiko und ihre feudalistisch strukturierten Kartelle steht es bestenfalls unentschieden.
Wie sehr die Narcokriminalität das Wachstum des Schwellenlandes Mexiko gefährdet, zeigen die Exportzahlen. Gerade im Norden, wo der Drogenkrieg besonders heftig tobt, liegen auch die wichtigsten Bodenschätze. Der Export an Eisen, der sonst zehn Millionen Tonnen betrage, werde sich dieses Jahr nur auf zwei Millionen Tonnen belaufen, gab die Regierung kürzlich bekannt. Und die Nationalparks, auf die Mexiko so stolz ist und von denen eine ökologische Erneuerung ausgehen soll, sind bei den Gangs wegen der Abgelegenheit als Austragungsort für finstere Geschäfte besonders beliebt.
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