Das Ansehen der deutschen Politik ändert sich mit jeder Krise. Die deutsche Europapolitik während der Euro-Krise wurde heftig kritisiert; sie folge einem Sonderweg; Deutschland stelle als „ökonomischer Hegemon“ erneut die europäische Ordnung in Frage. Der „hässliche Deutsche“ war zurück und für Roger Cohen, den Kolumnisten der New York Times, stellte sich wieder die „deutsche Frage“. Im Zuge der Flüchtlingskrise änderte sich zunächst diese Bewertung. Im Dezember 2015 sprach Roger Cohen in seiner Kolumne von den „vernünftigen“ Deutschen, die sich zu einer „can-do nation“ entwickelt hätten. Inzwischen herrscht, so berichten es die Korrespondenten aus Paris oder London, erneut Kopfschütteln und Unverständnis. Die öffentliche Wahrnehmung und die Bewertung der deutschen Politik können sich offensichtlich schnell verändern. Aber ändert sich auch die deutsche Außen- und Europapolitik?

Fest steht, dass die deutsche Außenpolitik in den letzten 25 Jahren seit der Deutschen Einheit einen tiefgreifenden Wandel erfahren hat. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 wurde häufig von der deutschen Hegemonialmacht gesprochen, die nun endlich ihre Führungsrolle in Europa wahrnehmen müsse. Allerdings scheint dieses Bild Deutschlands als eines führungsfähigen und führungswilligen Hegemons nicht wirklich zu passen. Die deutsche Außen- und Europapolitik folgt anderen Gesetzmäßigkeiten.

Das vereinte Deutschland ist heute die dominierende Macht in Europa. Die Grundkonstante der deutschen Europapolitik lautet, den Status quo zu festigen. Das Fundament dieser Zielsetzung ist dabei die Legitimität der europäischen Ordnung und das Vertrauen der Nachbarn und Partner in die verantwortungsbewusste, meist zurückhaltende, stets multilateral eingebundene deutsche Politik. Die Dominanz Deutschlands in Europa wird heute von seinen Nachbarn und Partnern und von einem Großteil der europäischen Öffentlichkeit nur akzeptiert, weil Deutschland sich als Schutzmacht des Bestehenden versteht. Es hat nach und nach seine Rolle als Hüter dieser legitimen Ordnung gefunden, gefestigt und stetig ausgebaut. Dabei schließt die Wahrung des Status quo und einer legitimen europäischen Ordnung Konflikte nicht aus. Allerdings begrenzen sie das Ausmaß und die Ziele der Konflikte.

Die Dominanz Deutschlands in Europa wird heute von seinen Nachbarn nur akzeptiert, weil Deutschland sich als Schutzmacht des Bestehenden versteht.

Dennoch haben gerade die Krisen der letzten anderthalb Jahre den Status quo und die legitime Ordnung herausgefordert. Zunächst war es Russland, das die staatliche Ordnung in der Ukraine verletzte und auch nicht vor der Verschiebung bestehender Grenzen haltmachte. Die Politik der Sanktionen bei gleichzeitiger Offenheit für Gespräche und die Versuche, in Minsk zu einer Beruhigung der Lage zu kommen, waren die Versuche der Beharrungsmacht, die Reste der Ordnung zu bewahren, um zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht zu ihr zurückzukehren.

Dann stellte die griechische Syriza-Regierung die von Berlin dominierte Krisenpolitik in der Eurozone infrage und lehnte die ordnungspolitischen Prinzipien dieser Politik ab. Die deutsche Politik versuchte in der Krise, die Reste des Maastrichter Status quo in der Eurozone zu retten. Die grundsätzliche Ablehnung der bisherigen Vorgehensweise, die Sperrung gegen das Prinzip der konditionierten Solidarität rüttelte dann an den Grundfesten der Krisenbewältigungsstrategie Deutschlands. Die Drohung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit dem Ausschluss aus der Eurozone sollte dem Störenfried die Grenzen der Kompromissbereitschaft zeigen und die übrigen Mitglieder auf den politisch-normativen Kern der Eurozone verpflichten. Die Botschaft lautete: Harte Verhandlungen über Rettungspakete und das Gefeilsche um Milliarden sind möglich, ein Infragestellen oder gar eine Änderung der wirtschaftspolitischen Ordnung sind jedoch ausgeschlossen und werden von der Beharrungsmacht nicht akzeptiert.

Schließlich die Drohung Londons mit dem „Brexit“. Dabei forderte nicht die Ankündigung eines „In-or-out“-Referendums die Status-quo-Macht heraus, sondern die Konditionen, die London für den Verbleib in der EU aushandeln wollte. Die Forderung nach weitreichenden Reformen der EU und insbesondere das Hinterfragen des integrationspolitischen Leitbilds waren die eigentliche Herausforderung für die deutsche Europapolitik. Nicht David Camerons Suche nach einer praktikablen Lösung der sozialpolitischen Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit war für die deutsche Europapolitik schwierig. Es waren die Grundsatzfragen, die London aufgeworfen hatte, bei denen sich aus dem Blickwinkel der Beharrungsmacht kein Verhandlungsspielraum eröffnete. Der Umbau der EU sei möglich, der Rückbau zu einer Freihandelszone mit Binnenmarkt nicht.

