Nach dem EU-Gipfel vom 18./19. Februar 2016 ist in Großbritannien der Startschuss gefallen für den Kampf um die Argumente und die entscheidenden Köpfe in der EU-Referendumskampagne. Mit dem Londoner Bürgermeister Boris Johnson wirbt nun einer der beliebtesten Politiker für den Austritt. David Cameron wird auf die Unterstützung der Labour Party angewiesen sein, auch wenn diese das Referendum nie gewollt hat.
Inmitten der Fußball-Europameisterschaft wird in Großbritannien dann ein ganz anderes europäisches Finale stattfinden: Am 23. Juni 2016 werden die Briten über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen und damit über die Zukunft ihres Landes und seine Rolle in der Welt.
Der Bekanntgabe des Termins vorausgegangen war ein Gipfeldrama par excellence, das nötig war, um der Vereinbarung die nötige symbolische Bedeutung zu geben. Über den Deal wird in Kürze dennoch kaum einer mehr sprechen, zumal viele Details nach wie vor unklar sind. Jetzt geht es um das große Ganze.
Seit Premierminister David Cameron vom EU-Gipfel nach London zurückgekehrt ist, bringen sich die verschiedenen Kampagnen in Stellung. Mit der Sondersitzung des britischen Kabinetts am Samstagvormittag (der ersten an einem Wochenende seit dem Falkland-Krieg), ist die „collective responsibility“ der Minister aufgehoben, sie dürfen sich nun offen positionieren. Sechs von ihnen, darunter der Justizminister und enge Freund Camerons Michael Gove, haben sich bereits zum Austritt bekannt.
Brisanter noch ist die Entscheidung des konservativen Bürgermeisters Boris Johnson, sich der Out-Seite anzuschließen. Er ist nach David Cameron derjenige, dem die Bürger in Umfragen bescheinigen, sie am meisten in der Europa-Frage zu beeinflussen. Mit ihm haben die Brexit-Befürworter – neben Nigel Farage von der UK Independence Party – das medienwirksame Gesicht bekommen, auf das sie lange gewartet haben. Dem polternden Farage steht nun der nicht weniger wortgewaltige, aber konziliantere Boris (von den Medien stets beim Vornamen genannt, „BoJo“ ist eine Marke) zur Seite. Das ist ein schwerer Schlag für Cameron, wenn auch kein unerwarteter. Johnson rechnet sich anscheinend gerade aufgrund dieser Positionierung gute Chancen aus, Cameron als Parteivorsitzenden und möglichen Premier zu beerben, er wird sich diesen Schritt gut überlegt haben. Zuletzt erschienen die verschiedenen Out-Kampagnen zerstritten, es fehlt eine gemeinsame Vision, wie Großbritannien nach dem Brexit aussehen soll. Auf Boris Johnson ruht nun die Hoffnung, die verschiedenen Gruppen zu einen.
Nachdem die Verhandlungsvorlage von Ratspräsident Donald Tusk vor dem Gipfel in Großbritannien mehrheitlich verhalten aufgenommen worden war, wird von den Europa-Befürwortern nun anerkannt, dass Cameron in einigen Punkten mehr erreicht hat als zuvor angenommen. Die Einschränkungen der Sozialleistungen für EU-Migranten werden an den Einwanderungszahlen wenig ändern, ihr finanzieller Effekt ist gering. Dennoch haben sie Symbolkraft wie auch die Unterschrift aller Staats- und Regierungschefs unter den Satz, dass Großbritannien kein Teil der „ever closer union“ ist.
Während die Europäer das Gefühl haben, den Briten weit entgegengekommen zu sein, dominiert in Großbritannien die Auffassung, Cameron habe wenig bis nichts erreicht.
Nach wie vor lassen sich in Großbritannien und dem Rest Europas die unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Verhandlungen beobachten: Während die Europäer das Gefühl haben, den Briten weit entgegengekommen zu sein, dominiert in Großbritannien die Auffassung, Cameron habe wenig bis nichts erreicht. Erst zögerlich erkennen weite Teile der britischen Politik und die Kommentatoren, dass europäische Einigungen stets auf Kompromissen beruhen und es mehr darauf ankommt, was man daraus macht.
