Nach dem mehr als 50 Jahre andauernden Bürgerkrieg stimmte die kolumbianische Regierung Mitte November 2016 einem neuen Friedensvertrag mit der Guerilla-Bewegung FARC zu. Im Oktober hatte eine <link interviews artikel doch-kein-frieden-1639>knappe Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum den damals ausgehandelten Vertrag abgelehnt. Beide Kammern des Parlaments billigten Anfang Dezember den neuen Vertrag. Dieser berücksichtigt nun stärker die von der Bevölkerung kritisierten Aspekte, doch stößt auch er weiterhin auf heftigen Widerstand der Bevölkerung.

Kolumbien ist nach wie vor geprägt von Kolonialisierung und struktureller Gewalt, von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Es bedarf daher eines umfassenden Friedensvertrags, der die strukturellen Benachteiligungen, die durch den Konflikt noch verstärkt wurden, benennt und angeht.

Der Waffenstillstand zwischen der linken Rebellenbewegung und der Regierung ist sicherlich als ein historischer Schritt anzusehen. Dennoch ist es höchst fraglich, ob das jetzt gültige Abkommen dem Land dauerhaften Frieden und ein Ende der Gewalt bringen wird. Drei wesentliche Probleme wurden in den Verhandlungen ausgeklammert. Jedes von ihnen hat das Potenzial, die Gewalt wieder aufflammen zu lassen.

1. Für wie viel Gewalt war die FARC wirklich verantwortlich?

Obwohl die FARC in den Medien und von der Politik zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt wurde, ist die Guerilla-Bewegung nur für einen geringen Teil der Gewaltakte, die sich gegen die Bevölkerung richtete, verantwortlich. Ein Großteil wurde von einem Netzwerk aus rechten paramilitärischen Gruppen begangen, die mit dem kolumbianischen Staat und dessen Eliten eng verbunden sind. Trotz mehrfacher Versuche in den Jahren 2003 bis 2006, den Dachverband rechtsgerichteter paramilitärischer Gruppen, Autodefensas Unidas de Colombia (AUC), zu demobilisieren, werden diese und andere ihm nahestehenden Gruppen für 70 Prozent der Morde und fast 80 Prozent aller Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien verantwortlich gemacht.

Vor dem Verfassungsgericht machen 81 Prozent der Zeuginnen und Zeugen paramilitärische Truppen und das staatliche Militär für konfliktbezogene sexuelle Gewalt verantwortlich. Nur acht Prozent beschuldigen FARC-Kämpfer.

Obwohl diese Tatsache weder für lokale noch internationale Akteure und Konzerne ein Geheimnis ist, wird das Anti-FARC-Narrativ für eigene, meist wirtschaftliche und politische, Zwecke instrumentalisiert. Dem amerikanischen Außenministerium zufolge wurden in einer regelrechten Kampagne besonders jene Personen von den Paramilitärs bedroht, ermordet oder gefoltert, die verdächtigt wurden, mit den Guerilla-Kämpfern zu sympathisieren. Als der heutige Präsident Juan Manuel Santos Verteidigungsminister unter Präsident Álvaro Uribe war, kam es beispielsweise zu einem Skandal der „falsos positivos“, in welchem das Militär ermordete Zivilisten als getötete Guerilla-Kämpfer präsentierte.

Ähnliches gilt für sexuellen Missbrauch an Zivilpersonen. Auch wenn viel über Vergewaltigung als Kriegswaffe bekannt ist, bleibt die Rolle der Paramilitärs und der regierungsnahen Sicherheitskräfte bei der Anwendung sexueller Gewalt an Zivilpersonen unterbewertet und unerforscht. Eine Studie belegt, dass in den Jahren 2001 bis 2009 knapp 500 000 Frauen sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Vor dem Verfassungsgericht machen 81 Prozent der Zeuginnen und Zeugen paramilitärische Truppen und das staatliche Militär für konfliktbezogene sexuelle Gewalt verantwortlich. Nur acht Prozent hingegen beschuldigen FARC-Kämpfer.