Mit der Flüchtlingskrise kommen nun die Kritik an deutschen Alleingängen und Sonderwegen und der Vorwurf des Unilateralismus zurück. Was die aktuellen Flüchtlingskrise für die deutsche Europapolitik so gefährlich macht, ist dieser Vorwurf, dass es gerade Deutschland sei, das die bestehende Ordnung und deren Legitimität in Frage stelle. Es sei die Status-quo-Macht gewesen, die mit der Entscheidung zur Aufnahme der Flüchtlinge das Dublin-Abkommen formell außer Kraft gesetzt und somit den Schengen-Status quo aufgegeben habe. Die Vorwürfe, die deutsche Flüchtlingspolitik sei irrational und naiv, missachte die rechtlichen Grundlagen der europäischen Ordnung und wolle nun seinen Partnern seine normativ-humanitäre Schlussfolgerungen aufzwingen, sind gefährlich für die Rolle Deutschlands in Europa. Denn dieses Unverständnis und insbesondere dieses Misstrauen gegenüber der deutschen Politik stellt die bisherige Akzeptanz der Rolle des anerkannten Hüters der legitimen Ordnung ganz grundsätzlich in Frage.

Aber sind diese Vorwürfe richtig? Sind die deutsche Flüchtlingspolitik und der Versuch Berlins, seine Politik zu „europäisieren“ ein Rückfall in revisionistische Allüren? Oder kann man die deutsche Politik auch anders lesen und dem Leitbild einer Status-quo-Macht unterordnen?

Das Festhalten Deutschlands an der bestehenden Ordnung sollte weder als Unilateralismus oder Exzeptionalismus missverstanden noch mit politischem Stillstand gleichgesetzt werden.

Die Flüchtlingszahlen waren bereits lange vor der Entscheidung im September 2015 deutlich angestiegen, und die Entscheidungsträger in Berlin fürchteten den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in den Ländern entlang der Balkan-Route. Die Verhältnisse auf dem Budapester Bahnhof im letzten Sommer hatten jedem politischen Beobachter jedenfalls deutlich gezeigt, welche Folgen ein weiterer Rückstau des Stroms der Flüchtlinge haben würde. Aus Berliner Sicht wuchs so das Risiko chaotischer Zustände in einer Region mit ausgeprägten nationalistischen Stimmungen und noch längst nicht befriedeten Konflikten. Offenkundig sah sich die Beharrungsmacht gefordert, den Partnern diesen Druck zumindest vorübergehend abzunehmen, um die schwachen staatlichen Strukturen vor einem Härtetest zu bewahren. Die Zweifel an der Stabilität der staatlichen Strukturen und an den Fähigkeiten und Kapazitäten, mit einem solchen Ansturm von Flüchtlingen umgehen zu können, waren nicht nur gegenüber Griechenland groß.

Dieser Lesart folgend, war die Aufnahme der Flüchtlinge zur Entlastung der Staaten entlang der Balkan-Route keine selbstlose Entscheidung eines gütigen Hegemons oder Ausfluss eines unilateralen deutschen Normativismus. Vielmehr kann diese Politik verstanden werden als Fortschreibung einer rationalen Politik der europäischen Status-quo-Macht zur Stabilisierung der staatlichen Strukturen und der Ordnung auf dem Westbalkan, um die Rückkehr zum Status quo zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen. Die Funktion der deutschen Politik war es erneut, Zeit für eine nachhaltige, stabile europäische Lösung zu gewinnen.

Die Wahrung der legitimen Ordnung in Europa bleibt ein Kontinuum deutscher Politik. Diese Politik versucht, mit flexiblen Maßnahmen Antworten auf die aktuelle Herausforderung zu finden, um die bestehenden Strukturen krisen- und zukunftsfest zu machen. Eine solche Politik zielt auf die Flexibilität der Ordnung und verfolgt nicht deren Überwindung. Das Festhalten Deutschlands an der bestehenden Ordnung sollte weder als Unilateralismus oder Exzeptionalismus missverstanden noch mit politischem Stillstand gleichgesetzt werden.

Die Politik der Status-quo-Macht muss sich bescheiden; sie will keine neue Ordnung schaffen und sucht keine neue Legitimität. Sie will nicht verändern und umgestalten, sondern stabilisieren und bewahren. Eine solche Politik erfordert in erster Linie ein ständiges Ausbalancieren der widerstreitenden Interessen und die Achtung der nationalen Präferenzen der Partner. Sie vermeidet die starre Festlegung von Zielen und widersteht dem verständlichen Verlangen nach klaren Lösungen. Sie braucht aber politischen Spielraum, Optionen und Partner. Um die Ordnung in Europa zu bewahren, darf die deutsche Außen- und Europapolitik weder statisch-konservierend noch zu dynamisch-visionär sein. Sie tut gut daran, eine ambitionierte Strategie der kleinen Schritte zu kultivieren und zu stärken.