Es gibt zwei Kriterien für Meldungen aus Afghanistan heutzutage. Entweder muss sich ein überdurschnittlich großer und zerstörerischer Angriff ereignen, wie beim Anschlag letzte Woche auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Scharif und auf das Hauptquartier der US-Streitkräfte in Bagram, oder es müssen westliche Soldaten, Diplomaten, Entwicklungshelfer, Journalisten zu Schaden kommen, dann wird über das Land berichtet. Dabei bleibt der Großteil der Entwicklungen in Afghanistan unbeachtet.
Am 15. Oktober 2016 hätte Afghanistan ein neues Parlament wählen müssen. Die Legislaturperiode der Wolesi Dschirga – des direkt gewählten Unterhauses, in dem 149 Abgeordnete aus afghanischen Provinzen tagen – ist bereits vor über einem Jahr ausgelaufen. Präsident Aschraf Ghani verlängerte per Dekret die Mandate der Volksvertreter bis „zur nächsten Wahl“.
Der Konjunktiv deutet es bereits an – auch zu diesem Wahltermin hat kein Urnengang stattgefunden. Es gab aber auch keine empörten Oppositionspolitiker, die der Regierung Versagen vorgeworfen hätten und keine Ermahnung seitens der internationalen Geber. Dabei war die Durchführung einigermaßen ordentlicher Wahlen eine der sichtbarsten Errungenschaften der internationalen Mission und eine Kernbedingung für die fortgesetzte Unterstützung Kabuls.
Darüber hinaus macht die Logik der demokratischen Intervention – und der Afghanistan-Einsatz ist eine solche Intervention – es für die westlichen Mächte unabdingbar, dass ihre afghanischen Partner und Verbündeten ebenfalls demokratisch legitimiert sind.
Der Beginn dieser Intervention jährte sich vor kurzem zum 15. Mal. Es ist die Zeit der großen Bilanzen – wie erfolgreich war der „war on terror“? Was hat der Westen in Afghanistan erreicht? Warum bilden die Afghanen gerade die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe in Deutschland, wo man doch vor zwei Jahren das Ende der langen ISAF-Mission und den fast vollständigen Abzug der Truppen aus Afghanistan als Erfolg und Beweis und Symptom der Stabilität des Landes präsentierte?
15 Jahre nach 9/11 und der Niederwerfung des Taliban-Regimes geht es wieder ums große Ganze.
Die nicht stattgefundene Wahl ging in der Berichterstattung vollkommen unter, denn es geht 15 Jahre nach 9/11 und der Niederwerfung des Taliban-Regimes wieder ums große Ganze. Angesichts der sich rapide verschlechternden Lage ist die Regierung der Nationalen Einheit von Präsident Aschraf Ghani und Chief Executive Abdullah Abdullah in einem dauerhaften Kriegs- und Krisenmodus. Noch wenige Wochen vor Beginn der Brüsseler Konferenz am 5. Oktober, auf der die Geberländer ihre Unterstützung für Afghanistan bis 2020 auf hohem finanziellen Niveau verlängert haben, sah es so aus, als würde die Regierung kurz vor dem Kollaps stehen – Misstrauen, Blockaden und gegenseitige Anschuldigungen der politischen Elite führen seit zwei Jahren immer wieder zu Phasen weitgehender Lähmung und Handlungsunfähigkeit Kabuls.
Das „Best case“-Szenario für die kommenden Monate und Jahre – da sind sich Expertinnen und Experten wie westliche Regierungsvertreter einig – bestünde darin, das Auseinanderbrechen der afghanischen Regierung zu verhindern und den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Man müsse sich Zeit kaufen, um einen politischen Prozess zu beginnen, der irgendwann in der Zukunft in eine Waffenruhe und dann Beteiligung der Taliban an der Regierungsführung übergehen kann. So der Plan, und er bleibt weitgehend alternativlos.
Einen Frieden durch militärischen Erfolg im Feld wird es nicht geben.
Einen Frieden durch militärischen Erfolg im Feld wird es nicht geben. Trotz Verlusten an der Spitze der Bewegung (der Anführer der Taliban, Mullah Mansour, starb in Folge eines gezielten Luftschlags durch eine amerikanische Drohne im pakistanischen Grenzgebiet bei Quetta im Mai 2016) sind die Taliban alles andere als besiegt. Ohne die direkte Beteiligung der internationalen Truppen an Kampfhandlungen haben die Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und der Regierung an Intensität zugenommen. Kundus wurde zum zweiten Mal in zwei Jahren für mehrere Tage von den Taliban eingenommen. In mehreren Landesteilen wird trotz des nahenden Winters heftig gekämpft, die Taliban bedrohen gleichzeitig vier Provinzhauptstädte und erhöhen durch regelmäßige Anschläge in Kabul und anderen Städten den Druck auf die Regierung.
Am Donnerstag, den 10. November 2016, wurde das deutsche Generalkonsulat im sicher geglaubten Masar-e Scharif zum Ziel eines komplexen Angriffes mit Einsatz einer LKW-Bombe, die Attentäter drangen ins schwer geschützte Gebäude ein und zerstörten Teile des Compounds. Durch die Explosionen wurden mehr als 100 Zivilisten verletzt, zehn Menschen starben. Möglichweise war es der schwerste Angriff auf eine deutsche Auslandsvertretung seit der RAF-Geiselnahme in Stockholm 1975. Die Taliban erklärten, der Angriff sei eine Vergeltung für die Luftschläge der internationalen Koalition in Kundus, in Folge derer vor etwa einer Woche mehrere Dutzend Zivilisten starben. Die irrige Vorstellung, die nördlichen Provinzen Afghanistans (in denen die Bundeswehr und deutsche Entwicklungsorganisationen vorrangig tätig sind) seien im Gegensatz zum Rest des Landes stabil und sicher, fand damit ein spektakuläres Ende.