Die In-Kampagne wird nun aus der Perspektive heraus argumentieren, innerhalb der EU einen Sonderstatus bekommen zu haben. Dies entspricht der pragmatischen Sichtweise, die das britische Verhältnis zur EU kennzeichnet. Sicherheit wird zum maßgeblichen Begriff jener, die in der EU bleiben wollen, die Angst der Wähler vor Risiken soll angesprochen werden. Von Kontrolle hingegen – vornehmlich über die eigenen Grenzen und Gesetzgebung, aber auch die Handelsbeziehungen in alle Welt – sprechen jene, die einen Austritt als Mittel sehen, diese Kontrolle zu erreichen. Die Bürgerinnen und Bürger werden von beiden Lagern darauf eingeschworen, sich die grundsätzliche Frage zu stellen, wie sie die Rolle Großbritanniens in der Welt sehen und mit welcher Entscheidung das Land insgesamt und jeder Einzelne „stronger, safer and better off“ ist.
Die Umfragen sind denkbar knapp, ein Drittel der Wählerinnen und Wähler gelten als sichere EU-Befürworter, ein weiteres Drittel wird in jedem Fall für den Austritt stimmen.
Cameron kann in den nächsten Wochen und Monaten auf die Unterstützung weiter Teile der Labour Party bauen, obwohl es vielen immer noch schwerfällt, Teil eines Referendums zu sein, das sie nie gewollt haben und das in erster Linie der Befriedung der konservativen Partei dienen sollte. So kritisierte der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn Cameron, dass er bei den EU-Verhandlungen die „falschen Ziele mit falschen Mitteln und aus den falschen Gründen“ angestrebt habe („wrong goals in the wrong way for the wrong reasons“), um dann jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass man dennoch für den Verbleib Großbritanniens in der EU werben werde – wenn auch aus anderen Beweggründen. Die Bedingung der Partei und insbesondere der Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechte und EU-Sozialgesetzgebung in den Reformverhandlungen nicht anzutasten, wurde erfüllt. Bis auf zwei Transportgewerkschaften, die ihren Mitgliedern einen Austritt empfehlen, stimmen die Gewerkschaften mehrheitlich für den Verbleib. Die Labour Party tritt in der Europa-Frage geschlossener auf als sonst in diesen Tagen üblich, sie wird nun versuchen, ihren eigenen Stil und eine eigene Botschaft in dieser Kampagne zu finden.
Und die Bevölkerung? Die Umfragen sind denkbar knapp, ein Drittel der Wählerinnen und Wähler gelten als sichere EU-Befürworter, ein weiteres Drittel wird in jedem Fall für den Austritt stimmen. Damit richtet sich das Hauptaugenmerk auf das letzte Drittel, das angibt, noch unentschlossen zu sein. Um sie wird nun besonders geworben werden. Gleichzeitig wird es darauf ankommen, so viele Menschen wie möglich überhaupt zum Abstimmen zu bewegen. Eine hohe Wahlbeteiligung dürfte die Voraussetzung sein, einen Brexit zu verhindern.
11 Leserbriefe
Für Großbritannien, das seine Bedeutung in der Welt auch aus der Zugehörigkeit zur EU bezieht, können die Folgen dramatisch sein. Seine politische Bedeutung wird zurückgehen, die wirtschaftliche Entwicklung wird negativ beeinflusst. Spalten sich Schottland, und im Gefolge eventuell Nordirland, von Großbritannien ab, wird die einstige Weltmacht bedeutungslos.
Was ja weiterhin sehr befremdlich wirken muss, GB ist weitgehend umworben, obwohl es ja bei der Flüchtlingskrise ähnlich wie Ungarn kaum Flüchtlinge aufnehmen will. Nicht dass die Tatsache überrascht, aber die gegenüber Ungarn geäußerte Kritik gar Drohung, findet man bezüglich GB nicht; es scheint dem Betrachter fast, man muss nur mit Austritt drohen und schon verstimmt die deutsche Kritik.
"Ein marktwirtschaftliches Regulativ für die EU" braucht Europa gerade nicht - die zunehmende Vermarktwirtschaftlichung bringt Europa ja offensichtlich an den Rand, Bankenkrach, Ungleichheit wächst, Mittelstand schrumpft, (Alters-)Armut und Arbeitslosigkeit nehmen zu, darauf hat uns England nichts zu sagen - oder? Ob WA und Merkel England auch noch drinhalten wollen, wenn Corbyn siegt?
Warum stimmt nicht der Rest von Europa darueber ab, ob sie GB noch dabei haben wollen? Das koennte auch ein interessantes Ergebnis werden.
Und außenpolitisch ist der Ruf nach einer Weltmachtrolle der EU sowieso schädlich. Wir wissen, was Weltmächte so anstellen. Kämpfen wir nicht gerade mit den unmenschlichen Folgen der Weltmachtpolitik von GB, Frankreich und den USA in Nah- und Mittelost?