Dies wirft erhebliche Zweifel auf, ob die Demilitarisierung der FARC im Rahmen des neuen Friedensvertrags allein tatsächlich zu einem Ende der Gewalt führen wird.

2. Paramilitärs wurden nicht demilitarisiert

Im Zuge der offiziellen Demobilisierung des AUC entstanden vermehrt kriminelle Banden (bandas criminales), die ihre Wurzeln im Paramilitär haben und des Organisierten Verbrechens beschuldigt werden. Da entwaffnete Kämpfer meist schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, sich die Wiedereingliederung in die Gesellschaft oftmals als schwieriger erweist als erhofft und ihnen nur kurzfristig staatliche Unterstützung zusteht, suchen viele der ehemaligen Paramilitärs wieder in bewaffneten Gruppen Unterschlupf. Eine Spirale der Gewalt entsteht, und die „bandas criminales“ erfreuen sich stetigen Zuwachses.

Dennoch trägt der Friedensvertrag weder der anhaltenden Präsenz und den weiterhin stattfinden militärischen Operationen der paramilitärischen Gruppen Rechnung noch deren institutionellen Beziehungen zu Militär, Polizei und dem politischen Establishment. Des Weiteren beruft sich „Human Rights Watch“ auf glaubwürdige Quellen, die Verflechtungen zwischen dem kolumbianischen Militär, dem Nachrichtendienst und den Paramilitärs sowie deren Foltermethoden und dem Verschwinden von Zivilpersonen dokumentieren. Das Paramilitär kann auf zahlreiche einflussreiche Unterstützer in der regionalen Elite, der Kirche, der Presse und nicht zuletzt der Streitkräfte zählen.

Das Paramilitär kann auf zahlreiche einflussreiche Unterstützer in der regionalen Elite, der Kirche, der Presse und nicht zuletzt der Streitkräfte zählen.

Dem ehemaligen Präsidenten Uribe, der die Kampagne gegen das erste Friedensabkommen anführte, werden beispielsweise enge Kontakte zum Paramilitär bescheinigt. Ein ehemaliger Kommandant eines AUC-Blocks nennt Uribe sogar den „Kopf des kolumbianischen Paramilitärs“ und wies auf dessen maßgeblichen Beitrag zur Gründung des AUC während seiner Amtszeit als Gouverneur Antioquias zwischen 1995 und 1997 hin. Der enge Zusammenhang zwischen der staatlichen Elite und den Paramilitärs zeigt sich auch daran, dass Santos erst dann als ernstzunehmender Präsidentschaftskandidat angesehen wurde, als er einen völkerrechtswidrigen Luftangriff auf ein FARC-Lager im benachbarten Ecuador angeordnet hatte.

All dies belegt, dass die rechte Gewalt in Kolumbien nicht zu unterschätzen ist. Gewerkschafter werden weiterhin ermordet und Menschen aus ihren Dörfern vertrieben. Sexuelle Gewalt ist allgegenwärtig und richtet sich insbesondere gegen Frauen aus ländlichen Regionen und gegen Randgruppen. Obwohl diese Gewaltakte hauptsächlich von rechten Kräften und in vielen Fällen direkt vom Paramilitär ausgeführt werden und das Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte der UN vor der Gefahr von weiterhin aktiven bewaffneten Gruppen warnte, hält sich die Regierung bislang mit der Anerkennung dieser Gruppen als Kriegsparteien und deren Bekämpfung zurück. Da die „bandas criminales“ in den gleichen Regionen und auf ähnliche Art und Weise wie die ehemaligen Streitkräfte des AUC auftreten, zeigt das Versagen der kolumbianischen Regierung, die unter dem AUC operierenden Gruppen zu demilitarisieren, vor allem, dass das Kapitel Paramilitärs noch längst nicht geschlossen ist. Ein Ende der politischen Gewalt scheint nicht in Sicht und die Skepsis angesichts der derzeitigen Friedensaussichten nimmt zu. Wer sich sozial oder politisch engagiert, weiß, dass er oder sie sich in Gefahr begibt.