Etwa ein Viertel aller Distrikte steht unter Einfluss oder direkter Kontrolle der Taliban.
Etwa ein Viertel aller Distrikte (von insgesamt 400) steht unter Einfluss oder direkter Kontrolle der Taliban. Sowohl die Verluste bei der zivilen Bevölkerung als auch die Zahlen der gefallenen und desertierten afghanischen Soldaten und Polizisten sind laut UN-Angaben auf einem neuen Höchststand. Die Zahl der Entführungen steigt ungebrochen, der illegale Waffenmarkt expandiert. Die Opium-Ernte ist in diesem Jahr wieder gestiegen. Zehntausende Familien mussten in den letzten zwei Jahren ihre Heimatprovinzen verlassen, das bringt die geschätzte Zahl der Binnenvertriebenen auf 1,3 Millionen.
Die wirkliche Krise ist aber keine militärische, sondern eine gesellschaftliche.
Die wirkliche Krise ist aber keine militärische, sondern eine gesellschaftliche. Der ISAF-Abzug war abrupt und dramatisch, von zwischenzeitlich über 100 000 US-Soldaten sind heutzutage nur noch knapp 10 000 im Land. Der wirtschaftliche Schaden der schnellen Abwicklung ist immens: Zehntausende Afghanen verloren ihre Jobs, ganze Wirtschaftsbranchen stehen kurz vor der Rezession. Die am besten ausgebildete Generation, die Afghanistan je hatte, blickt mit Verzweiflung in die Zukunft. Viele entscheiden sich für die Flucht, bevor das Land kollabiert. Die Beziehungen zu Pakistan haben sich nach gescheiterten Annäherungsversuchen von Präsident Ghani verschlechtert; Islamabad nötigt die afghanische Diaspora seit Monaten, das Land nach teilweise jahrzehntelangem Aufenthalt zu verlassen. Bis Ende des Jahres erwarten UN-Organisationen vor Ort die Rückkehr von über 800 000 Afghanen, die mit ihrem Hab und Gut über die Durand-Linie wandern. Unterkünfte, Versorgung, Jobs fehlen, es droht ein humanitärer Notstand.
Die europäische Debatte über massenhafte Rückführungen von geflüchteten Afghanen, wozu im Rahmen der Brüsseler Konferenz Verträge zwischen Afghanistan und der EU beziehungsweise bilateral auch mit Deutschland unterzeichnet wurden, wirkt vor diesem Hintergrund realitätsfern, gar zynisch und kontraproduktiv. Vor allem aber ist die Frage der Rückführungen nicht so relevant, wie es erscheint. Die große und die einzig relevante Frage, die man derzeit stellen muss, ist: Was können wir tun, damit sich die Lage in Afghanistan nicht noch weiter destabilisiert? Welche Errungenschaften der letzten Jahre – bei Menschenrechten, der Infrastruktur, der medizinischen Versorgung und dem Bildungszugang, in Landwirtschaft und öffentlicher Verwaltung können noch gerettet werden? Wie verhindert man, dass noch eine weitaus höhere Zahl von Afghanen aus Verzweiflung, Hoffnungs- und Alternativlosigkeit in den kommenden Jahren das Land verlässt?
Afghanistan kämpft um Aufmerksamkeit und Ressourcen mit zahlreichen anderen internationalen Krisengebieten. Viele Afghanen fühlen sich erinnert an die frühen 1990er Jahre, die Zeit kurz nach dem sowjetischen Abzug 1989. Die zurückgelassene afghanische kommunistische Regierung überlebte nur wenige Jahre, bis sie 1992 von den heute mitregierenden Mudschaheddin gestürzt wurde.
Die Flüchtlingskrise hat die absolute Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes nochmals deutlich gemacht.
Afghanistan braucht noch sehr viel Zeit. 15 Jahre ist keine besonders lange Zeit für eine Gesellschaft, die durch eine derartig turbulente und gewaltsame Transformation gegangen ist. Der Westen hat eine Kriegswirtschaft subventioniert, in der Hoffnung auf Frieden durch militärischen Druck. Parallel dazu hat er eine entwicklungsökonomische Blase kreiert, die nun geplatzt ist. Eine „Friedenswirtschaft“ kann und wird aber nicht ohne entsprechende, langfristige Subventionen funktionieren. Gleichzeitig hat die Flüchtlingskrise des letzten Jahres die absolute Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes nochmals deutlich gemacht, denn die finanziellen Ausgaben zur Bewältigung der Fluchtursachen sind unumgänglich – ob in Afghanistan oder in der Türkei, als Teil des Deals zur Schließung der Balkan-Route, oder in Deutschland zur Erhöhung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit für Ankommende. Die Verhinderung einer Destabilisierung der Lage und damit einer erneuten massiven Fluchtbewegung aus Afghanistan nach Europa respektive Deutschland gehört nun zu den vordringlichen Aufgaben der Bundeswehr und deutscher Entwicklungsorganisationen, die noch im Land arbeiten.
Und die Parlamentswahl? Das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) sagt, man bräuchte mindestens ein Jahr, um das Land auf Wahlen vorzubereiten. Da das harsche Klima und die schwierige Topographie einige Landesteile im Winter so gut wie unerreichbar machen, käme als nächster Wahltermin Frühjahr 2018 in Frage. Einige Stimmen plädieren dafür, die Parlamentswahl dann lieber erst 2019 abzuhalten und sie dann mit der Präsidentenwahl zusammenzulegen.
Aber so tragisch es scheint – wirklich wichtig ist die Frage der Parlamentswahl zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Das neue Paradigma heißt nicht mehr Entwicklung, sondern Stabilisierung.
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