3. Strukturelle Ungleichheiten werden nicht angegangen

Dem kolumbianischen Bürgerkrieg liegen tiefe strukturelle Ungleichheiten zugrunde, die nicht angegangen wurden. Obwohl besonders die marginalisierten Bevölkerungsgruppen, darunter afro-kolumbianische und indigene Gemeinschaften, vom Krieg betroffen sind und einen Großteil der Vertriebenen ausmachen, setzten sich die Hauptakteure des Friedensprozesses bislang weder systematisch mit der Frage der Diskriminierung auf der Grundlage von Geschlecht, Klasse und Ethnie noch mit der gerechten Verteilung und den Konsequenzen illegaler Landnahmen auseinander.

Illegale Landnahmen sind ein wesentliches Element der Gewaltausübung der Paramilitärs.

Illegale Landnahmen sind ein wesentliches Element der Gewaltausübung der Paramilitärs. Rund die Hälfte der zum Anbau geeigneten Flächen Kolumbiens ist nun in ihrem Besitz, obwohl ein Großteil des Landes ursprünglich indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften gehörte. Kommandant Cardenas, der ehemalige Direktor einer auf Justizverbrechen spezialisierten Polizeibehörde, verweist in diesem Zusammenhang auf die wirtschaftliche Komponente der Gewalt im Kontext des bewaffneten Konflikts. Ihm zufolge begünstigten die Paramilitärs die Interessen multinationaler Konzerne und „bereinigten“ das Terrain von Teilen der Landbevölkerung, die ein Risiko für deren wirtschaftliche Interessen darstellten. Davon sind neben der indigenen und afro-kolumbianischen Bevölkerung vor allem Gewerkschafter und Politiker betroffen, die entweder verschwanden oder umgebracht wurden.

Obwohl sich die Lebensbedingungen für marginalisierte Bevölkerungsgruppen seit der Gründung der FARC 1964 verschlechterten, ergriff die Regierung bislang nicht die notwendigen Maßnahmen, um die strukturellen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten abzubauen, die eine der Ursachen für den Ausbruch des Bürgerkriegs waren. Nicht zuletzt können dafür multinationale Konzerne wie Occidental Petroleum, Goodyear, Nestlé und Chiquita, verantwortlich gemacht werden, von deren Ausbeutung, Unterdrückung und Vertreibung nicht nur die wirtschaftliche Elite des Landes und das Paramilitär, sondern auch die Regierung profitieren.

Im Rahmen der wirtschaftlichen Umstrukturierung, die von der Regierung in den 1960er Jahren eingeleitet und oftmals gewaltsam vorangetrieben wurde und die eine Reihe von Landprivatisierungen zur Folge hatte, formierte sich die FARC als Widerstandsbewegung. Sie kämpfte vor allem für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit für die kolumbianische Arbeiterklasse und verteidigte diese gegen die repressive Regierung. Während Präsident Santos nun auf die Beschlagnahmung und Verteilung des Vermögens der Guerilla-Bewegung drängt, enthält der aktuelle Friedensvertrag zwar den Ansatz der Landrückgabe und Entschädigung, die Frage der tatsächlichen Umsetzung aber bleibt offen. So wurde beispielsweise bereits in der zweiten Version des Vertrags der „Schutz des Privateigentums“ betont, der bestimmte Sicherungen und Garantien vorsieht, um eine Umverteilung im großen Stil zu vermeiden.

Was muss nun geschehen?

Wenn der kolumbianische Staat tatsächlich die Hoheit über das gesamte Land und die Bodenschätze zurückerlangt, müssen Themen wie Menschenrechte und illegale Ökonomie angesprochen werden. Die Demilitarisierung der FARC muss mit einer Entschädigung des gestohlenen Landes und einer gerechten Vermögensumverteilung einhergehen, um neue Missstände und eine erneute Welle von Gewalt zu vermeiden. Angesichts der eklatanten Lücken im aktuellen Friedensvertrag scheint es jedoch insgesamt unwahrscheinlich, dass das derzeitige Friedensabkommen ein Ende der Gewalt mit sich bringt. Wesentliche strukturelle Probleme, die für den Frieden hinderlich sein können, bleiben ungelöst.